Gauck muss "Gegensatz zwischen Freiheit und Gerechtigkeit" auflösen

Moderation: Peter Lange · 17.03.2012
Der frühere SPD-Spitzenpolitiker Egon Bahr hat Joachim Gauck aufgefordert, seinen Begriff von Freiheit weiter zu fassen als bisher. Außerdem plädiert er dafür, die ehemals von Gauck geleitete Stasi-Unterlagenbehörde nach 2019 zu schließen und die Akten dem Bundesarchiv zu übergeben.
Deutschlandradio Kultur: Herr Bahr, Ihr 90. Geburtstag morgen fällt zusammen mit der Wahl eines Bundespräsidenten. Rechnen Sie jetzt mit mehr Gratulanten, wo doch schon alle in Berlin sind?

Egon Bahr: Nee, also, ich bin gar nicht da morgen, sondern ich begebe mich drei Tage unerreichbar in die schöne Umgebung unserer Stadt.

Deutschlandradio Kultur: Joachim Gauck, der designierte Bundespräsident hat ja ein öffentliches Profil als Apostel von Freiheit und Demokratie entwickelt. Was erwarten Sie von seiner ersten Rede? Was muss denn da drin sein?

Egon Bahr: Ach, das werde ich doch nicht jetzt prognostizieren. Ich werde das mit Interesse hören. Ich gehe davon aus, dass er die Äußerungen, die ihn in einen Gegensatz zwischen Freiheit und Gerechtigkeit gebracht haben, ausgleichen wird. Das muss er auch. Und ich denke, das wird er auch. Und im Übrigen, ich bin ihm nie begegnet, aber ich kann bisher nicht vergessen, dass er mit dazu beigetragen hat zu einer unseligen Kampagne gegen meinen Freund Manfred Stolpe.

Manfred Stolpe ist nun ein Mann, den ich seit langem kenne. Ich habe ihn in Bonn kennengelernt. Der ist der Grund gewesen für eine der ganz seltenen gemeinsamen Erklärungen von Brandt und Schmidt, weil wir nämlich festgestellt haben, die Informationen, die er brachte, waren korrekt. Die Informationen, die er nach Hause mitnehmen sollte, um sie dort zu berichten, wo sie ankommen sollten, nämlich bei den Oberen in der DDR, sind sicher auch korrekt gewesen. Wir haben ihn gebeten darum. Und er hat sich Verdienste erworben um das Land, um die Kontakte zwischen den Ländern, den beiden Staaten, und hat vielen Menschen geholfen.

Deutschlandradio Kultur: Das, was Sie jetzt beschreiben, läuft ja unter dem Stichwort Entspannungspolitik damals. Nehmen Sie Joachim Gauck übel, dass er die Entspannungspolitik damit ein bisschen in Misskredit gebracht hat?

Egon Bahr: Na ja, jedenfalls hat er nicht dazu beigetragen, dass diese unselige Kampagne eingestellt wurde.

Deutschlandradio Kultur: Also, wenn er über die Entspannungspolitik redet, dann ist ja auch schon mal von Appeasment die Rede, was ja auch eine Abwertung bedeutet. Die Phase zwischen 66 und 72, in der Sie politisch mit Verantwortung getragen haben für diese Entspannungspolitik, die ist ja von heute aus betrachtet eigentlich unstrittig. Würden Sie denn der späteren Phase der Entspannungspolitik zubilligen, dass das da vielleicht schiefgelaufen ist? Ich denke an die Milliardenkredite, an den Besuch Honeckers in Bonn. War das noch nötig? Verstehen Sie da die Kritik von Gauck?

Egon Bahr: Wenn es da eine Kritik von Gauck gegeben hat an dieser Phase, würde ich sie nicht verstehen können. Denn selbstverständlich, es war doch klar, also, ich hätte doch lieber mit Bärbel Bohley verhandelt als mit Honecker. Es wäre leichter gewesen. Bloß, die konnte keine Vereinbarungen zusagen. Sie konnte keine Vereinbarungen und Verträge schließen. Also, es war ja gar nicht anders möglich, als über die Köpfe der DDR hinweg, über die Köpfe Polens hinweg mit denen zu verhandeln, die entscheiden konnten. Das waren die Leute in Moskau und später die Leute in Ostberlin. Anders ging es doch gar nicht.

