Gefallene Doktoren und akademische Verlotterung

Von Jacqueline Boysen · 06.09.2013
Wenn die Kanzlerin einem Minister ihr "vollstes Vertrauen" ausspricht, dann kann er sein Rücktrittsschreiben formulieren. Politikern drohte in der vergangenen Legislaturperiode aber nicht nur diese Ungnade. Es gibt ganz neue Gefahren – zumindest für die Akademiker, meint die Publizistin Jacqueline Boysen.
In die Bilanz der abgelaufenen Legislaturperiode gehört auch dies: Die Würde der Doktoren ist nicht mehr unantastbar – zumindest nicht in der Politik. Im Netz wird zur Jagd auf akademische Titel geblasen. Erlegt wurden schon vor Zeiten der Doktortitel der Margarita Mathiopoulos, jetzt aber auch der Europaparlamentarier Koch-Mehrin und Chatzimarkakis sowie der von Bundesverteidigungsminister Karl Theodor zu Guttenberg. Während der vormalige niedersächsische Minister Althusmann seine – einst mit einem erbärmlichen "rite" bedachten Arbeit – gewissermaßen ein zweites Mal verteidigen konnte, wurde Bundesbildungsministerin Annette Schavans Schrift für unwürdig befunden. Wie zuvor der schillernde Parvenü adliger Herkunft musste auch sie Doktor und Amt aufgeben.

Neu im Visier der anonymen Jäger im Netz: Bundestagspräsident Norbert Lammert. Und so unterschiedlich die Arbeiten, ihre Verfasser und deren wissenschaftlicher oder politischer Ehrgeiz – die selbsternannten Hüter akademischer Redlichkeit bedienen sich einer Allzweckwaffe: des Plagiatsvorwurfs.

Das Plagiat ist allerdings ein Feind der lauteren Forschung: Wer Gedanken stiehlt und Ideen abkupfert, macht sich schuldig. Die Täuschung und Missachtung von Urheberrechten im copy-paste-Verfahren ist schändlich. Mit Guttenberg wurde ein Blender zur Strecke gebracht.

Anonyme Doktorvernichter treiben politische Spiele
Doch die vermeintlichen Retter wissenschaftlicher Standards leisten in ihrem jakobinischen Rigorismus der Wissenschaft auch einen Bärendienst. Denn eine Doktorarbeit ist ihrem Wesen nach keine Ansammlung von Fußnoten um derer selbst willen. Sie lebt von der Forschungsfrage, die Argumentationskraft und Analysefähigkeit des Verfassers stehen unter Beweis, Fantasie und Fleiß zählen – wie die Akribie bei den Literaturangaben. Seitenzahlen oder Werke von zitierten Vordenkern sind selbstverständlich korrekt anzugeben, aber dies zum Hauptkriterium für eine Arbeit zu erheben und Professoren von einst zur Revision auch inhaltlicher Beurteilungen zu treiben, greift in die Autonomie der Wissenschaft ein. Zudem treiben anonyme Doktorvernichter politische Spiele und lassen sich instrumentalisieren – wie der Doktor als solcher eben auch nicht im Reinraum entsteht.

Weist zum Beispiel eine Studentin im Alter von 23 Jahren tatsächlich den Vorschlag zurück, sie möge anstelle der Abschluss- gleich eine Doktorarbeit verfassen? Annette Schavan hat sich für die Promotion entschieden – nicht ahnend, dass diese eines Tages zum Politikum würde.

Norbert Lammert wurde mit Ende 20 promoviert und Stadtrat in Bochum. Die Ruhr-Uni, die erste Neugründung in der Bundesrepublik, musste ein hohes Interesse an ihm haben – politisch entsprach er als Christdemokrat zwar nicht der revolutionär angehauchten intellektuellen Avantgarde der frühen 70er, doch verkörperte der Sohn eines Bäckermeisters die junge Aufstiegselite. Nein, das zählt nicht für die Beurteilung des Gehalts seiner Dissertation, aber vor diesem Hintergrund entstand seine Untersuchung der "Lokalen Organisationsstrukturen innerparteilicher Willensbildung".

Man mag über Studien aus dem eigenen Biotop die Nase rümpfen. Doch hier schmeichelt der Parteinachwuchs den Seinen keineswegs. Vielmehr warnt er davor, dass Parteigliederungen sich selbst lähmen, wenn sie nicht couragiert politische Perspektiven entwerfen. Lauterkeit spricht aus dem Fazit – doch der Form wegen wird die Arbeit nach 35 Jahren durch den Fleischwolf der digitalen Zitatenkontrolle gejagt.

Entspricht es eigentlich der Wissenschaftsfreiheit, dass externe, anonyme und hysterische Plagiatsjäger die Unis zu Neubeurteilungen treiben? Das Recht, Doktortitel zu verleihen, zählt zu den wenigen Privilegien, die deutsche Universitäten überhaupt noch von anderen Einrichtungen in der bunten Lehr- und Wissenschaftslandschaft unterscheiden. Wenn schon das staatliche Schulwesen verlottert und Hochschulen im Spagat zwischen berufsqualifizierenden Studienabschlüssen und der Entwicklung von Exzellenz verkrampfen, muss nicht auch noch die akademische Würde ramponiert werden.

Jacqueline Boysen, geboren 1965 in Hamburg, ist Journalistin und Historikerin. Sie schrieb eine Biografie über Angela Merkel und promovierte zur Geschichte der Ständigen Vertretung der Bundesrepublik in Ost-Berlin. Jacqueline Boysen war Korrespondentin beim Deutschlandradio und arbeitet als Studienleiterin an der Evangelischen Akademie zu Berlin.
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Jacqueline Boysen© Deutschlandradio - Bettina Straub