Gefühlspop

Ausflug in die Schmusehölle

Hannah Reid, Sängerin der britischen Band London Grammar
Hannah Reid, Sängerin der britischen Band London Grammar © DAMIEN MEYER / AFP
Von Tobi Müller · 05.10.2014
Der britischen Band London Grammar gelang mit ihrem Debütalbum "If You Wait" ein Überraschungserfolg. Auch die Berliner Columbiahalle war komplett ausverkauft. Unser Kritiker Tobi Müller kann den Hype nicht so recht nachvollziehen.
Vor einem Jahr erschien das Debütalbum von London Grammar, die Blogs hatten schon vor der Veröffentlichung das Ereignis gefeiert. Und die Feuilletons rieben verkatert die Augen, was, schon wieder etwas verschlafen? Oder lässt man sich etwa schon wieder von den Erregungspeitschen der britischen Presse durchs Dorf treiben und dreht sich besser noch einmal um, ist sicher ja sicher bald vorüber? Doch dann wurde "If You Wait", so heißt die Platte, auch von den Skeptikern angehört und alle reichten sich daraufhin die Hand: schön, schön, schön.
Hannah Reid hat einen rauchigen Alt, den sie auch in die Kopfstimme jagen kann. Und ihre zu vielen Wuh-huhs und Ah-hah-has gehen als charmante Unbeholfenheit durch bei den einen ("ein ungeschliffener Diamant!"), bei den anderen müssen diese ständigen Stoßseufzer einfach das Herz massiert haben ("genau so fühle ich auch, warum auch immer!"). Jedenfalls: London Grammar wurde zum Newcomer der vergangenen zwölf Monate.
Luftige und minimalistische Arrangements
Man reichte sich die Hand quer durch verfeindete Fraktionen - und nur das verdient vielleicht den Namen: Pop -, weil die Aufnahmen noch Reste eines ästhetischen Widerstreits aufwiesen. Die Songs waren zwar simpel und sich sehr ähnlich, aber das Spiel wurde vom Klang und vom Arrangement entschieden – im Pop ist die Melodie meistens nur ein einfacher Träger, um viel komplexere Dinge in unser Innenohr zu schleusen. Die Arrangements: Luftig, viel Platz, minimalistisch – dünne Gitarrenlinien kurz vor dem Nichtmehrspielen wie bei The XX, viel Hall auf der Stimme, weite Räume für den Schwindel oder auch nur für das Gefühl des Ungefähren. Der Klang: Immer wieder wurde der Grenzkitsch der Harmonien und auch der Texte mit Elektronik gekontert oder auch erklärt, stets klang da noch etwas anderes mit als einfach eine weitere junge Frau, die findet, wir sollten wieder mehr miteinander reden statt Kriege zu führen, und der es dabei nicht so gut geht. Dieser Pop aus gutem Haus ließ gerade noch ein Echo zu aus den Clubs, von denen er schon mal gehört haben muss.
Damit ist nun Schluss. In der ausverkauften Columbiahalle sehen gut 3.500 Leute zu, wie diese Musik zu sich kommen will. Ein Klavier steht auf der Bühne, wie wir es in den Wohnungen stehen haben. Der nette junge Mann links spielt ein bisschen Gitarre, er hat die nette jungen Frau auf der Uni kennengelernt (es ist Dan Rothman). Daneben spielt Dominic Dot Major auch mal Bongo, wenn er nicht die Keyboards bedient (einiges kommt auch vom Band). Alles geht aber zentral auf die Stimme, Hannah Reid steht im Zentrum und sonst gar nichts. Sie macht das gut, mal abgesehen von den vielen Verzierungen. Aber ihr fehlt ein Gegenüber. Ein Kontrast. Irgendwas nur, das diesen ständig behaupteten Schmerz nur ein bisschen erklären oder nur schon anders beleuchten könnte. Es ist, als würden wir wirklich in eine Wohnung sehen und zuschauen, wie sich diese junge Frau fühlt. Gegen Ende gibt es die Songzeile in überraschend großer Leuchtschrift hinter der Band: "How I feel".
Seelenmassage ohne Spannung
Gefühle gibt es also genug an diesem Abend, aber irgendwie keine Gründe. Es bleibt bei der simplen Seelenmassage, beim Striptease, der nichts zeigt, weil: Was ist ein nacktes Gefühl? Auf den grafisch hübsch gemachten T-Shirts von London Grammar steht eine weitere Songzeile, die uns nicht vorenthalten wird von Hannah Reid: "Wasting my young years" – ich verschwende meine jungen Jahre. Von Ironie kann man nicht ausgehen bei der Band, aber was dann? Das ist die artigste, sauberste und in kürzester Zeit von jedem Rest Spannung befreite Band, die der Indiesektor seit Langem gesehen hat. Nach dem dritten Stück gab die wirklich ganz schöne Lichtregie auf der zweiten Etage der Bühne plötzlich fünf Streicherinnen frei, es geht vom Wohnzimmer der leidenden Frau also direkt in den Konzertsaal. Auch schon lange nicht mehr erlebt an einem Konzert in einer Halle: Pärchen, wo der Mann andere Besucher zurechtweist, wenn sie verstohlen eine rauchen. The Bürgersinn is ba-ha-ha-ck, es ist alles gu-uh-uht.