Gefahrensituationen

Sicherheit für Zigtausende

Mobiler Sicherheitsroboter "Ofro" am 27.01.2004 in Berlin
Mobiler Sicherheitsroboter in Berlin © picture alliance / ZB / Sören Stache
Von Lydia Heller · 11.09.2014
Damit die Party nicht in einer Katastrophe endet: Mit Hilfe von Apps und Drohnen wollen Forscher Gefahren bei Großveranstaltungen frühzeitig erkennen und entschärfen. Doch wie lässt sich ermitteln, wann ein Gedränge in Massenpanik umschlägt?
"Hertha is ne Verpflichtung, wenn man in Berlin geboren ist."
"Wenn die Wartezeit länger als ne halbe Stunde ist, dann wird's unangenehm."
Berlin, Olympiastadion. 60.000 Fußballfans zum Bundesliga-Auftakt. Zehntausende sind es jedes Wochenende in den Stadien überall in Deutschland.
Gedränge. Emotionen.
Rock am Ring: 85.000 Besucher, Melt-Festival: 20.000. Wacken-Open Air: 80.000. Rund 500 Musikfestivals pro Monat, Sommer für Sommer, in ganz Europa. Dazu Fanmeilen, Karneval, Schlager-Moves, Weinfeste, Stadtläufe.
Spellerberg: "Den ganzen Sommer über findet ja ein Event nach dem nächsten statt. Dazu dienen ja heute die Städte und die öffentlichen Räume. Die dienen dem Event."
"Furchtbar. Also hier im Stadion geht's immer noch, weil's relativ entspannt ist immer noch - aber gerade bei Festivals, wenn man dann nirgendwo mehr hinkommt ohne dass man von allen Seiten geschoben wird, ganz furchtbar. Ich hatte das vor kurzem mal bei 'ner Uniparty, das war ganz extrem und da war ich sehr froh als ein Fast-Zwei-Meter-Freund von mir uns Mädels dann da rausgeholt hat, weil wir echt nicht mehr wussten, wo wir hin sollen."
Spellerberg: "Man sucht Spektakel im öffentlichen Raum. Und die öffentliche Hand hat dafür zu sorgen, dass dieses Spektakel stattfindet, ohne dass physischer, materieller und emotionaler Schaden entsteht."
"Vorhin Zoologischer Garten als wir umgestiegen sind in die S-Bahn, das war so knüppeldicke voll, das war nur ein Gestopfe. Man kriegt teilweise echt Angst, weil wenn man sich da mal auf den Hintern packt in der Menge, ist es auch schwierig wieder hochzukommen. Man hat halt Bilder wie in Dortmund oder wo das war, Loveparade, wo die dann halt zu Tode gequetscht worden sind."
Zu Tode getrampelt
21 Tote, mehr als 500 Verletzte. Das war 2010 die Bilanz der Loveparade in Duisburg. Besucher drängten durch einen Tunnel zum Veranstaltungsgelände, sie schoben und pressten, von innen und außen, Menschen verloren den Boden unter den Füßen und stürzten, andere trampelten über sie hinweg.
Wie konnte es dazu kommen? Was genau ist da passiert? Und: wie können solche Unglücke in Zukunft verhindert werden? Je mehr große, spektakuläre "Events" das Image von Städten und Regionen prägen, je wichtiger sie als Wirtschaftsfaktor werden - desto mehr sind diese Fragen in den letzten Jahren in den Fokus der Wissenschaft geraten.
Franke: "Wir haben uns gefragt: Was für ein technisches System brauchen wir, das in der Lage ist, Parameter von Menschenmassen zu identifizieren und in Echtzeit, live, zu erfassen - wie dicht ist eine Menschenmenge, ist gerade irgendwo ein Ort in der Menschenmenge, wo Panik herrschen könnte - und das diese Informationen sehr leicht verständlich visuell aufbereitet."
