Gefangen in der Einsamkeit

08.10.2009
Amos Oz leuchtet situativ das Leben einer Handvoll Menschen in einem israelischen Dorf aus. Sie alle tragen schwer an ihrem Schicksal - obwohl sie offenkundig einen ganz gewöhnlichen Alltag leben. Das Dorf ist Israel oder auch die ganze Welt.
Selten war Israel so amerikanisch, so künstlich, so beängstigend trist. Bei der Lektüre von acht Short Stories, die der israelische Autor Amos Oz unter dem deutschen Titel "Geschichten aus Tel Ilan" versammelt, denkt man unwillkürlich an Einstellungen aus alten Westernfilmen oder auch an die in ihrer Einsamkeit gefangenen Figuren auf den Gemälden Edward Hoppers. "Bilder vom Dorfleben", so lässt sich der hebräische Originaltitel dieses neuen Buches wörtlich übersetzen.

Tatsächlich "malt" hier der Autor seine Geschichten. Besonders präzise die Schilderungen des Wetters, der Jahres- und Tageszeiten, der Häuser und Straßen im fiktiven Dorf Tel Ilan. Lokalkolorit, streunende Hunde, Lkw, die Staub aufwirbeln, aufziehender Nebel. Ein letzter Bus, ein Ventilator auf der Veranda, bröckelnder Putz, das "blasse Silberlicht des Mondes". Alles zusammen bildet eine großartige, stimmungsvolle Kulisse - vor der Amos Oz situativ das Leben einer Handvoll Menschen ausleuchtet. Sie alle tragen schwer an ihrem Schicksal - obwohl sie offenkundig einen ganz gewöhnlichen Alltag leben. Das Dorf ist Israel oder auch die ganze Welt.

Hundert Jahre alt, ist es zu einem Wochenendreiseziel für Touristen aus der Stadt geworden. Die Moderne hält erfolgreich Einzug - in ihrer banalsten Form. Es gibt Galerien für Kunsthandwerk, Läden, in denen Zierfische oder Antik-Möbel angeboten werden, Feinschmecker-Restaurants und eine Weinhandlung. Dass es hier einmal anders aussah, daran erinnert noch manch ein Gebäude und auch einer der Bewohner, ein greiser, ewig grantelnder ehemaliger Knesset-Abgeordneter.

Dadurch, dass das Dorf nach und nach sein ursprüngliches Gesicht verliert, scheinen auch die Bewohner, ohne sich dessen bewusst zu sein, ihren Halt verlieren. So dass der Autor, fast beschwörend, immer wieder Redundanzen in die Geschichten einfügt, um sich gegen den Fluss der Zeit zu stemmen.

Oz beschreibt einsame Menschen. Sie arbeiten miteinander, singen zusammen oder flirten. Niemand verhält sich sozial auffällig, aber dem Autor gelingt es, indem er Alltagssituation überraschend verdichtet, für Augenblicke die ganz persönlichen Abgründe seiner Protagonisten aufzureißen.

Da sorgt sich die angesehene Ärztin des Ortes um ihren Neffen, der seinen Besuch angekündigt hat und nicht eintrifft. In einem Nebensatz stellt sich heraus, dass er äußert vage nur davon gesprochen hatte, vielleicht einmal zu kommen - Oz offenbart im Fürsorgewahn der ewigen Junggesellin deren tiefe Kontaktunfähigkeit und Liebessehnsucht.

Da trifft ein alleinstehender, namenloser Ich-Erzähler zum Schabbat-Singen im Haus der Nachbarn ein. Und statt sich dort einer ebenfalls alleinstehenden Frau zu nähern, zieht er sich unter das Schlafzimmerbett seiner Gastgeber zurück - wo sich vor Jahren deren Sohn eine Kugel in den Kopf gejagt hat.

Alle Geschichten, realistisch angelegt, fesseln zuerst durch ihre dichte Atmosphäre - aus der heraus Oz sie plötzlich ins absurd Unheimliche umschlagen lässt.

Einflüsse von Sherwood Anderson sind hier ebenso spürbar wie von dem hebräischen Schriftsteller Agnon oder von Kafka. Und natürlich das reiche Wissen eines 70-jährigen Autors, dass ein ganz normales Leben immer auch als Roman gelesen werden kann - wenn man es nur richtig beschreibt.

Besprochen von Carsten Hueck

Amos Oz: Geschichten aus Tel Ilan
Aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler
Suhrkamp, Frankfurt am Main 2009
187 Seiten, 16,80 Euro