Geben und nehmen

Jede Gesellschaft braucht ein bisschen Korruption

Korruption ist in der EU in vielen Formen verbreitet.
Korruption lässt sich nie völlig abstellen - und das ist auch gut so, sagt der Historiker Jens Ivo Engels. © dpa / picture-alliance / Josef Horazny
Moderation: Ulrike Timm · 12.06.2014
Der Historiker Jens Ivo Engels hat die Geschichte der Korruption in den letzten 400 Jahre erforscht. Seine These: Man sollte nicht jede Kleinigkeit skandalisieren - denn ganz ohne Korruption kann eine eine Gesellschaft nicht funktionieren.
Ulrike Timm: Eine Hand wäscht die andere. Bei Großprojekten, im politischen Geschäft und bei der Vergabe von Fußball-WMs geht es oftmals nicht ab ohne Geld, Vetternwirtschaft und Ämterkauf. Und dafür, dass die Korruption immer ganz dringlich abgeschafft werden soll, hat sie eine stolze Geschichte: Im Absolutismus war sie ein gängiges Mittel der Politik, preußische Beamte haben oft bis in die Kaiserzeit nur zwei Drittel ihres Einkommens als Gehalt erhalten, das letzte Drittel mussten sie sich besorgen – und niemand fand das so richtig ungewöhnlich.
In Entwicklungsländern versickert viel Geld, wenn eine kleine Oberschicht zugreift, und in vielen Ländern kriegt man einen Job, einen Termin oder eine Baugenehmigung wesentlich eher, wenn man vorher was rüberschiebt. Der Historiker Jens Ivo Engels forscht über das weite Feld der Korruption. Er lehrt an der Uni Darmstadt, ist jetzt am Telefon und kriegt rein gar nichts dafür. Schönen guten Tag!
Jens Ivo Engels: Guten Tag, Frau Timm!
Timm: Herr Engels, wenn man die Geschichte der Korruption erforscht, wo fängt man da eigentlich an? Gab's Korruption nicht schon immer?
Engels: Theoretisch könnte man in der Tat ganz früh anfangen, schon in der Antike. Schon die alten Römer haben über Bestechung debattiert, und beispielsweise Cicero hat sich gegen die Korruption bestimmter seiner Kollegen gewandt. Aber wenn man sich die Vorgeschichte unserer heutigen Vorstellung von Korruption anschaut, dann muss man nicht ganz so weit zurückgehen, sondern man geht in die frühe Neuzeit, in das 18. Jahrhundert, weil zu diesem Zeitpunkt ein neues Verständnis entstanden ist, das sehr eng mit unserer heutigen Staatlichkeit verbunden ist.
Timm: Was heißt denn neue Korruption?
Engels: Neues Verständnis von Korruption heißt, dass wir heute Korruption ja ansehen als den Missbrauch eines öffentlichen Amtes zum privaten Nutzen. Und das setzt voraus, dass es einen Unterschied gibt zwischen dem Privaten und dem Öffentlichen. Also es muss eine Vorstellung davon geben, dass sich das Private von dem Öffentlichen, von dem Staatlichen trennen muss.
Timm: Da brauche ich dringend ein Beispiel dafür, damit ich das verstehe.
Wenn Korruptionskritik totalitäre Züge bekommt
Engels: Sie hatten gerade schon die preußischen Beamten genannt. In der frühen Neuzeit war es so, dass die öffentlichen Ämter im Grunde wie ein privater Betrieb geführt wurden. Das heißt, man hatte zwar von dem Fürsten eine Aufgabe im öffentlichen Auftrag gewissermaßen zu erfüllen, aber die Finanzierung, die Einnahmen wurden sozusagen privat erhoben. Man hat Geschenke erbeten von den Untertanen oder hat auf andere Weise zum Teil sie auch richtig ausgepresst. Das war allerdings normal, weil es diese klare Unterscheidung zwischen dem eigenen privaten persönlichen und dem öffentlichen, dem allgemeinen Interesse so noch nicht gegeben hat.
Und das ändert sich dann in der Zeit der Französischen Revolution beispielsweise in Frankreich, aber dann auch später in Deutschland, und man beginnt sehr klar zu trennen zwischen der öffentlichen Aufgabe, die ein Beamter hat, und seinem Privatleben. Deswegen gibt es seit dieser Zeit ein Beamtengehalt und auch eine Pensionsversorgung, um den Beamten dazu anzuhalten, dass er sein Einkommen nicht bei den Leuten sucht, bei den Leuten abpresst, für die er eigentlich tätig sein soll.