Deutsches Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz - DFKI - in Kaiserslautern. Informatiker Tobias Franke zeigt auf seinen Monitor. Ein Stadtplan von Zürich ist zu sehen, einige Straßen haben blaue, einige rote und andere gelbe Flecken.
Franke: "Wenn wir uns das hier anschauen, sehen wir eine Google-Karte - und da ist ein Wärmebild drauf. Wir nennen das crowd density heat map: ein Wärmebild, was veranschaulicht, wie dicht die Menschenmenge an verschiedenen Stellen ist. Je röter desto wärmer, je blauer, desto kühler. Und in unserem Fall ist es hier: je röter die verschiedenen Stellen sind, in dieser Karte, desto mehr Leute sind dort."
Überwachung per App
Crowd Sensing heißt diese Technologie, mit der Besucherströme auf Großveranstaltungen analysiert werden können. In diesem Fall: die Bewegungen von rund 40.000 Besuchern des Zürifeschts 2013, die die Fest-App auf ihren Smartphones installiert hatten. Für diese App hatte Franke ein Crowd-Sensing-Modul entwickelt, das die Bewegungsdaten der einzelnen Handy-Besitzer erfasst und auswertet.
Tobias Franke öffnet ein weiteres Bildschirmfenster:
Franke: "Das ist eine Detailliert-Visualisierung. Jeder Mensch ist ein Pixel in dieser Animation, alle Leute, die sich gerade in südliche Richtung bewegen, sind rot eingefärbt, alle die sich in westliche Richtung bewegen, sind blau eingefärbt und so weiter. Hier zum Beispiel ist gerade das Feuerwerk vom Zürifescht zu Ende. Und man sieht, dass sich die Leute alle wieder zurück zum Bahnhof, in nördliche Richtung bewegen. Je wärmer, je röter die Bildpunkte sind, desto schneller bewegen sich die Leute."
Ein bis drei Minuten nur dauert es, bis die anonym erfassten Daten in der Wärmebildkarte visualisiert sind. Sind die Positionsdaten mit Überwachungskameras gekoppelt, liegen zudem Bilder über die Situation vor Ort vor. Polizei, Feuerwehr und Sicherheitskräfte können das Geschehen nahezu in Echtzeit verfolgen - und auf dieser Basis Gefahrenherde identifizieren. Verstopfte Stadionzufahrten etwa oder überfüllte U-Bahn-Stationen. Sie können entscheiden, ob und wie sie eingreifen. Ob sie Zugänge sperren oder öffnen. Ob ein Krankenwagen oder die Feuerwehr ausrücken muss.
Holzkreuze erinnern in Duisburg am Ort des Loveparade-Unglücks an die Toten.
Holzkreuze erinnern in Duisburg am Ort des Loveparade-Unglücks an die Toten.© picture alliance / dpa / Marius Becker
Sicherheitskräfte können den Besuchern einer Veranstaltung über die App auch eine Nachricht aufs Handy schicken, deren Inhalt speziell auf Menschen zugeschnitten ist, die sich in einem begrenzten, potenziell gefährdeten Areal aufhalten. Sie bitten, diese Bereiche zu verlassen. Oder sie können Menschen, die sich erst auf dem Weg in ein mögliches Gefahrengebiet befinden, per Textnachricht Alternativrouten vorschlagen. Um kritische Menschenansammlungen im Vorfeld zu verhindern. Die Sicherheitssysteme der Zukunft aber - werden autonomer sein.
Franke: "Basierend auf diesen Daten kann man dann anfangen, automatische Erkennung zu machen, das ist das, was wir als nächstes einbauen wollen, automatische Vorhersagen und eine automatische Alarmfunktion. Dass ein System automatisch sagt: Hier könnte gleich eine Panik ausbrechen, dort könnte es gefährlich werden und so weiter. Das ist das, was wir als nächstes einbauen wollen: Automatische Vorhersagen und automatische Alarmfunktionen."
"Jeder hat ja so eine Zone, wo man Platz braucht. Und wenn das eingeschränkt wird, wird's unangenehm."