Deutschlandradio Kultur: Es gibt einen zweiten Dissenspunkt. Das sind die Stasiakten. Gauck hat diese Akten als erster sozusagen verwaltet und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Sie haben vor kurzem erst gesagt, eigentlich sollten die ins Bundesarchiv, was die frühere DDR-Opposition befürchten lässt, dann sind sie weg, verschlossen. Und Roland Jahn sieht es anders. Manfred Krug meinte neulich, die sollen sich ruhig noch ein bisschen fürchten vor dem, was da rauskommen kann.

Egon Bahr: Also, das Wichtigste ist zunächst mal: Ich bin dafür, dass jeder, der will, seine Akten einsehen kann, auch über 2019 hinweg. Und ich habe wirklich begrüßt die Erklärung von Gauck, dass man nicht Leute, die 20 Jahre in der Demokratie gedient haben, jetzt mit dem Signum "IM" versehen kann. Das möchte ich ausdrücklich hervorheben. Aber die Behörde selbst muss doch irgendwann mal zu Ende sein. Und bisher tut ja Jahn so, als würde die Behörde weiterarbeiten können, obwohl sie die Aufarbeitung gar nicht schaffen kann. Ich kann doch nicht etwas aufarbeiten, wo der Nachfolger von Markus Wolf dem neuen Minister gesagt hat, Innenminister in der Regierung de Maizière, ein Drittel der Akten sind vernichtet, natürlich diejenigen, die für das System am besten und wichtigsten waren. Aber wenn das nicht mehr herstellbar ist, dann ist doch Gerechtigkeit nicht möglich. Denn das wäre ja eine zufällige Gerechtigkeit, wer nicht vernichtet worden ist als Akte.

Außerdem ist natürlich gar nicht zu bestreiten, dass Aufarbeitung eigentlich erst möglich ist, wenn die ganzen Akten aus dem Westen geöffnet werden. Das ist auch nicht denkbar - bisher jedenfalls. Also komme ich zu dem Ergebnis.

Na, ich will noch eine Erinnerung anfügen: Ich war dabei, als Kohl vor der Enquetekommission des Deutschen Bundestags erklärt hat: "Wenn man mich gefragt hätte, hätte ich gewusst, was ich empfehle."

Deutschlandradio Kultur: Die Akten weg.

Egon Bahr: Er ist nicht gefragt worden. Er hat nur später zugegeben, er hätte sie verbrannt. Und das wäre auch ein bisschen mehr gewesen, als ich mir wünsche - als ordentlicher Mensch. Aber wir haben doch in Bonn gedacht, na gut, wenn diese Ossis unbedingt wollen, dass man alles versucht aufzuarbeiten bis in die tiefsten Gründe, das interessiert uns doch nicht. Es betrifft uns doch gar nicht. Ich hätte auch gewünscht zu wissen, wie viel Trojanische Pferdchen Markus Wolf in Westdeutschland hat laufen lassen. Das werde ich nun nicht mehr erfahren. Aber jedenfalls ist klar, Kohl hat nach der deutschen Einheit verkündet, das nun wichtigste Ziel ist die Versöhnung, die innere Einheit. Die ist nur durch Versöhnung zu kriegen; verlangt von denen, die am meisten gelitten haben unter dem Regime, noch mal am meisten. Aber: Anders kann man nicht die innere Einheit bekommen.

Deutschlandradio Kultur: Hat es denn eine heilende Wirkung gehabt aus Ihrer Sicht, dass die Leute reinschauen konnten in ihre Akten und sehen konnten, wer in ihrer Nachbarschaft, Bekanntschaft...

Egon Bahr: Wer das wollte, konnte das tun und wird es auch weiter tun können. Aber die Behörde selbst muss ja irgendwann mal zu Ende sein. Und so, wie Jahn das formuliert, sieht das so aus, als ob er das gerne weitermachen würde.