Timm: Nun sind Sie für ein Buch, das demnächst herauskommt, durch 400 Jahre, ich sag mal, Unkulturgeschichte der Korruption spaziert in Siebenmeilenstiefeln – gab es eigentlich oder gibt es besonders korrupte Zeiten und weniger korrupte?
Engels: Es gibt Zeiten, in denen sehr intensiv über Korruption diskutiert worden ist. Dazu gehört etwa die französische Revolutionszeit. Die französischen Revolutionäre haben dem alten Staat, vor allem ihrem alten König und seinem Hof vorgeworfen, bis auf die Knochen korrupt zu sein und haben das eben dann auch geschildert, haben bestimmte Skandale aufgedeckt und mit diesem Argument das alte Regime tatsächlich zum Wanken gebracht. Allerdings hörte das dann nicht auf, 1789, mit dem Ende der alten Monarchie, sondern man hat weiter nach Anzeichen für Korruption gesucht. Und das führte letzten Endes sogar bis zur Schreckensherrschaft der Jakobiner, weil sie überall in der Gesellschaft, vor allen Dingen bei den Leuten, die ihre eigene Politik nicht geteilt haben, Korruption und das Geld des Auslandes gewittert haben. Und mit dieser Annahme, dass überall Korruption herrscht, hat man dann am Ende auch begründet, warum so viele Leute unter der Guillotine sterben mussten. Also der Korruptionsvorwurf hat immer so eine Doppelqualität. Man kann damit Modernisierung, Reformen recht gut begründen, legitimieren, aber es steckt auch immer so ein leichter sozusagen totalitärer Zug darin.
Timm: Haben Sie denn überhaupt bei Ihrer Recherche so richtig edle Zeiten gefunden, die gar nicht korrupt waren?
Engels: Na ja, ich habe Zeiten gefunden oder Länder, in denen zu bestimmten Zeiten kaum über Korruption diskutiert worden ist, was aber nicht heißt, dass die Handlungen, die man normalerweise als Korruption bezeichnet, nicht vorgelegen hätten. Also interessant ist wieder das Beispiel Preußen. Im späten 19. Jahrhundert hat man in Preußen kaum über Korruption diskutiert, und die Menschen waren auch fest davon überzeugt, dass es in ihrem Land keine Korruption gebe, während überall drumherum – in Frankreich, in Italien, auch in England – Korruptionsskandale sich entwickelten.
Timm: Also alle wissen, aber niemand will es wissen. Will man denn Korruption schon genauso lange verhindern, wie sie blüht?
Bestechung, Patronage, Klientelismus
Engels: Korruption ist immer ein Negativbegriff, ist immer Kritik an bestimmten Handlungen, und deswegen impliziert dieser Begriff immer schon auch den Kampf gegen Korruption. Wer Korruption sagt, der sagt, ich missbillige das und ich möchte das auch bekämpfen. Nun ist die Frage, wie man das praktisch macht. Es gibt immer wieder Phasen, wo es konkrete Reformbewegungen gibt, die konkrete Vorschläge machen, um gegen Korruption vorzugehen, und es gibt andere Phasen, in denen eher lamentiert wird, um das mal so auszudrücken.
Also, ich gehe wieder zurück zur Zeit der Französischen Revolution, da gibt es eben ganz klare Reformvorschläge, die darauf zielen, den Staat zu modernisieren, eben eine moderne Beamtenschaft einzuführen. Dort haben wir tatsächlich Reformanstrengungen, die auf diese Korruptionsklagen folgen. Anders sieht es aus so um 1900, wo wir häufig in Europa Korruptionsskandale sehen, die Kritik an diesen Skandalen zielt aber meistens darauf, einfach nur die politische Elite zu diskreditieren.
Timm: Jens Ivo Engels hat die Geschichte der Korruption erforscht durch 400 Jahre, und wir grinsten gestern ein wenig in der Redaktion, als wir versuchten, dieses Thema mal einzugrenzen. Das geht doch schon ganz früh los, wenn zum Beispiel in der Bibel die Schlange Eva zum Apfel lotst oder wenn Judas Christus verkauft um 30 Silberlinge. Sind Bestechungen und Bestechlichkeit vielleicht schlicht und einfach menschlich?