"Ich bin da gut im Abwehren. Ich mach mich breit."
"Dann fang ich an zu schwitzen ..."
"So'n allgemeines Unwohlsein."
"... überlege wie ich da rauskomme."
Derzeit arbeitet weltweit eine ganze Reihe von Forschern an Modellen, mit denen sich die Dynamiken von Menschenmassen simulieren und vorhersagen lassen. Gelingt es, die Daten aus einer Echtzeit-Überwachung der Menge ohne Zeitverzug auch mit diesen Simulationen zu verknüpfen, könnten deren Algorithmen künftig sofort errechnen, mit welcher Wahrscheinlichkeit sich wie viele Menschen als nächstes in eine bestimmte Richtung bewegen und ob dadurch Gefahr droht. Sicherheitssysteme könnten automatisch reagieren.
Franke: "Das Wembleystadion hat uns gegenüber erwähnt, dass sie sich vorstellen könnten, Informationen über die Dichte und Bewegungsrichtung der Menschen in ihr eigenes IT-System einzuspeisen. Das Stadion ist relativ weit, wenn es darum geht, elektronische Steuerung von Toren, von diesen Schildern, wo Hinweise drauf eingeblendet werden können - und die Daten von unserem Crowd sensing-System kann sich das Wembleystadion vorstellen, dass sie dafür benutzt werden, diese Systeme zu steuern. Dass entsprechend des Besucherandrangs Tore geöffnet, geschlossen werden, Bewegungshinweise eingeblendet werden auf den Schildern. Das ist noch Zukunftsvision, aber wenn wir über einen Horizont von einem Jahrzehnt reden, ist es sehr wahrscheinlich, dass sich Infrastruktur an die augenblicklichen Gegebenheiten anpasst."
Wie zuverlässig ist die Technik?
Nur ein bis zwei Prozent der Besucher einer Veranstaltung müssen dem DFKI zufolge via App Daten liefern, um verlässliche Karten erstellen zu können. Und erste Testläufe - darunter bei den Olympischen Spielen 2012 in London und bei den Krönungsfeierlichkeiten für Willem Alexander 2013 in den Niederlanden - haben gezeigt: rund 80 Prozent waren dazu bereit. Mehr als 90 Prozent sagten, sie würden den Hinweisen auch Folge leisten.
Spellerberg: "Wir haben ein Projekt gemacht, da ging's um Evakuierung von Fußballstadien. Da haben wir die Besucher gefragt, auf was sie achten und wem sie vertrauen, in solchen Situationen. Und das Ergebnis: dass sie eher auf Personen achten und Ordner und Menschen, die sagen: Ich kenn mich aus, ich übernehme die Führung, ich weiß, wo's langgeht, folgt mir."
Professor Annette Spellerberg von der Technischen Universität Kaiserslautern hat Technologien, die der öffentlichen Sicherheit dienen sollen, untersucht. Die Soziologin glaubt nicht, dass diese schon bald ohne menschliches Eingreifen funktionieren könnten.
Spellerberg: "Schilder sind das eine, die werden noch wahrgenommen, aber wenn's um neue Techniken geht - also auf so eine App, auf die wir damals setzen wollten - die kommt nicht gut an. Nicht jeder hat ein Smartphone, dann gibt es unterschiedliche Hersteller, hat man das drauf, wie schnell ist das, braucht man Internetempfang, also WLAN. Wenn man unterwegs ist, weiß man nicht, ob man das findet, dann bricht die Technik zusammen, im Falle des Unglücks - das war ja in Duisburg auch so, weil's überlastet ist - wie verständigen sich die Menschen dann überhaupt, wenn die Technik nicht da ist, da gibt's noch viele Fragen drum herum."
Aber: Apps - vielleicht gekoppelt an Überwachungskameras - sind längst nicht der einzige Weg, um Echtzeit-Informationen über ein Veranstaltungsgeschehen zu generieren.
