Gebrüder Dardenne

"Wir wollen Menschen zeigen, die realistisch sind"

Die belgischen Brüder Jean-Pierre (l) and Luc Dardenne (r) bei der Vorstellung ihres Films "Zwei Tage, eine Nacht" beim Valladolid International Film Festival in Spanien, aufgenommen am 18.10.2014
Jean-Pierre Dardenne (links) mit seinem Bruder Luc Dardenne beim Filmfestival in Cannes 2014 © picture-alliance / dpa / Nacho Gallego
Moderation: Susanne Burg · 25.10.2014
Eine Gesellschaft ohne Solidarität ist das Thema ihres neuen Films, sagen die Gebrüder Dardenne. Dennoch versucht Sandra, die Hauptfigur in "Zwei Tage, eine Nacht", ihre Arbeitskollegen zu überzeugen: Sie sollen ihr zuliebe auf einen Bonus verzichten.
Susanne Burg: Ein Unternehmer stellt seine Angestellten vor die Wahl: Entweder, alle bekommen einen 1000-Euro-Bonus und Sandra verliert ihren Job, oder alle verzichten auf die 1000 Euro und Sandra behält ihren Job. Es ist der alltägliche Druck des Kapitalismus, den die belgischen Regisseure Jean-Pierre und Luc Dardenne in ihrem neuen Spielfilm "Zwei Tage, eine Nacht" darstellen, die Härte der Verhältnisse, wie sie sie auch in anderen Filmen schon gezeigt haben: in "Der Sohn" oder "Lornas Schweigen". In ihrem neuen Film hat Sandra, gespielt von Marion Cotillard, also zwei Tage, eine Nacht Zeit, um ihre Kollegen zu überzeugen, dass sie auf ihre Prämie verzichten. Die Kamera folgt Sandra, wie sie von Haus zu Haus geht, bittet und bettelt und zwischendurch immer wieder verzweifelt. Die Frage aber, ob jemand überhaupt das Recht hat, Menschen vor eine solche Alternative zu stellen, Geld oder Kollegialität – darauf kommt im Film niemand. Als ich die beiden Brüder zum Gespräch getroffen habe, habe ich sie dann auch als erstes gefragt: Ist es vorbei mit dem Glauben an Solidarität?
Jean-Pierre Dardenne: Ja, das ist genau die Geschichte, die letztendlich erzählt wird. Also es geht darum, um eine Abwesenheit von Solidarität und wie diese junge Frau, wie Sandra versucht, eine Form von Solidarität wieder neu zu erschaffen, wieder neu möglich zu machen. Und dazu braucht sie die Hälfte der Kollegen, die mit ihr solidarisch sein müssen, und nur dann würde diese Solidarität wieder funktionieren, und sie unternimmt diese Anstrengungen nur, weil sie von Anfang an von zwei Kollegen schon mal unterstützt wird und auch von ihrem Mann. Das ist schon mal sehr wichtig, diese Solidarität innerhalb eines Paares, dass die schon mal funktioniert. Und durch diese Erfahrung wird sie zu einer Abenteurerin, die lernt, keine Angst mehr zu haben und die dadurch auch eine ganz andere Frau wird.
Susanne Burg: Sandra, muss man ja auch sagen, ist depressiv, sie war lange krank, und das ist ja die Geschichte einer Depressiven, die lernt, stark zu sein. Sie erzählen die Geschichte aus ihrer Perspektive. Das ist eine relativ schwierige Perspektive, denn es gibt diese Phasen, Sandra lässt sich zwischendurch gehen, will nicht mehr, verkriecht sich, verlangt wirklich sehr, sehr viel Verständnis von ihrem Mann ab. Das ist nicht nur sympathisch. Als Zuschauer denkt man: Jetzt aber, jetzt mach doch mal! Gleichzeitig: Für Sie – wie realistisch sollte das Bild dieser Depressiven sein?
