Gedenkstätten

Der Querdenker aus Röcken

Das Geburtshaus und die Taufkirche (l.) des Philosophen Nietzsche in Röcken (Burgenlandkreis), aufgenommen am 13.02.2008.
Das Geburtshaus von Friedrich Nietzsche in Röcken © dpa / Peter Endig
Von Matthias Biskupek · 15.10.2014
In Sachsen-Anhalt, auf halber Strecke zwischen Naumburg und Leipzig, befindet sich das Dörfchen Röcken. Röcken? Nie gehört? Es ist der Geburtsort des streitbaren deutschen Denkers Friedrich Nietzsche. Doch mit diesem kritischen Geist will man vor Ort nicht werben.
Heute vor 170 Jahren, auf den Tag genau, wurde der Philosoph Friedrich Nietzsche als erstes Kind des Landpfarrers Karl Ludwig Nietzsche geboren. Im Pfarrhaus von Röcken, im südlichen Sachsen-Anhalt. Das liegt auf halber Strecke zwischen Naumburg und Leipzig. Hinter dem Haus liegt ein parkähnlicher Garten, der zur philosophischen Einkehr einlädt.
Und genau hier hat Nietzsche eine unbeschwerte Kindheit erlebt. Selbst nannte er die Zeit ein unbekanntes Zauberreich.
"Trautes Dörflein! Wie gedenk ich Dein.
Hätte ich Flügel, ich würde mich über Höhen
Und Thäler schwingen und Dir zueilen."

Friedrich Nietzsche auf der Repro eines undatierten Plakates.
Friedrich Nietzsche auf der Repro eines undatierten Plakates. © picture-alliance / Zentralbild
An der Südseite der romanischen Kirche, der Taufkirche Nietzsches, befindet sich das Grab des Antichristen Nietzsche. Einer der Gründe, warum Röcken eine Pilgerstätte ist. Für Nietzscheaner aus der ganzen Welt. Nur: Damit könnte es bald vorbei sein. Denn bis jetzt war das Pfarrhaus – ein weiß verputztes Fachwerkhaus, welches immer noch der Kirche gehört – der Wohnsitz des ortsansässigen Pfarrers. Doch der im August neu gekommene Seelsorger Armin Pra will lieber im benachbarten Lützen wohnen. Sei bequemer, sagt er.
"Es ist nun mal ein Haus des 19. Jahrhunderts. Je nachdem aus welcher Seite der Regen kommt und der Wind kommt, hat man in unterschiedlichen Zimmern dann die Pfütze stehen."
Weshalb über eine grundlegende Sanierung und neue Nutzung nachgedacht werden muss, sagt Armin Pra. Er kann sich im Pfarrhaus Röcken eine Internationale Nietzsche-Begegnungsstätte vorstellen.
"Es ist eigentlich ein Stück Weltkulturerbe. Und gehört eigentlich auch die Europäische Gemeinschaft mit ins Boot genommen."
Die 60 Mitglieder zählende Kirch-Gemeinde in Röcken ist völlig überfordert.
"Und dann werden wir stärker versuchen, das Land, das geht gar nicht anders, mit in die Verpflichtung zu nehmen. Mal gucken, wo wir noch Kontakte hin kriegen."
Allerdings: In der Landesregierung fühlt sich keiner richtig verantwortlich.
Nietzsche ist kein optimaler Werbeträger
Nietzsche ist eben nicht der glänzende Werbeträger, eher sperrig. Weshalb man im Land der Frühaufsteher einen großen Bogen um den Querdenker Nietzsche mache, vermutet Ralf Eichberg. Direktor des Naumburger Nietzsche-Dokumentationszentrums.
"Nietzsche ist ein Kritiker, ein Kritiker der Moral, des Christentums. Ein Kritiker der allgemeinen bürgerlichen Sittlichkeit und der Werte. Deshalb ist es nicht so ohne weiteres möglich, sich zu ihm, einfach so positiv zu verhalten."
Das Wörtchen von der Provinzialität macht die Runde. Dass mit dem leerstehenden Pfarrhaus in Röcken einer der wenigen authentischen Lebensorte Nietzsches nun verfallen könnte, sei eine bedrohliche Situation, so Nietzsche-Kenner Eichberg weiter. Und erzählt - um die Bedeutung von Röcken ins richtige Licht zu rücken - eine Geschichte mit Gänsehaut-Gefühl.
"Ich habe das erlebt. In diesem Jahr. Leipziger Buchmesse. Pankaj Mishra. Der große englisch-indische Autor bekommt den Buchpreis. Was verlangt er? Er möchte nach Röcken gefahren werden. Und er ist dann ans Grab getreten und wollte ganz alleine zehn Minuten am Nietzsche-Grab stehen. Das ist doch schon eine besondere Situation: Dass jemand nach Sachsen eingeladen wird, und nach Sachsen-Anhalt kommt, weil er Nietzsches Grab besuchen will."
Mehr zum Thema