Deutschlandradio Kultur: Herr Bahr, Sie hatten in Ihrem langen politischen Leben ja viele Rollen inne. Ich will nur einige nennen: Chefredakteur, Senatssprecher, Unterhändler, Berater, Staatssekretär, Minister, SPD-Bundesgeschäftsführer, Friedensforscher, Konfliktforscher. In der Öffentlichkeit ist Ihr Name immer noch verbunden mit der Entspannungspolitik von '66 bis '72 oder '74, verbunden mit Willy Brandt. Deckt sich das mit Ihrer Wahrnehmung? Ist das bis heute die herausragende Phase Ihres Lebens, die für Sie die wichtigste ist?

Egon Bahr: Ohne jede Frage. Die entscheidendste Phase oder die wichtigste, das wichtigste Datum ist der Bau dieser verdammten Mauer gewesen, und zwar deshalb, weil wir im Schöneberger Rathaus gesessen haben und festgestellt haben, alle vier Mächte wollten, dass Ruhe herrscht. Alle vier Mächte wollten den Status Quo erhalten. Alle vier Mächte wollten nicht nur den Status Quo in der Stadt erhalten, sondern auch für Deutschland und damit für Europa, also der Teilung.

Und es ist unbezweifelbar, dass insbesondere nach dem Kennedy-Besuch in Berlin nicht eine einzige Aktion, nicht ein einziger Versuch unternommen worden ist, die Teilung zu mildern oder die Teilung aufzuheben oder zur deutschen Einheit zu kommen. Die waren alle froh, dass sie von den deutschen Querelen nicht mehr betroffen wurden.

Wir haben die berühmte Konferenz in Helsinki gehabt, 1975, die KSZE-Konferenz. Die basierte darauf, dass die Formel des Moskauer Vertrages übernommen wurde, wonach alle Grenzen, egal wann wer wie wo sie gezogen worden sind, nur im gegenseitigen Einvernehmen geändert werden können. Na, da haben alle gesagt: Wenn die Bonner Regierung das sagt, dann brauchen wir keine Sorge mehr zu haben. Denn niemand konnte damit rechnen, dass die Grenze, ausgerechnet die schlimmste Grenze zwischen der Bundesrepublik und der DDR, mal im gegenseitigen Einvernehmen aufgelöst würde.

Deshalb konnte man die menschlichen Erleichterungen vereinbaren. Und deshalb haben die Menschen nicht nur in der DDR, sondern weit darüber hinaus im ganzen alten Ostblock natürlich etwas gehabt, worauf sie sich berufen konnten. Bis dahin war das Wort Dissident ein Wort aus der Kirchengeschichte, Abweichler. Und in der Zwischenzeit ist es dann ein Wort, gleichbedeutend mit einem politischen Abweichler geworden.

Also, das ist eine unglaubliche Erfolgsgeschichte. Und wir haben dann angefangen, nachdem uns niemand half, das Ding wegzukriegen, zu überlegen, was können wir denn machen, um es wenigstens ein bisschen durchlässig zu machen - unterhalb der unkündbaren Siegerrechte, aus kommunaler Notlage rüberzubringen auf die andere Seite wieder, und sei es nur für Stunden. Also mussten wir das Tabu brechen, mit der anderen Seite nicht zu reden, mit der anderen Seite zu verhandeln.

Die CDU hat damals in Berlin gesagt: "Mit Gefängniswärtern verhandelt man nicht." Und Brandt hat geantwortet: "Kleine Schritte sind besser als große Worte." Und die Union hat nachgelegt und hat gesagt: "Die Wunde muss offen bleiben." - Wie lange eigentlich? Na gut. Und Brandt hat gesagt: "Die ganze Politik soll sich zum Teufel scheren, wenn sie nicht den Menschen hilft."

Das heißt, wir haben etwas angefangen, ohne zu wissen, welche Dimension das einnehmen wird oder annehmen wird.

Deutschlandradio Kultur: Das fing ja als eine lokale Geschichte in Berlin an mit dem Passierscheinabkommen. Sie waren damals vermutlich der wichtigste Berater von Willy Brandt. Wie war denn Ihr Verhältnis damals? War das kollegial? War das von der Politik bestimmt? Oder war das auch eine persönliche Freundschaft?