Menschen vor Ort werden dafür nicht mehr unbedingt gebraucht. Nicht auf Massenevents - und auch nicht in anderen Situationen, in denen Menschen in Gefahr sein können und in denen für ihre Sicherheit gesorgt werden muss: Nach Naturkatastrophen oder Attentaten etwa. In Industrieparks oder großen Bürogebäuden. Man braucht sie dort weder als Informationsquelle noch als Sicherheitskräfte.
"Bob" sorgt für Sicherheit
Gloucestershire in Südwestengland, Juni 2014. "Bob" patrouilliert durch Räume und Flure eines Bürogebäudes. Ein beinah mannshoher Kegel, am oberen Ende eine Glaskugel mit Kulleraugen. Seine Aufgabe: Für Sicherheit sorgen. Raum für Raum fährt er ab - und: sieht nach dem Rechten.
Hawes: "Zum einen sollte er nachsehen, ob Dinge dort waren, wo sie hingehören. Wir haben ihm zum Beispiel beigebracht, wie Feuerlöscher aussehen und wo Brandschutztüren sind."
Nick Hawes von der Universität Birmingham leitet die Forschergruppe, die die Software für Bob entwickelt.
Hawes: "Dann sollte er mehrmals am Tag herumfahren, um herauszufinden, wo diese Dinge sind und ob sie am richtigen Platz sind. Zum anderen soll er lernen, seine Umgebung wirklich wahrzunehmen, an verschiedenen Tagen und Tageszeiten. Über die Zeit soll er erkennen können, was sich verändert hat - ob und wie zum Beispiel Möbel bewegt wurden."
Bob weiß, ob Türen offen oder geschlossen sind und ob er ein Objekt vor sich hat oder einen Menschen. Identifiziert er Personen spätnachts in einem Gebäudeteil, in dem sich nach zehn Uhr niemand aufhalten darf, kann er Alarm schlagen. Bis Ende des nächsten Jahres soll er auch erkennen können, ob sich Menschen auf eine Weise verhalten, die in einer konkreten Situation und Umgebung ungewöhnlich ist. Ob sie in einem Flur längere Zeit stehen, obwohl sich Personen dort üblicherweise voran bewegen. Oder ob sie laufen in einem Raum, in dem Menschen normalerweise sitzen.
Notfälle erkennen und eingreifen - können Systeme wie Bob nicht.
Hawes: "Er ist nur begrenzt handlungsfähig. Man will keinen Roboter, der in der Lage ist, physisch mit Menschen zu interagieren. Es ist auch schwierig, einem Roboter so etwas beizubringen. Die Technologie, die wir für Bob verwenden, wird aber gut Situationen identifizieren können, die sich von bereits gesehenen unterscheiden. Wenn so ein Roboter dann in einen Raum kommt und da ist alles anders als sonst, kann er Sicherheitspersonal alarmieren. Also der Roboter trifft durchaus autonome Entscheidungen, indem er sagt: Das ist eine Situation, die sich ein Mensch ansehen sollte. Aber - selbst Notfälle identifizieren sollten Roboter nicht, dafür sind die Systeme noch nicht verlässlich genug. Da sollte ein Mensch entscheiden, ob wirklich eine besorgniserregende Situation vorliegt."
Ist das der Fall, können Polizisten, Sicherheits- und Rettungskräfte Bob jedoch fernsteuern - und seine Sensoren nutzen, um Informationen über die Lage in einer Gefahrensituation zu bekommen, ohne zunächst selbst vor Ort sein zu müssen.
Der (fast) autonome LKW
Bob bewegt sich durch Gebäude anhand programmierter Raumpläne. Verirrt er sich oder bleibt in einer Ecke stecken, fragt er um Hilfe. Systeme wie "Bob" finden nicht eigenständig Wege durch unbekanntes oder gar unwegsames Gelände und reagieren nur bedingt selbständig auf auftauchende Hindernisse. In unübersichtlichen Räumen sind sie auf menschliche Hilfe angewiesen.
