Geburtsort der neuen ukrainischen Literatur

Von Martin Sander · 19.06.2012
Vor rund zwei Jahrzehnten begründete eine Künstlergruppe in der westukrainischen Stadt Iwano-Frankiwsk eine neue literarische Richtung. Grundmotiv der Autoren des "Stanislauer Phänomens", wie sie sich nennen, ist die Vielvölkervergangenheit Galiziens.
Halyna Petrosanyak: "Es gibt also ein Kaffeehaus, es heißt 'Hier spricht Iwano-Frankiws'. Das Café ist vor kurzem entstanden, eigentlich vor einem Jahr."

Halyna Petrosanyak, ukrainische Lyrikerin und Übersetzerin deutschsprachiger Literatur, führt zu einem der Cafés am "Rynok", dem zentralen Platz in Iwano-Frankiwsk.

Das Café ist in einem alten österreichischen Gebäude untergebracht. Die Uhr schlägt vom Turm des Rathauses nebenan. Der expressionistische Bau ist ein Symbol der polnischen Herrschaft zwischen den Weltkriegen. Benannt nach dem Sohn des polnischen Stadtgründers, einem Grafen Potocki, hieß die Stadt zu habsburgischen Zeiten Stanislau, auf Polnisch: Stanisławów.

Halyna Petrosanyak: "Das Interieur ist so gemacht, dass es auf den Tischen Zitate von unseren bekannten hiesigen Schriftstellern gibt, wie Andruchowytsch, Prochasko, Izdryk. Ein Mythos muss sein und muss auch bleiben und das ist auch ein Beitrag zu diesem Mythos."

Halyna Petrosanyak deutet auf Literaturzitate, eingraviert in die Caféhaustische. So huldigt man hier einer Künstlergruppe, die unter dem Namen "Das Stanislauer Phänomen" international bekannt wurde. Halyna Pretrosanyak, Juri Andruchowytsch, Taras Prochasko und ein paar andere haben vor rund zwei Jahrzehnten eine neue Richtung in der ukrainischen Literatur begründet.

Taras Prochasko: "Das war 1990, vielleicht auch 1989. Hier an so einer Umzäunung hing eine Anzeige: Vielleicht möchte jemand für eine unabhängige Literaturzeitschrift Texte liefern. Mein ganzes Leben zuvor wollte ich veröffentlichen, dachte aber, dass es im sowjetischen System nicht möglich wäre."

Heute zählt Taras Prochasko zum Kanon der ukrainischen Gegenwartsliteratur. In seinen Texten entdeckt er die polnischen und habsburgischen Traditionen seiner westukrainischen Heimat Galizien neu. Für alle Autoren des "Stanislauer Phänomens" verkörpert die Vielvölkervergangenheit Galiziens ein Grundmotiv.

Juri Andruchowytsch: "Dass diese Provinz hier eine völlig interessante Sache ist, das war auch der Anfang dieser neuen Erfahrung - was bedeutet es, ein Künstler aus Galizien zu sein, also diese lange Tradition in die frühere Zeit."

Juri Andruchowytsch, der wohl bekannteste Autor aus Iwano-Frankiwsk:

"Wir haben für uns das so entschieden, dass wir nicht nur ein Teil von ukrainischer Kultur sind, sondern auch ein Teil vom europäischen Kulturprozess. Das ist wichtig, Brücken zu finden zu solchen Gestalten, die in der sowjetischen Zeit verschwiegen wurden, sagen wir Bruno Schulz oder Joseph Roth oder Sacher-Masoch und Paul Celan."

Die Entdeckung der multiethnischen Vergangenheit ist noch lange nicht abgeschlossen. Halyna Petrosanyak veröffentlicht gerade ihre neueste Übersetzung ins Ukrainische - "Da geht ein Mensch" von Alexander Granach. Granach gehörte zwischen den Weltkriegen zu den bekanntesten deutschen Schauspielern. Zur Welt kam er 1890 als Kind jüdischer Bauern unweit von Stanislau. In Stanislau arbeitete er bei einem Bäcker.

Halyna Petrosanyak: "Er beschreibt auch seinen Aufenthalt hier in Stanislau, und das ist auch sehr, sehr spannend. Ich habe entschieden, das Buch zu übersetzen, weil ich finde, dass Alexander Granach auch ein ukrainischer Autor ist, obwohl er deutschsprachig ist. Aber er hat Ukrainisch gesprochen, er hat Ukrainisch gesungen. Und es ist wichtig, dass das Buch auf Ukrainisch existieren wird."

Doch die Autoren des "Stanislauer Phänomens" haben nicht nur ein neues europäisches Bewusstsein entdeckt. Es geht ihnen zugleich um die Erneuerung der ukrainischen Sprache. Alle Autoren schreiben Ukrainisch. In den sowjetischen Zeiten war die Russifizierung im westukrainischen Galizien nicht so weit fortgeschritten wie im Osten des Landes.

Taras Prochasko: "Hier konnte man in der ukrainischen Sprache leben. Es war sprachlich nicht so schizophren wie in der Ostukraine. Für unser "Stanislauer Phänomen" war sehr wichtig: Es war total ukrainisch. Wir hatten die Vorstellung, dass das sowjetische System das Ukrainertum unterdrückt und dachten, die ganze Ukraine wollte Ukrainisch sprechen. Doch jetzt stellt sich heraus, dass das kompliziert ist."

Gerade in diesen Tagen versucht Präsident Wiktor Janukowitsch, ein Gesetz durch das Kiewer Parlament zu bringen, mit dem das Russische in weiten Teilen des Landes zur zweiten Amtssprache erhoben werden soll.

Halyna Petrosanyak: "Einerseits gibt es sehr viele russischsprachige Ukrainer und wir haben kein Recht zu sagen, nur Ukrainisch und nicht Russisch. Das ist schon ein Verstoßen gegen die Menschenrechte. Aber andererseits ist das eine große Gefahr für die ukrainische Sprache."


Weitere Reportagen aus unserer Reihe Vielvölkergeschichte und Postkommunismus finden Sie auf unserer Übersichtsseite.
Halyna Petrosanyak, Lyrikerin, Uebersetzerin deutschsprachiger Literatur ins Ukrainische
Halyna Petrosanyak, Lyrikerin, Uebersetzerin deutschsprachiger Literatur ins Ukrainische© Martin Sander