Egon Bahr: Na, eine persönliche Freundschaft hat sich erst entwickelt. Das hat Jahre gebraucht. Ich habe Brandt jahrelang gesiezt. Und wir haben uns dann hinterher auch gesiezt, wenn wir in amtlicher Eigenschaft auftraten, weil das Gefühl da war, man kann sich nicht so verhalten, als ob der Staat einer Partei gehört. Also, das war damals 1961 eigentlich im Entstehen begriffen, aber noch nicht so entwickelt.

Deutschlandradio Kultur: Wenn wir einen Schritt weitergehen, eine Phase weitergehen, es gibt Fernsehbilder von dem Moment 1974, als Brandt vor der Fraktion seinen Rücktritt ankündigt. Da sieht man Sie. Und das sieht aus, als ob Sie die Tränen in den Augen haben und um die Fassung ringen.

Egon Bahr: Das stimmt auch.

Deutschlandradio Kultur: Was hat Sie damals so mitgenommen?

Egon Bahr: Also, das lag einfach daran: Ich habe mit Wehner zusammen bei Brandt gesessen. Und Brandt hat gesagt, geht schon mal vor, ich komme nach. Das Rücktrittsschreiben war schon bei Heinemann …

Deutschlandradio Kultur: Dem Bundespräsidenten damals.

Egon Bahr: Dem damaligen Bundespräsidenten, auch angenommen. Und mein Verhältnis zu Wehner war nicht spannungsfrei.

Deutschlandradio Kultur: Der damalige Fraktionschef der SPD im Bundestag.

Egon Bahr: Richtig, und stellvertretender Parteivorsitzender. Und auf der Strecke rüber vom Palais Schaumburg zum Bundestag hat er mich plötzlich an die Schulter genommen und hat gesagt, "wir müssen jetzt ganz eng zusammenarbeiten". Und das war schon ein bisschen abgründig. Und dann setzte ich mich hin neben Karl Ravens und harrte der Dinge, die da kommen.

Und dann kam Brandt rein, mit einem Riesenbeifall empfangen. Und Wehner reckte einen Strauß - ich glaube, es waren rote Rosen, aber beschwören will ich das nicht mehr - in die Luft und schrie: "Willy, du weißt, wir alle lieben dich!" Und das Wort Liebe aus diesem Anlass, aus diesem Munde war ein bisschen zu viel. Wenn ich gewusst hätte, dass Kameras auf mich gerichtet werden, hätte ich vielleicht unterdrückt, aber so kamen die Bilder zustande, die Sie beschrieben haben.

Deutschlandradio Kultur: In der Rückschau betrachtet waren das ja nur wenige Jahre, in denen in dieser kurzen Folge ein ganzes politisches Projekt umgesetzt worden ist, die Aussöhnung mit dem Osten, mit Polen, der Vertrag mit Russland, mit der Sowjetunion damals, getragen auch von einer Aufbruchstimmung und einer mehrheitlichen politischen Zustimmung - bis in die Medien.

Ich habe mich manchmal gefragt, wenn man die Medienlandschaft von heute gehabt hätte mit der Konkurrenz öffentlich-rechtlicher und privater Sender, Zeitdruck-Konkurrenz, Internet, Wikileaks, dieses ganze nervöse und gereizte Klima hier in Berlin Mitte, wäre diese konzeptionelle Politik dann möglich gewesen?

Egon Bahr: Das kann ich nicht beantworten, weil es damals eben ganz anders war. Es gab im Prinzip drei Parteien und der Übergang auf die vierte Partei, nämlich die Grünen, war noch nicht richtig vollzogen und schon gar nicht der Übergang auf die fünfte Partei, die jetzt auch da ist. Und die Fülle von Informationsmöglichkeiten, die so groß ist, dass sie für den Einzelnen nicht mehr überschaubar sind, hat es auch nicht gegeben. Also, ob das so möglich gewesen wäre, kann man bezweifeln.