In konkreten Gefahrensituationen sind Bob und seine Kollegen daher noch wenig nützlich - bei einem Brand oder Terroranschlag etwa, bei einem größeren Industrieunfall oder wenn eine Massenpanik in einer Menschenmenge doch nicht verhindert werden konnte. Doch Forscher beginnen, Sicherheitssysteme auch für diese Aufgaben zu rüsten.
Zinner: "Hier sind wir live drinnen im Fahrerhaus unseres Testfahrzeugs, wo wir ein Experiment durchführen, wo das Fahrzeug autonom einem Hindernis ausweichen muss."
Austrian Institute of Technology in Wien, Forschungsbereich 3D-Vision and Modelling. Christian Zinner und Robert Rössler sitzen vor großen Monitoren - verschiedene Bildfenster zeigen wackelige Kameraaufnahmen von ausgefahrenen Feldwegen, vielfarbig eingefärbte Landkarten aus der Vogelperspektive, einen Militärlastwagen.
Rössler: "Hier sieht man den LKW. Die Sensoren befinden sich hauptsächlich am Dach zurzeit. Unser Stereokamerasystem ist nach vorn gerichtet, der Lasersensor sitzt ein bisschen weiter drüber, damit er ein 360-Grad-Umgebungsblickfeld hat."
Die Forscher trainieren Software-Sensor-Systeme für Fahrzeuge. Sie bringen ihnen bei, ihre Umgebung räumlich wahrzunehmen, sich darin zu orientieren und selbständig zu bewegen.
Zinner: "In Österreich ist man immer wieder mit Lawinenkatastrophen konfrontiert, dass Gebiete von der Außenwelt abgeschlossen sind. Und wenn kein Flugwetter ist, hat man ein massives Problem, hier Hilfestellung zu leisten. Weil Straßen dorthin gesperrt sind und zu gefährlich sind, um Personen dorthin zu schicken. Deswegen ist der Ansatz: Kann man autonome für solche Aufgabenstellungen Fahrzeuge verwenden?"
Spätestens die Katastrophe im Atomkraftwerk Fukushima hat gezeigt, dass Luftaufnahmen oft nicht ausreichen, um effizient Hilfe in Gefahrengebieten zu organisieren. Bei Unfällen in Atom- oder Chemieanlagen bestehen für Rettungskräfte unkalkulierbare Risiken. Eine Reihe von Forschergruppen versucht daher derzeit, mobile Sensorsysteme zu entwickeln, die teilautonom erste Erkundungsarbeiten übernehmen können. Ein Konsortium deutscher Fraunhofer-Institute arbeitet an einem System vernetzter Drohnen und Landroboter, die unter anderem mit Gasdetektoren, Infrarot- und Ultraschall-Sensoren ausgestattet werden können. Auf der Grundlage ihrer Daten sollen sich die Geräte gegenseitig koordinieren, um den günstigsten Weg durch unwegsames Gelände zu finden.
Zinner und Rössler haben einen LKW mit Sensoren ausgestattet. Während sich der Wagen - fahrerlos - mit etwa 30 Kilometern pro Stunde durchs Gelände bewegt, erfassen Kameras, Laser und Gleichgewichtssensoren die Umgebung. In Echtzeit wird eine Karte erstellt.
Blau markierte Flächen zeigen befahrbare Bereiche an, rote Flächen kennzeichnen Unebenheiten, Gräben oder aufragende Hindernisse.
Zinner: "Wenn wir uns jetzt vorstellen, dass dieser Baum, während wir den Weg abfahren, umfallen würde, dann würde diese Information in Sekundenbruchteilen in unserem Modell reflektiert werden und das Fahrzeug könnte drauf reagieren und würde entweder einen alternativen Pfad planen oder wenn es keine Alternative gibt, muss das Fahrzeug eben zum Stillstand kommen."