Engels: Man muss auf jeden Fall sagen, dass Formen des Gabentausches, der Bestechung, der Patronage, des Klientelismus, dass diese Formen sicherlich in allen Gesellschaften vorhanden sind und auch bis heute in unseren Gesellschaften, nicht nur in Afrika und Afghanistan, die Politik einfach strukturieren. Ich kann es mir schwer vorstellen, dass man Politik, auch moderne Politik ohne Klientelismus, ohne Netzwerke führen kann.
Timm: So betrachtet schadet Korruption eigentlich immer oder hat eine Gesellschaft womöglich auch was davon?
Engels: Ich denke, eine Gesellschaft kann gar nicht funktionieren ohne ein bestimmtes Maß an Netzwerken und an Gabentausch. Die Frage ist immer die des Maßes – wie weit es geht, wie viel Ressourcen durch Korruption oder durch solche Machenschaften im Grunde versickern. Und hier muss man sich sicherlich weiterhin bemühen, dieses Maß zu senken, aber es ist nicht realistisch, zu glauben, dass man das völlig abstellen kann.
Timm: Aber dann hätte ich gerne mal ein Beispiel dafür, wann Korruption genützt hat – gibt es so was? Wir greifen doch Korruption immer an und haben das Gefühl, wir sind im Recht.
Engels: Na ja, ich würde noch mal auf diese Netzwerke zurückkommen. Ich denke, dass auch unsere Politik heute, die aktuelle Politik, ohne Netzwerke, ohne Personenvertrauen zwischen einzelnen Personen nicht wirklich funktioniert, weil es sonst einfach zu komplex und zu groß wird. Und dass dabei hin und wieder auch Einzelne vielleicht ungerechtfertigterweise bevorzugt werden, das muss man dann, glaube ich, auch in Kauf nehmen. Aber das Ausmaß ist natürlich die Frage. In den Debatten über die FIFA geht es ja um sehr große Millionenbeträge, und da wird man sich, glaube ich, sehr schnell drauf einigen können, dass diese Beträge dann doch wieder zu groß sind, als dass man sagen könnte, es sei sozusagen positiv für die Entwicklung.
Timm: Da ist der Gabentausch dann ein bisschen zu groß ausgefallen. Heute wird ja Korruption auch schneller öffentlich als früher, und sie wird schneller zum Skandal, auch durch die Medien, vielleicht wird sie aber auch schneller skandalisiert. Ist es manchmal nicht eben auch kontraproduktiv, wenn Beamte sich bei jedem Bleistift fragen müssen, ob sie ihn annehmen dürfen, oder wenn beim früheren Bundespräsidenten Christian Wulff manches auch bis zur Peinlichkeit diskutiert wurde, etwa ob er sich ein Spielzeug für seine Kinder schenken lassen darf?
Engels: Ja, absolut. Ich sehe hier durchaus eine Gefahr für den Zusammenhalt unseres Gemeinwesens. Wenn man mit solchen Kleinigkeiten beginnt, Skandalisierungskampagnen anzustoßen, dann läuft man natürlich Gefahr, überall in unserem öffentlichen Gemeinwesen Korruption und Verbrechen zu wittern. Und das Ergebnis kann eigentlich nur sein, dass unsere gesamte politische Elite, unser gesamtes politisches System in ein schiefes Licht gerät und in Misskredit gerät.
Das ist durchaus nicht ganz ungefährlich, denn eine ähnliche Tendenz gab es schon einmal im frühen 20. Jahrhundert, als die vielen, vielen parlamentarischen Systeme in Europa durch solche Korruptionsskandale mit ganz ähnlichen Themen erschüttert wurden. Und das Ergebnis war dann, dass in vielen Ländern Europas Diktatoren und autoritäre Regime sich durchgesetzt haben.
Timm: Dank an Jens Ivo Engels fürs Gespräch, das natürlich auch ganz automatisch ein klein wenig Werbung für sein Buch bedeutet, "Die Geschichte der Korruption", aber das Erscheinungsdatum ist noch ein bisschen hin, das Buch zum Thema gibt's erst im September. Schönen Dank und schönen Tag!
Engels: Wiederhören!
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