"Sie nimmt ja diesen Kampf mit sich selber auch an"
Jean-Pierre Dardenne: Also uns erschien schon die Art und Weise, wie wir sie porträtiert haben, eine wahrscheinliche Möglichkeit zu sein, wie sich jemand verhalten könnte, der depressiv ist. Und diese Depression führt ja eben auch dazu, dass sie sehr viel empfindlicher ist als zum Beispiel ihre Kollegen – und das wird ja auch ausgenutzt von ihrem Chef, der eben über diesen Vorarbeiter, über diesen Jean-Marc eben diesen Druck ausübt auf die anderen Kollegen und diesen Deal vorschlägt, indem er sagt: Ihr seid besser dran, wenn ihr die Prämie von 1000 Euro nehmt, als eine Kollegin wiederzubekommen, die ja sowieso labil ist und wo ja gar nicht sicher ist, dass die so gut arbeitet wie ihr. Das ist ja sozusagen diese Brutalität des Arguments, die da vorgebracht wird, indem man davon ausgeht: Wenn sie zurückkommt, ist sie nicht mehr so leistungsfähig. Und Sandra ist schon jemand, die muss immer gegen ihre eigenen Tränen ankämpfen, aber eigentlich bis auf eine einzige Ausnahme, wo sie mal zusammenbricht, gelingt es ihr schon, sich da niemals vollkommen fallenzulassen. Also sie nimmt ja diesen Kampf mit sich selber auch an. Und da mag sie natürlich für einen gewissen Moment auch weniger sympathisch erscheinen, aber uns erschien das schon realistisch zu sein, und sie ist ja auch keine Heldin, uns interessiert es ja nicht, eine Heldin zu zeigen, wir wollen ja keine Figuren zeigen, sondern wir wollen Menschen zeigen, die realistisch sind. Und es ist schon sehr, sehr schwer, an Türen zu klopfen und darum zu bitten, mit dir solidarisch zu sein und Leute zu bitten, auf ihre Prämie von 1000 Euro zu verzichten, von denen man weiß, dass sie diese 1000 Euro brauchen. Das ist schon schwer, ganz egal, ob man depressiv ist oder nicht.
Susanne Burg: Und sie macht es ja dann ganz tapfer, sie geht von Tür zu Tür und die Menschen, auf die sie trifft, die reagieren sehr, sehr unterschiedlich. Also einer hat ein schlechtes Gewissen, dass er auch nur darüber nachgedacht hat, das Geld zu nehmen, und sagt sofort, er nimmt die Prämie nicht. Ein anderer hat ein schlechtes Gewissen, will die Prämie trotzdem. Sie betreiben in dem Film gewisserweise Gewissensforschung wie auch in vielen Ihrer anderen Filme. Luc Dardenne, Sie sind Philosoph, haben einen Hintergrund als Philosoph. Was interessiert Sie an diesen Gewissensfragen?
Luc Dardenne: Also uns interessieren diese Fragen natürlich in erster Linie als Kinomacher, und es stimmt: Da ist natürlich ein moralisches Gewissen auch gefragt. Und die Leute haben ja auch gute Gründe, warum sie nicht solidarisch sein können. Der eine muss einen Kredit abbezahlen, der andere möchte die Studien seiner Kinder finanzieren, und keine unserer Figuren in dem Film ist ja wirklich bösartig Sandra gegenüber. Aber Sandra zwingt sie natürlich, dass sie sich alle rechtfertigen müssen. Sie müssen sich entscheiden, ob sie sie unterstützen oder nicht, und nur die Wenigsten können wirklich über diese moralische Frage hinausgehen und sich überwinden, das in einem größeren Kontext zu sehen. Und der entscheidende Faktor ist, dass Sandra ihnen gegenübersteht: Das ist eine Eins-zu-eins-Situation. Und ich bin davon überzeugt, dass, wenn sie die als eine Gruppe getroffen hätte, dass keiner seine Meinung geändert hätte – und das sagt ihr Mann ja auch: Du musst sie einer nach dem anderen aufsuchen. Und das ist ihre einzige Chance, und das ist irgendwo auch schrecklich, dass unserer Gesellschaft eine Solidarität nur noch so möglich ist, wenn sie zu einer moralischen Frage wird. Und für Sandra ist das natürlich gut, weil sie irgendetwas erreicht, aber natürlich arbeitet sie damit, dass sie den Kollegen auch ein schlechtes Gewissen macht, dass sie sich plötzlich für Sandra verantwortlich fühlen. Und so zeigen wir, dass in der Gesellschaft eigentlich wir weit entfernt sind von Solidarität, dass die nur noch möglich ist in so ganz konkreten Konfrontationen. Und das ist das Pessimistische an unserem Film, während er ja sonst durchaus auch optimistische Elemente hat, weil Sandra ja etwas gelingt, aber da bleibt natürlich eine pessimistische Aussage übrig.