Über die gesamte Route eines Einsatzes entscheiden Rettungskräfte via Tablet-Fernsteuerung. "Supervised Autonomy" - kontrollierte Autonomie - nennen die Forscher ihren Ansatz.
Zinner: "Das heißt, man kann sich vorher überlegen, wo möchte ich das Fahrzeug hinbringen und ich schaue mir das anhand von Luftbildern an. Und kann in groben Zügen den Weg einzeichnen, den das Fahrzeug nehmen soll. Aber eben, wie der Weg im Detail geplant wird, das macht das Fahrzeug alleine."
In kritischen Situationen navigiert ebenfalls ein Mensch. Denn: Das System kann zwar erkennen, ob ein Weg frei und der Untergrund eben ist. Aber nicht, ob es sich dabei vielleicht um eine Eisdecke handelt, die das Fahrzeug gar nicht trägt. Ob ein Baum im Weg liegt, über den das Fahrzeug vielleicht hinwegfahren kann oder ob es sich möglicherweise um einen Menschen handelt, kann das System schon relativ gut unterscheiden. Aber - eben noch nicht gut genug.
Zinner: "Wir müssen das heute noch in die Entscheidungsgewalt von Menschen legen. Da führt momentan kein Weg drum herum. Vom technischen Standpunkt her, dass man verschiedene Materialien und möglichst viele Objekte identifizieren, unterscheiden kann - das ist Forschungsgegenstand weltweit nach wie vor. Hier ist es noch schwierig, den Menschen zu übertreffen. Obwohl's auch für Menschen in solchen Situationen durchaus schwierig sein kann."
Schüler schreiben SMS und telefonieren am 22.04.2013 auf einem Schulhof in Braunschweig (Niedersachsen). 
Apps sollen helfen, Besucherströme zu analysieren und Gefahren frühzeitig zu erkennen.© picture alliance / dpa
Die Rescuer-App
Nass-Bauer: "Bezüglich dieser Automation wir können uns überlegen: in den großen Veranstaltungen, die einzigen Sensoren, die es gibt, sind die Menschen, die da teilnehmen. Im industriellen Kontext hat man mehr Sensoren, zum Beispiel wenn Feuer oder Rauch identifiziert wurde. Was man automatisch häufig nicht identifizieren kann, sind die Einzelheiten oder die aktuelle Situation. Und dann braucht man wieder, dass ein Mensch wirklich berichtet, was da gerade abgeht, was zu sehen ist oder nicht."
Fraunhofer-Institut für Experimentelles Software Engineering, Kaiserslautern. Informatikerin Claudia Nass-Bauer öffnet eine Applikation auf einem Smartphone: den Prototypen der Rescuer-App, die sie derzeit mit entwickelt. Das Prinzip: Crowdsourcing. Die Nutzung der Informationen vieler einzelner Menschen, die in ein Ereignis involviert sind.
Nass-Bauer: "Die Idee ist, wenn man die Rescuer-App aufmacht, dass man hier direkt diese verschiedenen Arten von Notfall zu sehen hat. Man kann dann zum Beispiel Feuer melden oder Massenpanik oder Explosion und dann auch Einzelheiten. Sie können Bilder machen, sagen, ob sie Verletzte in der Nähe sehen oder auch Eigenschaften, zum Beispiel vom Rauch, den sie sehen, welche Farbe usw. Was Rescuer macht: Wir benutzen die Menschen als Sensoren, um genau zu verstehen, was passiert ist und wie die Lage aussieht in dem Moment."
Forscher diskutieren crowdsourcing-basierte Sicherheitskonzepte seit einigen Jahren unter dem Begriff "Resilienz": Nicht mehr nur der Staat ist verantwortlich dafür, seine Bürger vor Katastrophen zu schützen und Gefahren vorzubeugen. Vielmehr unterstützt er Menschen aus einem breiten Spektrum des öffentlichen Lebens darin, sich zu vernetzen und effizient zu kooperieren, um so Gefahrensituationen mit einer flexiblen Widerstandskraft zu begegnen.
