Geboren in Teheran (4)

Poesie ohne Meeresrauschen

In der Abenddämmerung am Strand von Khao Lak der Provinz Phangnga denkt ein Mann alleine an seinen vor einem Jahr durch den Tsunami umgekommen Angehörigen.
Eines der unveröffentlichten Gedichte: "das schweigen des meeres" © imago / Xinhua
Von SAID · 23.04.2015
Seine Erinnerungen an die Kindheit in Teheran hat der Schriftsteller SAID in Gedichten verarbeitet. Im "Originalton" präsentiert er unveröffentlichtes Material. Heute: Gedichte über Armut, literarische Kunst und die Stille des Meeres.
duell der gedichte
jeden freitag um 17 uhr widmet radio teheran eine stunde der poesie.
vier personen sitzen am mikrophon, der moderator beginnt mit einem gedicht.
der erste muß darauf mit einem gedicht anworten. dieses muß mit dem buchstaben beginnen, mit dem das letzte gedicht
geendet hat. dann kommt der nächste dran.
die teilnehmer sind studenten, lehrer, beamte, handwerker und viele landfahrer.
wenn ein gedicht besonders schön ist, brandet applaus auf.
der saal ist immer ausgebucht. der eintritt ist frei. die zuhörer prügeln sich um die plätze.
das kind liebt die sendung, besonders den schlußakt.
da liest der moderator einen leserbrief vor –
natürlich in gedichtform.
meist kommen sie aus der provinz und beklagen ihre armut –
sonst hätten die briefschreiber an der sendung teilgenommen.
der alte mann ohne sein meer
beide abendzeitungen veröffentlichen sein foto auf der ersten seite.
im gymnasium herrscht unverständnis und trauer.
„la fiesta" hat das kind achtmal gelesen. die morbide atmosphäre von paris wird fortan sein europabild. es ist fasziniert von dem müßiggang der génération perdue, die nichts tut und gerne pernod trinkt – mit wasser gestreckt. das kind identifiziert sich mit der generation und gelobt, pernod zu probieren, sobald es in europa ist.
„in einem anderen land" hat das kind verschlungen. es hat den amerikanischen leutnant geliebt samt seiner melancholie und seiner lebensfreude. nach einer knieoperation liegt er in mailand in einem militärlazarett, schaut in die dämmerung hinaus, trachtet über sein leben und wartet auf seine geliebte.
und nun hat ernest hemingway selbstmord begangen.
„das schweigen des meeres"
der sommer ist lang, vaters siesta tief und seine truhe unergründlich.
das buch ist älter als das kind.
im besetzten frankreich quartiert sich ein deutscher offizier in ein haus ein; hier lebt der onkel mit seiner nichte. stumm vereinbaren sie, mit dem feind nicht zu sprechen. einen winter lang.
jeden abend kommt der offizier herunter und spricht mit seinen gastgebern. ohne je eine antwort zu erhalten oder zu erwarten.
nun liest das kind das nachwort.
der autor heißt vercors. der übersetzer betont, es handle sich um einen pseudonym.
vercors, ein aktives mitglied der resistence, gründet heimlich einen verlag, um diese novelle zu veröfentlichen. der verlag heißt: editions de minuit.
1942 erscheint das buch illegal in paris, 1944 legal in teheran.
das kind liest das buch noch einmal und beschließt, das buch mitzunehmen, wann immer es dieses land verläßt.

"Originalton" heißt ein täglicher Bestandteil unserer Sendung "Lesart". Darin bitten wir Schriftsteller jeweils für eine Woche um einen kurzen Text, in dem sie kleine Formen erproben und mit den Möglichkeiten des Radios spielen.
In dieser Woche begleitet uns SAID im Originalton – mit bislang unveröffentlichten Texten, die zusammen unter dem Titel "Das vibrierende Kind" eine Art poetischer Autobiografie ergeben. Heute zwei Stücke, "Initiation 1", Momente, die man nicht vergisst.
Der Schriftsteller SAID wurde 1947 in Teheran geboren, mit 17 kam er in die Bundesrepublik und ist heute ein hochangesehener, vielfach preisgekrönter deutscher Dichter. Schon seine ersten Gedichte schrieb er auf deutsch, inzwischen sind zahlreiche Lyrik- und Essay-Bände erschienen, SAID war auch Präsident des Deutschen PEN und aktiv im Writers in Prison Committee.

Der Schriftsteller Said 2001 in Köln.
© picture alliance / dpa / Horst Galuschka
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