Gedanken zum RIAS-Jubiläum

Von Günter Müchler · 01.01.2006
Wer es gewohnt ist, kräftig voranzuschreiten, tut gut daran, hin und wieder vergewissernd zurückzuschauen. Da fügt es sich, dass, noch ehe wir ein Jahr "Deutschlandradio Kultur" feiern, der 60. Geburtstag des RIAS im Kalender steht. Am 7. Februar 1946 war der RIAS erstmals zu hören, zunächst noch als DIAS, als "Drahtfunk im amerikanischen Sektor".
Dieser Geburtstag ist eine Feier wert, allein aus familiären Gründen. Programmgeschichtlich ist der RIAS gewissermaßen der Großvater unseres Programms. Er ging 1994 in die Körperschaft Deutschlandradio ein. Aus dem RIAS und dem Ostberliner Programm "Deutschlandsender Kultur", das nach der Wende entstand, wurde "Deutschlandradio Berlin", das wiederum am 7. März des soeben vergangenen Jahres zum nationalen Kulturprogramm aus- und umgebaut wurde.

Glücklich, wer über einen solchen Stammbaum verfügt. "Hier ist RIAS Berlin. Eine freie Stimme der freien Welt." Diese heute recht pathetisch klingende Ansage war damals, kurz nach Kriegsende, eine überzeugende Botschaft. Die Menschen hatten ja noch den fatalen Klang des Goebbelsschen Reichsrundfunks in den Ohren. In der Sowjetischen Besatzungszone wuchs ein neues staatlich gelenktes Meinungsmonopol heran. Da war der RIAS als Manifestation eines freiheitlichen Journalismus eine Verheißung.

Guten Journalismus, fundierte Berichterstattung, Kultur und Unterhaltung auf höchstem Niveau - eine Menge haben wir vom "Rundfunk im amerikanischen Sektor" lernen können. Doch war der RIAS nicht nur eine Schule des Journalismus. Er war ein Stachel im Fleisch des SED-Staates, verhasst bei der roten Obrigkeit und diffamiert von deren Propaganda ganz ähnlich wie der Kölner Deutschlandfunk, der heute unser Schwesterprogramm ist.

RIAS und Deutschlandfunk schlugen Brücken über den ideologisch und militärisch verminten Graben des Kalten Krieges, der die Mitte Europas zerspaltete. Hätten nicht beide Sender allein durch ihre Existenz das Bewusstsein der Zusammengehörigkeit im geteilten Land wach gehalten, die Geschichte wäre wohl anders verlaufen.

Mit einem großen Programmschwerpunkt erweist "Deutschlandradio Kultur" dem RIAS-Erbe seine Reverenz. Rund einhundert Sendungen in 39 Programmtagen ist uns der 60. Geburtstag des RIAS wert.

Am gestrigen Silvesterabend begann die RIAS-Retrospektive mit einem musikalischen Bummel durch die RIAS-Unterhaltungsjahre. Gleich um 16 Uhr heißt es in den "Variationen mit Thema": "In medias RIAS. Die Gründerjahre eines legendären Senders." Am Montag setzt in der "Ortszeit" und im "Radiofeuilleton" ein Zyklus ein, in dem wir die RIAS-Geschichte im O-Ton aufblättern.

So umfassend das Angebot des RIAS war, so breit angelegt muss eine Retrospektive sein, die den Namen verdient. So gut wie alle Sendeplätze unseres Programms nehmen deshalb in den nächsten Wochen auf jeweils besondere Weise an unserem Schwerpunkt teil. Das "Politische Feuilleton" untersucht die politische Bedeutung des RIAS, etwa für das SED-Politbüro. Herausragende Persönlichkeiten des Senders kommen im "Radiofeuilleton" zu Wort. Wiederholt werden preisgekrönte Hörspiele wie die "Farm der Tiere" oder "Das Verhör des Spinoza".

In einer Ursendung bringen wir am 1. Februar den RIAS-Spionagefall der Frau Stein von 1952. Die "Literatur" wartet mit Lesungen aus den Jahren 1953 bis 1968 auf. Der "Kakadu" erinnert an "Onkel Tobias". In den "Zeitreisen" am 25. Januar und am 1. Februar nehmen Sie unter der Überschrift "Mein RIAS" teil an sehr persönlichen Erzählungen, die wir bei Ihnen, unseren Hörerinnen und Hörern, in einer großen Mitmach-Aktion im November eingesammelt haben.

Dann die Musik: Ingrid Caven 1983 im Zoo-Palast, das Ornette Coleman Sextett 1978 im Quartier Latin und Nero Brandenburg mit der RIAS Big Band: Das alles hören Sie, wenn Sie am Mittwochabend "In concert" einschalten. Natürlich darf der unvergessene Hans Rosenthal nicht fehlen, der Maßstäbe der Radio-Unterhaltung setzte. Das Musik-Archiv spendiert große Konzertaufführungen wie den "Don Giovanni", der zur Eröffnung der Deutschen Oper Berlin 1961 aufgeführt wurde. Am Geburtstag selbst, dem 7. Februar, lassen wir den Programmschwerpunkt mit einem großen RIAS-Abend ausklingen.

So feiern die Enkel ihre Altvorderen: Respektvoll und geschichtsbewusst, nicht wehleidig und rückwärtsgewandt. Das Radio ändert sich, so wie sich die Erwartungen ändern, die die Hörerschaft an das Radio richtet. Kenner wissen, dass der beste Wein nicht unbedingt aus alten Schläuchen kommt. Genauso wissen sie, dass es guten Wein auch früher schon gab. So ist unser RIAS-Schwerpunkt ein Rendezvous von alt und neu. Eine weite Wegstrecke liegt zwischen dem "Rundfunk im amerikanischen Sektor" und "Deutschlandradio Kultur". Was beide verbindet, ist das tägliche Bemühen um guten Journalismus, ist die Freude am Radio.


Dr. Günter Müchler, geboren 1946 in Wuppertal, studierte Politikwissenschaften, Neuere Geschichte und Zeitungswissenschaften in München, Promotion zum Dr. phil.
1974 – 1978 Redaktionsleiter der Günzburger Zeitung
1978 – 1980 Redakteur bei der Deutschen Zeitung/Christ und Welt in Bonn (seit 1979 Ressortchef Innenpolitik)
1980 – 1985 Bonner Korrespondent der Augsburger Allgemeinen
1985 – 1987 Leiter der Parlamentsredaktion der Kölnischen Rundschau, Bonn
1987 – 1989 Leiter der Abteilung Aktuelles im Deutschlandfunk, Köln
1989 – 1994 Chefredakteur und Leiter der Hauptabteilung Politik und
Zeitgeschehen im Deutschlandfunk, Köln
seit Mai '94 Programmdirektor Deutschlandfunk im DeutschlandRadio, Köln
und seit Mai '04 Programmdirektor DeutschlandRadio Berlin, das seit März 05 in Deutschlandradio Kultur umbenannt wurde.

Buchveröffentlichungen
CDU/CSU Das schwierige Bündnis (München 1976) und
"Wie ein treuer Spiegel". Die Geschichte der Cotta’schen Allgemeinen Zeitung.
(Darmstadt 1998)