Die mit der Rescuer-App gesammelten Informationen werden zunächst automatisch gefiltert. Unbrauchbare Hinweise werden entfernt, verwackelte Videos und unscharfe Bilder innerhalb von Sekunden in eine verwertbare Qualität gebracht. Algorithmen generieren aus den verbliebenen Daten ein Lagebild. Auf dieser Basis können sich Rettungskräfte einen Überblick über eine Situation verschaffen, ohne bereits selbst vor Ort zu sein.
Nass-Bauer: "Und für jedes Event, das erkannt wird, muss ein Mensch sagen: Das ist genau das, was du identifiziert hast, dass es wirklich eine Massenpanik ist und nicht nur so eine normale Bewegung von der Masse. Deswegen ist es eine semi-automatische Analyse. Worauf man hinlaufen kann ist, wenn man häufig das beobachtet hat, dass das System lernt, was ein Notfall ist. Aber im Moment braucht man noch diese Mensch-Analyse, wo der sagt: Okay, das System hat recht."
Aber - besteht nicht die Gefahr, dass die Algorithmen eine falsche Entscheidungsgrundlage liefern? Weil die in die Software implementierten Kriterien für eine Notsituation im konkreten Fall nicht passen?
Lukowicz: "Das glaub ich nicht, weil die Leute, die im Sicherheitsbereich arbeiten, sind extrem professionell und geschult."
Professor Paul Lukowicz, Direktor am Deutschen Forschungszentrum für Künstliche Intelligenz in Kaiserslautern und Partner im Rescuer-Projekt.
Lukowicz: "Die sind es gewohnt, aufgrund von unsicheren Daten zu entscheiden. Wenn sie das System nicht haben, bekommen sie ein Kamerabild, das punktuell ist oder sie bekommen Nachrichten: Hier sieht es kritisch aus. Sie wissen immer, dass das eine Sicht der Dinge ist, die nicht unbedingt zuverlässig ist."
Sie wissen jedoch auch: Je umfangreicher und detaillierter die Informationen über eine Gefahrensituation, desto schneller, effizienter und passgenauer können sie helfen.
Teilautonome Sicherheitssysteme können möglicherweise Leben retten, indem sie Daten über Teilnehmer einer Veranstaltung sammeln, ihr Verhalten überwachen oder ihre Beobachtungen von einem Unfallort analysieren. Aber: Sicherheitssysteme können mehr als beobachten und bewerten. Sie können: Verhalten beeinflussen.
Nass-Bauer: "Es gibt immer Konflikte der Ziele, die wir haben. Auf der einen Seite brauchen wir die Information - auf der anderen Seite wollen wir, dass sich alle so schnell wie möglich in Sicherheit bringen. Aber wir kriegen nur Informationen, wenn die Leute sich vielleicht doch länger aufhalten. Es geht auch darum, nicht nur freiwillige Informationen zu bekommen, sondern auch in der Lage zu sein, explizit nachzufragen und die Gruppe dann zu steuern."
Warum also sollte jemand in einer gefährlichen Situation auf sein Handy schauen und eine App öffnen? Warum sollte er fotografieren, Videos aufnehmen und Fragen zur Situation beantworten statt das Gelände auf dem kürzesten Weg zu verlassen?
Weil die Rescuer-App wahrscheinlich mit "Motivationsfeatures" ausgestattet sein wird: Kleine Extra-Funktionen, die bestimmte Persönlichkeitsmerkmale ansprechen - Hilfsbereitschaft, den Wunsch nach Anerkennung oder Verantwortungsgefühl für eine Gruppe. Sie sollen einen zusätzlichen Anreiz geben, die App zu nutzen und den Rettungskräften zuzuarbeiten.
