Gedichte von Paulus Böhmer

Ein unendlicher Sprachstrom

Bei Paulus Böhmer versinken Natur und Menschendasein ineinander.
Bei Paulus Böhmer versinken Natur und Menschendasein ineinander. © imago/stock&people
Von Jörg Magenau · 26.01.2015
Paulus Böhmers Langgedichte sind im Grunde Ausschnitte aus einem einzigen allumfassenden Gedicht: In dem Band "Wer ich bin" sind zwei Werke des hessischen Lyrikers nachzulesen, die sich komplementär ergänzen. Wegen seiner Wortdelirien wird er auch mit Allen Ginsbergs oder William S. Borroughs verglichen.
Paulus Böhmer ist der Dichter der großen Worte und der langen Rede. Im Grunde sind all seine Langgedichte Ausschnitte aus einem einzigen Gedicht, das, wenn es nur möglich wäre, das ganze Universum vom kleinsten Kleinen bis zur Unendlichkeit umfassen würde. Vom Kleinen her betrachtet ist er ein hessischer Lyriker. Jahrelang hat er das Hessische Literaturbüro in Frankfurt geleitet und unterdessen immer wieder, unverdrossen, seine Gedichtbände publiziert.
Weil sie lang sind, diese Wort-Delirien, hat man ihn immer wieder als deutschen Vertreter der Beat-Poetry bezeichnet, als Nachfolger von Allen Ginsberg oder William S. Burroughs. Aber sein hymnisches Sprechen, in dem Natur und Dingwelt und Menschendasein ineinander versinken, verweist auch auf die Weltgesänge Walt Whitmans. Das Eintauchen in die ursuppenhafte Weite des Kosmos erinnert gelegentlich an Gottfried Benn, weil Böhmers Sprache in all ihrer chirurgischen Präzision immer auch eine unmittelbar körperliche, geradezu sexuelle Dimension besitzt. Auch Inger Christensen ist mit ihrem "Alphabet" nicht weit entfernt, wenn Böhmer die Welt von A bis Z durchbuchstabiert und aus der Sprache erschafft.
Vom Ich zur Welt
All das ist nun in einem neuen, kleinen Band mit zwei Langgedichten nachzulesen, die zwar beide schon einmal vor 15 Jahren erschienen sind, jetzt aber, als komplementäre Teile eines Ganzen beieinander stehen und die Methode Böhmers deutlich werden lassen. Der titelgebende erste Teil "Wer ich bin" ist hochgradig narzisstisch, auch wenn vom Ich gar nicht die Rede ist. Aber das Ich ist schon deshalb unverzichtbar, weil es der Ausgangspunkt des Sprachstroms ist, an dem es sich unentwegt berauscht, auch wenn es sich daran abarbeitet, die Grenzen zwischen Subjekt und Objekt zu überwinden, ja, die Subjekt-Objekt-Spaltung grundsätzlich aufzuheben. Dieses lyrische Ich wird gekontert durch den zweiten Teil, das lehrbuchhafte "Über das Zusammenfügen von Teilen". Damit schreitet man vom Ich zur Welt und vom Einzelnen zum Ganzen, das aber wiederum nichts ist als ein Geteiltes, als Teilung, Teileinheit, Teilfläche: "Abfolgen und Rhythmen ordnen das Teilen, / das Zusammenfügen von Teilen, das / Teilen. Knochen / brauchen mehr Zeit als / durchblutete Teile".
Böhmer weiß sehr viel und muss das unentwegt zeigen. Verweise auf griechische Mythologie stehen neben Zitaten aus der Pop-Kultur und Naturwissenschaften, und auch die Literaturgeschichte ist präsent, wenn William Faulkners Flem Snopes Kaugummi kaut oder wenn es plötzlich mit einem Romantitel von Siegfried Lenz heißt: "Habichte sind in der Luft". Vielleicht sind das aber auch nur biografische Einsprengsel, Erinnerungen an Leseerfahrungen, die der 1936 geborene Böhmer in den 50er-Jahren gemacht haben mag.
Seine Dichtung funktioniert als Überfluss-Produktion. Wo es um alles geht, gibt es von allem zu viel. In diesem unendlichen und manchmal auch ermüdenden Sprachstrom gibt es jedoch immer wieder kleine Erkenntnisblitze und Wahrnehmungsfügungen. Das auf Dauer gestellte Sprechen ist die Voraussetzung, um zu diesen Lichtstellen zu gelangen. Man tritt mit Paulus Böhmer eine Schiffsreise an, von Insel zu Insel, von Innen nach Außen, vom Ich in die Welt, vom Wort zur Sprache. So, sagt er, "entsteht neben der Zeit, die wir kennen, eine andere Zeit." Und das ist es doch schließlich, worauf es ankommt in der Dichtung.
Paulus Böhmer: "Wer ich bin"
Edition Faust, Frankfurt/Main 2014
56 Seiten, 16 Euro
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