"Solidarität als Wert steht auf einer ganz niedrigen Stufe heutzutage"
Jean-Pierre Dardenne: Was noch wichtig ist, vielleicht hinzuzufügen, ist: Solidarität ist ja eigentlich nicht spontan, sondern Solidarität in unseren westlichen Demokratien hat ja was mit Verordnung zu tun, mit Steuern beispielsweise, oder dass man seine Beiträge für die Krankenkasse zahlen muss. Aber Solidarität als Wert steht auf einer ganz niedrigen Stufe heutzutage. Heute geht es immer um die persönliche Selbstbestätigung und auch um die persönliche Realisierung von einem selbst, also man möchte berühmt werden oder dieses Wort "überleben", man muss überleben. Und das klingt so, als würde man in einem Konzentrationslager sein und müsste dort überleben – und ich finde das letztendlich lächerlich, dieses Wort überhaupt zu benutzen, weil an so einem Punkt sind wir ja überhaupt gar nicht. Das ist ja vollkommen übertrieben. Aber dieses persönliche Interesse wird so weit als Wert über den Wert der Solidarität gestellt, dass wir der Meinung waren: Man muss das auch mal wieder umdrehen, dass man vielleicht – und das versuchen wir in unserem Film zu zeigen – zuerst versucht, solidarisch mit den anderen zu sein, bevor man an sein persönliches Interesse denkt.
Susanne Burg: Das, was Sie eben sagen, sind ja sehr, sehr große Themen: Es geht um die Existenz des Menschen im Kapitalismus. So, wie Sie das erzählen, erzählen Sie das aber fast immer nebenbei. Die Geschichte ist ja im Grunde genommen relativ einfach im besten Sinne strukturiert: Eine Frau geht von Haus zu Haus, bittet darum, dass ihre Mitarbeiter auf die Prämie verzichten und dafür stimmen, dass sie bleiben kann. Woher kommt für Sie dieses Streben nach Klarheit und Einfachheit?
Luc/Jean-Pierre Dardenne: Also als erstes erst mal: Wir machen keine Thesenfilme, wir machen keine Filme zu Themen. Also natürlich versuchen wir, eine Geschichte zu erzählen dieser Figuren, aber was uns interessiert, ist wirklich diese eine Frau, diese Sandra, über die wollen wir etwas erzählen. Wir nehmen sie nicht als einen Vorwand, um irgendetwas zu demonstrieren und um dem Publikum diese Demonstrationen sozusagen aufzuzwingen, und wir möchten auch insofern bei einer gewissen Einfachheit bleiben, dass wir nicht versuchen, da zu viel dieser Figur auch noch mit aufzubürden. Sie ist diese Sandra, die Sie gesehen haben. Für die interessieren wir uns 90 Minuten lang, und nur diese eine Sandra interessiert uns, nicht irgendwelche anderen. Und bei dieser Figur versuchen wir, diese 90 Minuten lang zu bleiben, und das ist das, was uns an ihr interessiert, auch, wie sie aussieht, welches T-Shirt sie trägt, mit welchem Mann sie zusammenlebt, dass sie zwei Kinder hat und auch in einem kleinen Haus lebt.
