Gegen die Kommerzialisierung des Kinos

Von Matthias Kolb · 23.12.2011
In diesem Jahr trug das estnische Tallinn ebenso wie das finnische Turku den Titel der Europäischen Kulturhauptstadt. Am Donnerstag ging "Tallinn 2011" mit einer Performance zu Ende, die die Kommerzialisierung des Kinos thematisierte: Nach der Premiere gingen Filmrolle und Projektor in Flammen auf.
Alles begann mit einem kleinen Buch. Der estnische Regisseur Veiko Ounpuu bekam überraschend Besuch von seinem Freund, dem Schauspieler Taavi Eelmaa. Eelmaa hatte 60 Thesen in einem Manifest niedergeschrieben, das die Kommerzialisierung des Alltags und des Films kritisierte. Veiko Õunpuu:

"Eines Abends kam Taavi vorbei. Er war aufgekratzt und sehr glücklich. Er zeigte mir das Manifest und berichtete von seinem Plan: Er wollte einen Film machen und ihn sofort nach der Premiere verbrennen. Die Kunst sollte nur in der Erinnerung existieren. Ich fand die Idee sehr poetisch, und wir legten los."

Zwei Jahre später steht Õunpuu, dessen Film "Sügisball" 2007 in Venedig ausgezeichnet wurde, an einem Pier am Hafen von Tallinn: Der Wind pfeift von der Ostsee herüber, riesige Fähren laufen aus und Arbeiter überprüfen die zwölf mal 20 Meter große Leinwand sowie den Projektor, der in einem Ballon an einem Kran befestigt ist. Mithilfe der Stiftung Tallinn 2011 konnte das Projekt "60 seconds of solitude in the year zero" finanziert werden. Die 2000 Zuschauer harrten bei Minusgraden aus. Den Initiatoren passt das ins Konzept: Kino soll den Betrachter herausfordern, verstören, inspirieren – und Filme nicht einfach konsumiert werden. Weltweit sei solch neoliberales Denken verbreitet, doch die estnische Gesellschaft sei besonders infiziert, sagt der 39-jährige Õunpuu. Auf Filmfestivals, per Telefon und per Email präsentierten Taavi Eelmaa, Veiko Õunpuu und ihr Team das Projekt und suchten nach Regisseuren, die ihre Überzeugung teilten und bereit waren, einen einminütigen Film beizusteuern. Veiko Õunpuu:

"Wir stellten zunächst eine Liste auf mit unseren zwanzig Lieblingsregisseuren. Viele mochten die Idee, etwa Aki Kaurismäki oder Béla Tarr aus Ungarn, doch leider waren sie mit anderen Projekten beschäftigt. Also wurde der Kreis erweitert. Am Ende habe ich alle Filme zusammengesetzt."

Zu den berühmten Teilnehmern zählen neben Tom Tykwer der Iraner Rafi Pitts, Brillante Mendoza von den Philippinen sowie die Koreaner Park Chan-Wook und Jee-woon Kim. Unter den Filmemachern, die zur Premiere nach Tallinn gereist sind, ist auch die Japanerin Naomi Kawase, deren Werke oft in Cannes gezeigt werden. Für ihren Beitrag hat sie unter anderem ihren Sohn gefilmt:

"Ich mochte das Projekt von Anfang an. Ich bin sehr gespannt, wie mein Sohn reagiert, wenn er sich selbst auf der großen Leinwand sieht – und wie lange er sich an diesen Moment erinnern wird."

Die Ansätze der 55 Regisseure waren sehr verschieden: Auf Naturbilder folgte eine Lovestory aus Asien, auf wacklige Handybilder der Auszug aus einem Spielfilm. Zusammengehalten wurde "60 seconds of solitude in the year zero" durch die Musik einer Live-Band auf einem Schiff. Und dann, gegen halb zehn Uhr abends, kam das Feuer. Zunächst ging der Projektor in Flammen auf, dann entzündete ein Pyrotechniker die Zelluloid-Filmrolle. Funken sprühten, die Zuschauer klatschten, aus Lautsprechern ertönte eine Frauenstimme:

"Everything is fine in heaven"

Und alle Augen richten sich auf die Leinwand. Doch anstatt umzukippen, blieb sie stehen. Organisator Veiko Õunpuu wollte sich über die technische Panne nicht aufregen. Der Regisseur ärgerte sich mehr über die im Vorfeld geäußerte Kritik, es sei geschmacklos, Kunstwerke zu verbrennen:

"Diese Leute argumentieren, dass schon die Nazis Kunst und Bücher verbrannt haben. Aber das lässt sich doch nicht vergleichen. Wir sind Künstler, wir haben diese Werke geschaffen und haben beschlossen, sie anzuzünden, weil wir darin Schönheit finden. Wir wollen verhindern, dass Film zu einem Konsumgut oder einem Merchandiseprodukt verkommt."

Der 39-Jährige hofft, mit der Performance und dem Manifest einen Denkanstoß gegeben zu haben. Neoliberales Denken sei weltweit verbreitet, doch seine Heimat Estland sei besonders infiziert, so Õunpuu:

"Ich bin in der Sowjetunion aufgewachsen. Dieses System war schlecht, keine Frage, aber in Estland hat sich nach dem Zerfall der UdSSR alles um 180 Grad gedreht. Es geht nur noch um Geld, Gewinne und Geschäftsideen."

"60 seconds of solitude in the year zero" war nicht die einzige Veranstaltung im Programm von "Tallinn 2011", die am positiven Image von "Estonia" kratzte. Nach außen präsentiert sich Estland als technikaffines Land mit niedrigen Staatsschulden, in dem Skype erfunden wurde und wo sogar online gewählt wird. An die Tatsache, dass es weiterhin Probleme mit der Integration der russischsprachigen Minderheit, mit Aids und Arbeitslosigkeit gibt, erinnert seit Jahren das Theaterensemble NO 99. Im Rahmen von Tallinn 2011 zeigte NO 99 eine Koproduktion mit den Münchner Kammerspielen und baute ein Theater auf Stroh auf, in dem Lesungen, Gastspiele und Diskussionen stattfanden. Intendant Tiit Ojasoo wollte einen Treffpunkt schaffen, wo die Bürger miteinander ins Gespräch kommen können. Die Tallinner, so Ojasoos Wunsch, sollen sich daran erinnern, dass ihnen die Stadt gehört und Konsum nicht alles ist.

"Jeder Mensch soll sich hier wohl fühlen. Er kann Tischtennis spielen oder nur in der Sonne liegen, niemand muss etwas konsumieren. Wer möchte, kann sich natürlich ein Bier kaufen, aber es gibt keine Verpflichtung."

Wenn solche Gedanken über 2011 hinaus im Bewusstsein der Esten erhalten bleiben, dann ist es nicht tragisch, wenn auch mal wegen einer technischen Panne eine Leinwand nicht umfällt.
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