Deutschlandradio Kultur: Die Parteien klagen darüber, dass es politisches Desinteresse im Land gibt. Andererseits gibt es Forderungen nach mehr Partizipation, mehr Teilhabe, nach mehr Gerechtigkeit in der Gesellschaft - gerade auch vor dem Hintergrund der Finanzkrise. Wäre das nicht jetzt der Moment für die SPD, ein neues politisches Projekt auszurufen und zu sagen, lasst uns mal wieder ein bisschen mehr Demokratie wagen?

Egon Bahr: Das ist eine schöne Formulierung. Sie erinnert daran, dass Brandt "mehr Demokratie wagen" in seiner ersten Regierungserklärung 1969 formuliert hat. Ich habe erst jetzt erfahren, dass er damit etwas aufgenommen hat, was er aus Skandinavien mitgebracht hat. Denn der jetzige norwegische Ministerpräsident hat exakt diese Formel verwendet, als er auf diese schrecklichen Anschläge auf diese Insel ...

Deutschlandradio Kultur: ... Utoya ...

Egon Bahr: ... auf die Toten reagiert hat. Das ist natürlich toll. - Die SPD ist ein bisschen zögerlich, weil sie nämlich erfahren hat oder erleben musste, dass Frau Merkel einen Punkt nach dem anderen sozialdemokratische Forderungen akzeptiert hat. Und sie ist dabei weiterhin, die CDU zu sozialdemokratisieren. Und weitere gute Tipps werden wir ihr nicht, jedenfalls nicht im Laufe des nächsten Jahres geben. Das wird dann die Auseinandersetzung des übernächsten.

Deutschlandradio Kultur: Sie galten ja früher als ein sehr nüchterner Analytiker und Pragmatiker, der genau schaut, was geht, was geht im Moment nicht, und das, was geht, das machen wir. Wenn wir jetzt den Politikstil von Frau Merkel betrachten, eigentlich müsste er Ihnen doch zusagen, jetzt mal abgesehen davon, dass sie in der falschen Partei ist.

Egon Bahr: Erstens kann man ihr natürlich nicht übel nehmen, dass sie die Relevanz und die Güte der politischen Positionen der SPD akzeptiert und auch weiter trägt. Nein, der andere Punkt ist eigentlich dabei nur, dass sie jetzt auch realistisch wird unter Bezug auf die strategische Partnerschaft. Sie hat eine strategische Partnerschaft mit der Mongolei vereinbart, mit China vereinbart, mit Kasachstan vereinbart. In allen drei Ländern kann man nicht sagen, dass dort Demokraten herrschen. In allen drei Ländern werden die Menschenrechte anders buchstabiert als bei uns.

Deutschlandradio Kultur: Oder gar nicht.

Egon Bahr: Na ja, also, ich sage nur "anders" jedenfalls. Und dasselbe gilt schon für Saudi-Arabien, wo wir eine strategische Partnerschaft haben. Denn auch die haben wichtige Rohstoffe, aber keine Demokratie. Das ist realistisch. Das geht wohl auch gar nicht anders. Man darf nur nicht so tun gleichzeitig, als halte man die Menschenrechte hoch, höher, so hoch, dass sie niemand erreichen kann.

Deutschlandradio Kultur: Was ein Stück des Glaubwürdigkeitsproblems der Politik ausmacht, wenn sie sagt, wir wollen Werte hochhalten, die aber nicht überall gelten.

Egon Bahr: Stimmt. Und sie weiß, dass sie nicht überall gelten. Und sie weiß, dass sie sie nicht durchsetzen kann. Das ist der Vorwurf, den man ihr machen kann.

Deutschlandradio Kultur: Herr Bahr, wenn man mit Menschen in Ihrem Alter über ihr Leben spricht, dann gibt es häufig eine Aussage so ungefähr, dass die Erinnerungen an die Kindheit und die Jugend jetzt immer deutlicher werden. Ist das bei Ihnen auch so?

Egon Bahr: Das kann ich nicht sagen. Ich kann nur sagen, dass es Kindheitserinnerungen gibt, die so eingebrannt sind, dass sie die Jahrzehnte überdauern.