Luc/Jean-Pierre Dardenne: Das versuchen wir auf jeden Fall, zu machen.
Susanne Burg: Sie erzählen die Geschichte von Sandra, aber Sie erzählen ja auch noch ein Milieu drumherum mit: die untere Mittelschicht. Und manchmal musste ich so an Maler denken: Sie brauchen nur wenige Pinselstriche, um irgendwie so ein Ganzes, eine sehr lebendige Szene zu skizzieren, also eine Frau, die erklärt, dass sie gerne Geld geben möchte, aber der Mann will es nicht, der Mann kommt aus dem Haus und schreit sie an. Da wird irgendwie gleich in einer kleinen Vignette die Geschichte einer Ehe mit erzählt. Und meine Frage vorher zielte auch darauf ab – Sie gelten ja als zentrale Regisseure sozialrealistischer Filme –, ob dieses Streben nach Einfachheit, nach Stringenz, nach Klarheit in gewisser Weise auch eine Weiterentwicklung ist dieser Filme.
"Kein opulentes Kino, sondern eher ein minimalistisches Kino"
Luc/Jean-Pierre Dardenne: Es ist ja so, dass wir natürlich auch mit einer gewissen Intuition arbeiten, aber wenn Sie auf unsere früheren Filme abzielen zum Beispiel, wo Sie gemeint haben, die sozialrealistisch waren – das trifft ja eher auf unsere frühen Dokumentarfilme zu. Und da, würde ich sagen, haben unsere Spielfilme heute nicht mehr allzu viel mit zu tun. Aber wenn wir zu zweit arbeiten, wenn wir ein Drehbuch schreiben, wenn wir dann gemeinsam Regie führen, wenn wir vorher die Proben durchgeführt haben – unsere Grundfrage ist immer die: Wie kann man das noch straffen, wie kann man das kondensieren? Was kann man da noch reduzieren, was kann man noch rauswerfen? Und das versuchen wir, auch mit den Dialogen zu machen, das versuchen wir, mit den Figuren zu machen, und so sind wir einfach. Vielleicht ist das auch genetisch. Aber das ist das, was uns am Anfang immer wieder interessiert: die Sachen so einfach wie möglich zu machen. Das ist sicher kein opulentes Kino, sondern eher ein minimalistisches Kino, da haben Sie recht, aber das ist unsere ganze Art und Weise, in Bildern zu denken.
Susanne Burg: In älteren Filmen von Ihnen gibt es selten Erlösung für die Protagonisten, das ist seit zwei Filmen anders, da gibt es Hoffnung. "Zwei Tage, eine Nacht" ist eben auch die Geschichte einer Frau, die am Ende sehr stark ist. Was ist bei Ihnen passiert, dass es nun diese Hoffnung in den Geschichten gibt?
Luc/Jean-Pierre Dardenne: Wir werden älter. Ja, es ist komisch, dass Sie das so sagen, weil wir sind schon der Meinung, dass es auch in unseren früheren Filmen eine gewisse Form der Hoffnung gegeben hat, in "Rosetta", in "La Promesse". Bei "Lorna" vielleicht eher weniger, das war vielleicht schon eine zwiespältigere Aussage. Aber so verzweifelt waren wir doch eigentlich gar nicht. Ich gebe Ihnen aber recht, dass es in diesem Film eindeutiger und auch deutlicher ist, auf jeden Fall. Und am Ende sagt Sandra zu ihrem Mann: Wir haben gut gekämpft, ich bin glücklich. Und das ist wirklich das erste Mal, dass eine unserer Figuren, eine unserer Personen so etwas sagt. Außerdem scheint dann auch noch die Sonne, und das ist klar, dass sie sich verändert hat. Sie ist nicht mehr die gleiche Frau wie am Anfang des Films, als sie noch auf der Couch lag. Da hat sich wirklich was verändert.
Susanne Burg: Vielen Dank!
Luc/Jean-Pierre Dardenne: Danke schön!
Luc/Jean-Pierre Dardenne: Vielen Dank!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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