Nass-Bauer: "Wir überlegen ein Feature, dass ich meine Freunde immer im Blick habe, dass man weiß, wo der andere ist. Dass man sich austauschen kann: Ich bin schon in Sicherheit. Weil die Leute wollen, dass alle zusammen und sicher sind. Da sind so verschiedene Motivationsfaktoren, dass zum Beispiel, wenn die Leute helfen, kriegen sie Punkte, so wie Bronzehelfer oder Silberhelfer, sie haben Zugang zu mehr Informationen. Aber wir sind noch dabei, abzuwägen, ob das richtig sinnvoll ist oder nicht."
Mehr als 50 dieser Features haben die Rescuer-Forscher zusammengestellt. Im Oktober soll die App bei einer Notfall-Übung in einem Industriepark in Südamerika getestet werden.
"Wenn man sowieso in der Masse drin ist, kuckt man sich natürlich um und sagt: Komm, hilf mal mit!"
"Ich würde meine Reisegruppe packen und in Sicherheit bringen."
"..jemanden bestimmen, der die Feuerwehr ruft."
Zwischen Sicherheit und Manipulation
Dass sie mit einer App und personalisierten Motivationsfeatures steuern könnten, wie sich jemand in einer Gefahrensituation verhält, wie lange er dort hilft und welche Informationen er liefert - das sehen die Rescuer-Forscher durchaus kritisch. Technisch unmöglich ist es nicht. Wenn sich aber mit solchen Sicherheitssystemen Verhalten steuern lässt - und sei es nur mit der SMS, die uns vor Gedränge bewahren will und einen alternativen Weg weist - geht es dann wirklich immer nur um unsere Sicherheit?
Spellerberg: "Wo ist eine Demonstration? In der Stadt, am zentralen Platz. Wenn man denkt, diese öffentlichen Plätze sind auch politische Plätze, kann man diese Informationen nutzen, um Menschen wegzulenken. Bei uns gibt's ein Demonstrationsrecht, aber in einem diktatorischen Land ist die Frage: Wer kann überhaupt zu diesem Platz, diesem Versammlungsort kommen? Wenn es um Sicherheit geht: Dient es staatlichen Apparaten, Herrschaft aufrecht zu erhalten oder Bürgerrechte einzuschränken? Oder ist es etwas, das Menschen zugutekommt."
Leider liegt für dieses Bild keine Bildbeschreibung vor
Überwachung im Dienst der Sicherheit?© picture alliance / dpa / Jan-Philipp Strobel
Und ist ein Fußballspiel, ein Festival - vielleicht eine Demonstration - nur deshalb friedlich verlaufen, weil künftig auch Emotionen automatisch erfasst und gelenkt werden könnten? Weil wütende, aufgebrachte, aggressive Teilnehmer eines Ereignisses erkannt und gezielt entfernt worden sein könnten?
Lukowicz: "Man kann auch Stimmung messen. Wir haben Forschungsprojekte, wo man genau das versucht zu beurteilen. Es gibt ja diese Geräte, die messen können, wie ich jogge und so weiter, da kann man sehr wohl unterscheiden, jemand ist aufgebracht und aggressiv oder eher entspannt. Eine zweite Möglichkeit ist, indem man Geräuschmessungen macht. Gibt es da aggressives Geschrei oder ist es ausgelassene Stimmung? Interessant ist das Umgekehrte, wie kann ich versuchen, die Stimmung zu beeinflussen? Durch die Art der Information, die ich den Menschen liefere? Und wie man solche Dinge handhabt, das ist natürlich schon heikel."
"Ich bin entspannt. Ich find Gedrängel immer okay, mich hat noch nie jemand gekniffen."
Lukowicz: "Die Handelnden sind die Menschen. Und die Menschen können richtig oder falsch handeln, je nachdem, welche Information ihnen zur Verfügung gestellt wird. Und das ist dann die Rolle der Technik: dafür zu sorgen, dass sie eine Information haben, die ihnen hilft, die richtigen Entscheidungen zu treffen."
Und die Rolle der Menschen?
Dafür zu sorgen, dass richtige Entscheidungen immer auch freie Entscheidungen bleiben.
Mehr zum Thema