Gegen den politischen Stillstand

Rezensiert von Carsten Hueck · 25.07.2006
Adrienne Goehler kritisiert den bundesrepublikanischen Sozialstaat als "geschlossenes System". Demgegenüber hebt sie Merkmale künstlerisch-kreativer Existenz hervor: Erfahrungszuwachs im Bewusstsein der Differenz, Notwendigkeit fortlaufender Veränderung. Goehler hat ein anregendes Plädoyer für die Umwandlung des Sozialstaates in eine Kulturgesellschaft geschrieben.
Adrienne Goehler, derzeit Kuratorin des Hauptstadtkulturfonds in Berlin, ist eine theoretisch versierte, wie auch praktisch arbeitende Expertin an der Schnittstelle der Bereiche Politik und Kultur. Sie kennt aktuelle Diskurse, wirtschaftliche Interessen, künstlerische Kriterien und Lebensformen. Sie steht im Austausch mit Kreativen in Wissenschaft und Kunst. In dieser exponierten Stellung entwickelt sie in ihrem neuen Buch Perspektiven für eine - ihres Erachtens notwendige - Veränderung des Sozialstaates in eine Kulturgesellschaft. Es ist der Versuch, einen unbefriedigenden politischen Stillstand aufzulösen.

Adrienne Goehler kritisiert - mit zahlreichen Soziologen und Philosophen als Stichwortgebern - den bundesrepublikanischen Sozialstaat. Sie wirft den Politikern Unfähigkeit vor, Ambivalenzen auszuhalten oder Fragen transparent zu machen. Das "geschlossene System" Sozialstaat sei eine "autoritäre Zumutung" und versperre durch zentralisierte Regulierung den Raum für Eigeninitiative seiner Bürger.

Demgegenüber hebt die Autorin Merkmale künstlerisch-kreativer Existenz hervor: Erfahrungszuwachs im Bewusstsein der Differenz, Notwendigkeit fortlaufender Veränderung - alles Eigenschaften, die sie kurzerhand unter dem Oberbegriff "Verflüssigung" sammelt. "Künstler/innen sind von Haus aus Spezialist/innen für Übergänge, Zwischengewissheiten und Laboratorien", schreibt sie und beklagt gleichzeitig: Dass die Politik sich viel zu wenig an Verfahren von Kunst und Wissenschaft orientiere, um die eigene Denkweise zu hinterfragen oder neue Impulse zu entwickeln. Denn genau darin sieht sie das Potenzial zur Lösung gesamtgesellschaftlicher Fragen.

Dabei stützt sich Adrianne Goehler auf sozialwissenschaftliche Studien, die bestätigen,

"dass die Arbeitsplätze der Zukunft zunehmend 'künstlerisch geprägt' sein werden: selbstbestimmter, wechselhaft in Art und Umfang des Beschäftigungsverhältnisses, in stärkerem Maße projekt- und teamorientiert, zunehmend in Netzwerke und weniger in Betriebe integriert, mit vielfältigen und wechselnden Arbeitsaufgaben, schwankender Entlohnung (...) kombiniert mit anderen Einkommensquellen oder unbezahlter Eigenarbeit."

Nach Goehler sind Kulturschaffende die Avantgarde einer neuen Arbeitswelt. Ein zweischneidiges Kompliment. Denn das Bild des Künstlers als "flexibler Mensch" ist nicht weit entfernt von neoliberalen Vorstellungen - die eben doch wieder ökonomische Effizienz vor Sinnstiftung im Auge haben und den Menschen letztlich als Material betrachten.

Die Autorin gibt zahlreiche Beispiele dafür, wie - unabhängig von staatlichen Vorgaben - kulturelle Tätigkeiten gesellschaftliche Wirkung entfalten. Unter anderem analysiert sie die Etablierung und wachsende Verbreitung von NGOs, stellt das Projekt SEAS vor, das mit künstlerischen Mitteln die Anrainer des baltischen und adriatischen Meeres verbindet. Erläutert das internationale Forschungs- und Ausstellungsprogramm "Shrinking Cities", das erfolgreich mit kulturellen Neuerungen auf das Phänomen schrumpfender Städte und Regionen reagiert.

Berlin ist nach Goehlers Ansicht das ideale Laboratorium für den Übergang vom Sozialstaat zur Kulturgesellschaft. Fast 20 Prozent Arbeitslose bevölkern die Bundeshauptstadt, der Zerfall sozialer Sicherungs- und Finanzsysteme ist weithin sichtbar. Mit 5,8 Prozent weist Berlin aber die höchste Dichte von Künstlern auf, 40 Prozent der Einwohner sind unter 35 Jahre alt. Dieses Potential will Goehler nutzbar machen:

"Um die Hauptstadt (...) nicht nur als den Sitz administrativer Politikprominenz zu verstehen, um Chancen zu nutzen und Potenziale weiter zu entwickeln, bräuchte es eine Politik, die nicht nur die realen Entwicklungen vor Ort nicht behindert, sondern sie unterstützt, fördert und in ihre Strategien einbindet."

Goehlers Buch ist eine Inspirationsquelle. Da sprudelt und spritzt es, doch hin und wieder schäumt es auch bloß. Ein Widerspruch ist augenfällig: Wenn der Sozialstaat die "kreative Klasse" hervorbringt, die beispielhaft für eine zu schaffende Kulturgesellschaft sein soll, kann er so schlecht oder unbrauchbar doch nicht sein?

"Verflüssigungen" ist keine politische Gebrauchsanweisung, auch wenn sich Passagen des Buches oftmals so lesen. Auch bleibt Goehler häufig zu abstrakt. Nimmt man ihr Buch jedoch als eine Art Infusion zu sich, vitalisiert es und löst verklumptes Denken.


Adrienne Goehler: Verflüssigungen. Wege und Umwege vom Sozialstaat zur Kulturgesellschaft
Campus, Frankfurt am Main 2006, 250 Seiten
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