Gedicht-Erkundungen

Ein Labyrinth poetischer Intentionen

Von Carola Wiemers · 05.05.2014
Die Dichterin und Poetikdozentin Kerstin Hensel führt ihre Leser unterhaltsam und ohne Schulmeisterei durch die Welt der Lyrik von der Antike bis in die Gegenwart - und zeigt so, was ein gutes Gedicht ausmacht.
Unter dem seltsam klingenden Titel "Das verspielte Papier", es ist ein Zitat des 2005 verstorbenen Lyrikers Thomas Kling, widmet sich die erfolgreiche Dichterin Kerstin Hensel (geb. 1961) dem Thema poetischer Produktion und Rezeption. Als versierte Poetikdozentin an Hochschulen und Universitäten unterwegs, beabsichtigt sie damit weder eine "neuartige Poetik", noch ein Nachschlagewerk der Lyrikgeschichte vorzulegen.
In unterhaltsam-dialogischen und leicht verständlichen Exkursen, die übersichtlich in kleinen Kapiteln strukturiert sind, begibt sie sich in das Labyrinth poetischer Intentionen, das von der Antike bis in die Gegenwart reicht. Was sich als erkenntnisreicher Diskurs über die Kunst des Dichtens entfaltet, soll bei Schülern, Lehrern, Studenten, aber auch Hobbydichtern, das Interesse an der Vielfalt von Vers- und Gedichtformen wecken.
Eine These Hensels lautet: "Gute Gedichte betören und verstören". Was damit gemeint ist, erklärt sie anhand der Magie des Reims, des Metrums, an der mitunter irritierenden Bildhaftigkeit lyrischer Formen oder indem sie über den sinnvollen Einsatz des Zeilensprungs als "metrische Zäsur" nachdenkt. So sind für die Autorin "gute Liebesgedichte" immer auch "Weltgedichte". Francesco Petrarcas Liebes-Sonette gehören ebenso dazu wie Brechts Sonett "Entdeckung an einer jungen Frau", in dem es heißt: "Und laß uns die Gespräche rascher treiben / Denn wir vergaßen ganz, daß du vergehst. / Und es verschlug Begierde mir die Stimme."
Wohlgelaunte Direktheit beim Erkunden
Hensel schulmeistert nicht und ergeht sich nicht in theoretischen Abstraktionen. Sie arbeitet mit vielen Textbeispielen, wodurch ihre Interpretationen nicht nur anschaulich werden, sondern auch zu einem differenzierteren Verständnis scheinbar bekannter und oft zitierter Gedichte – wie etwa Goethes "Heidenröslein" – führen.
Von der Natur- und Liebeslyrik, dem politischen Gedicht über Märchen und Mythen bis hin zur Slampoesie, die sich der Textanalyse geschickt zu entziehen versteht, durchstreift die Autorin ein chiffriertes Terrain. Dabei zeigt sich, dass ein Gedicht politisch, religiös, komisch und gleichzeitig ein Natur- und Mundartgedicht sein kann. Hensel verblüfft mit ihrer wohlgelaunten Direktheit beim Erkunden schwacher wie vollkommener Wortgebilde und weiß, dass ihre Wertungen auch heikel sein können.
Mit ihrem analytischen Zugriff auf das Gedicht, der manchem Liebhaber von Poesie didaktisch erscheinen muss, sowie mit dem Insistieren auf der Notwendigkeit eines handwerklichen Grundwissens verändert Hensel jedoch die Perspektiven auf eine literarische Gattung, die vielen noch immer als schwer zugänglich gilt.

Kerstin Hensel: "Das verspielte Papier. Über starke, schwache und vollkommen misslungene Gedichte"
Luchterhand Literaturverlag, München 2014
239 Seiten, 14,99 Euro