Deutschlandradio Kultur: Es gab ja bei Ihnen ein Leben vor der Politik. Aufgewachsen in Thüringen und in Berlin, diskriminiert, weil Ihre Mutter, wie das damals hieß, Halbjüdin war. Gab's damals so etwas wie Existenzangst? Und war die noch oder ist die noch präsent?

Egon Bahr: Nein, das war bei mir anders. Mein Vater hat mir gesagt, als die Nazis kamen '33: Das ist Krieg. - Da war ich elf Jahre alt. Und ein Jahr ist in diesem Alter sehr lang. Und ich habe festgestellt, es kam 1934 gar kein Krieg, '35, kein Krieg. '36 kam die Welt nach Berlin zu den Olympischen Spielen und hat Kotau gemacht vor dem Führer und Reichskanzler. Und '37 war kein Krieg, '38 wurde es spannend. Und '39 kam endlich - sage ich jetzt mal - der Krieg, 14 Tage mit Polen, im nächsten Jahr sechs Wochen für Frankreich. Das hatte nicht mal das Kaiserreich geschafft, in der Zwischenzeit noch Norwegen und Dänemark. Und ich habe einen gewissen Stolz empfunden auf mein Land, um mir gleichzeitig zu sagen, wenn das so bleibt, ist es das Ende deiner Familie und dein eigenes auch.

Ich bin dann enthoben worden, mir da weiter den Kopf zu zerbrechen. Denn in dem Augenblick, in dem ich zum ersten Mal die Russlandfanfare hörte, diese geniale Übersetzung von Liszts "Les Préludes", habe ich das Gefühl gehabt, jetzt bebt die Erde. Dein Vater hat Recht. Der Krieg ist nicht nur nicht zu gewinnen, sondern das wird wohl das Ende Deutschlands sein. Und er hat mir damals dann die Empfehlung gegeben, du musst zusehen, dass du mit dem Arsch an die Wand kommst. Das heißt: Überleben ist alles. Und das hab ich, Gott sei Dank, geschafft - mit Glück.

Deutschlandradio Kultur: Sie waren Soldat, bei Kriegsende Fahnenjunker. An was erinnern Sie sich noch?

Egon Bahr: Ach, ich habe viele Erinnerungen an eine schreckliche Schleiferei, Grundausbildung infanteristisch in Belgien im Schnee. Ich habe Erinnerungen natürlich. Ich war bei einer Flakbatterie in Abbeville in Nordfrankreich. Und da haben wir eine "Liberator" abgeschossen, die flügellahm so tief und langsam ankam, dass sie für unsere Vierlinge erreichbar waren. Und die haben wir, wie gesagt, abgeschossen.

Und dann sind wir da hingelaufen, erstens, um zu sehen, ob wir die schöne Fallschirmseide bekommen könnten, zweitens, trotz der Menschenteile, die da in den Bäumen hingen, habe ich kein Mitleid empfunden, weil am Leitwerk dieses Flugzeuges Bomben aufgemalt waren, je tausend Tonnen, die sie geworfen hatten. Und darunter stand "Berlin", und ich hatte drei Wochen keine Post aus Berlin bekommen. Und ich war dann über mich selbst erschrocken, wie dünn der Firniss der Zivilisation ist oder wird im Krieg.

Deutschlandradio Kultur: Eigentlich wollten Sie ja Musiker werden. Man sieht Sie auch immer noch regelmäßig in der Philharmonie. Edward Heath, der ehemalige britische Premier, war ja später dann auch als Dirigent aktiv, Otto Schily neuerdings auch. Hat es Sie nie gereizt, auf Ihre alten Tage noch mal dieses geliebte andere Metier anzugehen und aktiv Musik zu machen?

Egon Bahr: Das lohnt nicht mehr. Also, die Finger sind eingerostet. Wenn ich hoffentlich jetzt nach dem 90. reduziere und nur noch das mache, was ich will und was ich mir noch vorgenommen habe, und dann noch etwas Zeit bleibt, werde ich wieder anfangen, Klavier zu spielen.

Deutschlandradio Kultur: Wir wünschen Ihnen alles Gute. Vielen Dank.

Egon Bahr: Danke auch.
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