Gaza-Konflikt

Aus dem "Teufelskreis" ausbrechen

Ein bewaffneter israelischer Soldat steht neben brennenden Reifen während Auseinandersetzungen mit Palästinensern nahe einer jüdischen Siedlung bei Ramallah.
Bereits mehr als 1000 Tote: der jüngste Gaza-Krieg offenbart ein neues Ausmaß der Gewalt © afp / Abbas Momani
Anita Haviv im Gespräch mit Dieter Kassel · 29.07.2014
Bomben auf Gaza, Raketenalarm in Tel Aviv - der Gaza-Konflikt eskaliert immer weiter. Die israelische Bildungsexpertin Anita Haviv will ihren Optimismus dennoch nicht aufgeben. Vielleicht wache angesichts des neuen Ausmaßes der Gewalt die israelische Bevölkerung jetzt endlich auf, meint sie.
Dieter Kassel: Die israelische Armee hat in der vergangenen Nacht ihre Angriffe auf den Gazastreifen mit unvermittelter Härte fortgesetzt: zu Land, zu Wasser und in der Luft, trotz des einstimmigen Aufrufs des UN-Sicherheitsrates zu einer Waffenruhe. Das liegt auch daran - das hören wir immer wieder -, dass die Regierung in diesem Fall die Bevölkerung mehrheitlich hinter sich hat. Aber was bedeutet das eigentlich für die Menschen, die nicht hinter diesen Angriffen stehen? Die seien, so schreiben es deutsche Zeitungen immer wieder, regelrecht isoliert in Israel. Wir wollen das genauer wissen jetzt von der Publizistin und Bildungsexpertin Anita Haviv. Sie lebt seit 1979 in Israel, ist 1960 in Wien geboren worden und ist unter anderem Gründerin des "Israel Encounter Programs", mit dem sie Begegnungen zwischen Deutschen und Israelis organisiert. Schönen guten Tag, Frau Haviv, guten Morgen!
Anita Haviv: Guten Morgen!
Kassel: Ich hab das gerade zitiert, was in deutschen Zeitungen zu lesen war. Wie geht es Ihnen? Fühlen Sie sich in der israelischen Gesellschaft mit Ihrer Einstellung inzwischen isoliert?
Haviv: Ich fühle mich definitiv in einer Minderheit. Ich bin nicht die Einzige, die andere Meinungen hat, und es ist ja nicht so, als ob ich sozusagen alles, was die israelische Regierung macht, kritisch sehe, weil wir momentan an einem Punkt angelangt sind. Die Frage ist, warum sind wir an diesem Punkt angelangt? Die Frage muss man sich stellen. Aber momentan sehe ich auch keine Möglichkeit, diese Tunnels nicht zu zerstören.
"Plötzlich israelfreundlicher": eine Allianz von moderaten arabischen Ländern
Kassel: Sie haben natürlich – ich habe erwähnt, seit 1979 leben Sie in Israel –, Sie haben viele bewaffnete gewalttätige Auseinandersetzungen zwischen Israel und der Hamas erlebt. Ist diesmal etwas grundsätzlich anders?
Haviv: Das Ausmaß der Gewalt, die Tatsache, dass Hamas sozusagen ... es gibt ein Gaza von oben und ein Gaza von unten, und das ist natürlich eine sehr, sehr starke Bedrohung. Hamas hat geplant, zu Rosh ha-Shana Kibbuzim zu infiltrieren und Zivilisten dort, Kindergärten und so weiter als Geisel zu nehmen, das ist schon sozusagen eine andere Qualität. Für mich stellt sich die Frage, wie kommt man aus diesem Teufelskreis heraus. Und David Grossmann, der bekannte linke Autor, hat einen sehr schönen Artikel in der "New York Times" veröffentlicht, indem er genau sozusagen sagt, dass der Konflikt eigentlich selbst schon zu einer Blase geworden ist. Wir sprechen immer von der linken Blase in Tel Aviv, also die Liberalen, die links Denkenden, und letztendlich hat er vollkommen recht: Der Konflikt selbst ist zu einer Blase geworden, indem jeder sozusagen seine Rolle spielt und jeder konform ist gemäß seiner Rolle, und genau aus diesem Teufelskreis müssen wir versuchen rauszukommen.
Und vielleicht, vielleicht durch die andere Qualität dieses Konfliktes jetzt, vielleicht wird sich etwas tun, denn es passieren schon gewisse Dinge. Man sieht eine Allianz von moderaten arabischen Ländern, die sozusagen plötzlich israelfreundlicher sein, als wir es gewohnt sind, und vielleicht wachen auch viel mehr Israelis auf als bis jetzt. Wir Israelis haben in den letzten Jahren außer den Israelis, die im Süden leben, die unter konstantem Beschuss gestanden sind, haben ein relativ ruhiges Leben. Und dann wird man eskapistisch und man lebt sein Leben und man geht zum Strand und ich weiß nicht, man macht Shopping und man arbeitet und so weiter und so fort und tut so, als ob man nicht auf einem Fass sitzen würde, das jederzeit detonieren kann. Und ich denke, jetzt ist es uns ins Gesicht explodiert, und vielleicht wachen auch andere Israelis davon auf.
Während eines Raketenangriffs läuft ein Junge im Strand.
Tel Aviv: Während eines Raketenangriffs verlassen Israelis und Touristen den Strand. © GALI TIBBON / AFP
Kassel: Aber wenn die Israelis davon aufwachen würden, so wie Sie es beschreiben, was könnten sie denn tun? Jetzt reden wir nicht nur von der Schwierigkeit, die ich da allein so sehe, die eigene Regierung davon zu überzeugen, mit einer anderen Strategie vorzugehen, aber selbst wenn, was könnte denn überhaupt eine andere Strategie sein, die wirklich funktioniert und die auch von der Bevölkerung getragen wird?
Haviv: Schauen Sie, meiner Ansicht nach hätte man – und das sage ich nicht jetzt erst – da hätte man die palästinensische Autorität letztendlich seit dem Ableben von Jassir Arafat als Partner ernsthaft in Betracht ziehen sollen, nicht Verhandlungen zu führen, damit sie scheitern. Man hätte die gemäßigten Palästinenser stärken sollen, man hätte ihnen die Aussicht auf ein gutes Leben geben können, wobei man sagen muss, dass sie in Ramallah sozusagen sich wahnsinnig entwickelt hat – es gibt Gebiete in der palästinensischen Autorität, die sich sehr gut entwickelt haben –, aber ihnen auch das Gefühl der Freiheit, der eigenen Entscheidungsfreiheit, ihnen ihren Staat zu geben. Und das ist meine Forderung an meine Regierung.
Manche sehen mich "als naive Pazifistin"
Kassel: Aber wenn Sie diese Forderung äußern in ihrem privaten Umfeld – ich weiß nicht, bei welcher Gelegenheit Sie überhaupt darüber reden können –, wenn Sie Ihre Lebensmittel kaufen, wenn Sie abends im Café sitzen, gibt es noch Menschen, die da nicht ganz hart reagieren, wie ich das immer wieder höre auch von in Deutschland lebenden, tendenziell liberalen Israelis, die sagen, diese Chance ist auf Jahre vertan, wir müssen jetzt, Zitat, „die Hamas ausräuchern", höre ich von relativ friedlichen Menschen hier in Berlin, wir müssen jetzt kämpfen, so lange, bis wir gewonnen haben, aus Sicht der Israelis. Meinungen wie die Ihre, können Sie die überhaupt noch vermitteln im Alltag?
Haviv: Erstens einmal, ich weiß nicht, was gewinnen heißt. Ich habe keine Alternative in diesem Fall, in diesem konkreten Fall dazu, aber ich weigere mich, die Dinge sozusagen so punktuell zu sehen. Ich hab mehrere Umfelder. Ich hab ein Umfeld, das sozusagen genauso denkt wie ich, und das ist nicht so klein. Ich hab natürlich auch ein Umfeld, einschließlich eines Teils meiner eigenen Familie und meiner israelischen Freunde, die ganz anders denken als ich, die mich als naive Pazifistin sehen und die mich entweder sozusagen mit einem ironischen Lächeln abtun oder manchmal eben auch hart reagieren. Dann komm ich auch wieder in die Defensive, aber ich kenne diese sehr harten Diskussionen.
Ich kann Ihnen eine Situation erzählen, wo es sehr schwierig ist: Gestern – weil wir versuchen halt, unseren Alltag weiter zu gestalten – war ich beim Sport und ich hab eine alte Bekannte getroffen, deren Sohn jetzt gerade im Gazastreifen ist, und sie versucht trotzdem, eben weiter den Alltag zu leben wie immer. Und ich meine, sie hat total verhärmt ausgesehen. Und ich hab begonnen, ihr sozusagen meine Meinung über die israelische Politik zu sagen, und sie hat kein Wort gesagt, und ich weiß, dass sie normalerweise auch linksliberale Meinungen hat.
Kassel: Darf ich eine Nachfrage stellen: Ihr Sohn, also der Sohn dieser Frau, ist als Soldat im Gazastreifen?
Haviv: Ja, ja, Soldat in Gaza. Ich hab mehrere Freunde, deren Sohn im Gazastreifen ist. Und sie hat einfach nur total traurig und verzweifelt geschaut. Und ich hab mir dann gedacht, wozu musste ich das jetzt sagen, warum konnte ich meinen Mund nicht halten. Aber ich kann ihn halt eben nicht halten, weil ich in mir das Bedürfnis habe, die Menschen aufzurütteln. Und viele Israelis glauben eben, dass ich sozusagen nicht alle Tassen im Schrank hab.
Der palästinensischen Zivilbevölkerung neue Hoffnung geben
Kassel: Der Publizist Tom Segev, Historiker, mit dem ich geredet hab noch relativ am Anfang dieses aktuellen Konflikts, der hat damals schon gesagt, am Ende unseres Gesprächs, er sieht über Jahrzehnte keine Chance mehr für einen Frieden zwischen Israel und Palästinensern. Sind Sie optimistischer?
Haviv: Ich weiß nicht, ob Frieden – wie definiert man Frieden? Ich kann mir vorstellen, dass es gewisse Dinge eben, was ich vorher gesagt hab, dass sich durch neue Allianzen, dass man gerade hier versuchen wird, diese ganz radikalen Kräfte zumindest zu neutralisieren – Hamas wird nicht weg sein, ja. Aber wenn Hamas militärisch geschwächt ist und man versucht, der Zivilbevölkerung neue Optionen zu geben, Hoffnung zu geben, vielleicht, ich weiß es nicht. Wir Israelis sind natürlich auch immer von Berufs wegen Pessimisten, das gehört natürlich auch zur jüdischen Lebenserfahrung. Aber ich weigere mich sozusagen, meinen Optimismus aufzugeben. Und ich hab eine sehr gute Analyse auch gehört des früheren Chefs des Nachrichtendienstes in Israel, der eben das auch gesagt hat, dass sich die Dinge positiver gestalten können, als man es jetzt sieht. Es kann auch ganz anders kommen, ja, wie immer, wenn man eine Prognose macht – das ist immer sehr gefährlich, hier im Nahen Osten eine neue Prognose zu machen –, aber ich schließe diese Möglichkeit nicht aus.
Kassel: Frau Haviv, danke fürs Gespräch!
Haviv: Sehr gerne!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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