Galiciens Musikszene

Freiheit am Ende des Pilgerweges

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Ein Denkmal in Léon - von hier aus führt der Pilgerweg nach Santiago de Compostela. © picture alliance / dpa
Von Katrin Wilke · 22.10.2014
Galicien ist - anders als Katalonien - nicht für Separationsbekundungen bekannt. In der Musikszene, vor allem im Neo-Folk, besinnt man sich aber auf die eigenen Traditionen und ist dennoch offen für Experimente.
Die 47-jährige Autodidaktin Mercedes Peon aus La Coruña - singende Multi-Instrumentalistin und Elektro-Tüftlerin – sie ist eine der visionärsten, längst auch international renommierten Protagonistinnen der galicischen, überhaupt der spanischen (Neo-)Folkszene. Schon in frühen Jugendjahren beschäftigte sie sich als Feldforscherin und Lehrerin mit der traditionellen Musik und Folklore Galiciens.
Eine eigene Musiksendung im galicischen Fernsehen machte Peón gerade unter ihren älteren, traditionsbewussten Landsleuten sehr populär. Doch eines Tages schor sich die wagemutige Selfmade-Frau ihr langes Haar und schlug auch musikalisch einen eigenwilligen, neuen Weg ein. Der schlängelt sich raffiniert zwischen modernsten, weitläufigen Elektronikwelten und den alten Gesangs- und Instrumentaltraditionen entlang.
"Mir schien, dass uns in der zeitgenössischen galicischen Musik eben diese Energie fehlte, die ich bei den Frauen und Männern auf den Dörfern gefunden hatte. Ich wollte dem nachgehen, konnte diesen Mangel einfach nicht verstehen. Mir fehlte diese Energie. Für einen kleinen Dokumentarfilm, den ich für mein Fernsehprogramm machen sollte, begab ich mich auf die Suche nach Musik. Nicht, dass es da keine wunderbaren Sachen gegeben hätte, aber ich fand einfach nicht das 'Gewisse', wonach ich suchte."
Fernblick als historische Wesensart
Jüngstes Beispiel für Mercedes Peóns unermüdliche musikalische Erkundungen ist ihre Zusammenarbeit mit den polnischen Kollegen der Warsaw Village Band. Viele galicische Musiker schweifen heutzutage von der eigenen Scholle mit der schönsten Selbstverständlichkeit und Kreativität in die Ferne. So auch seit langem die Sängerin Uxía Senlle, eine weitere – wenn nicht sogar die Schlüsselfigur in der dortigen Szene sowie im Großraum lusophoner Musikkulturen.
"Auf jeden Fall sehe ich in Galicien das Phänomen, dass wir musikalisch wachsen. Wir haben gelernt, das Unsere zu schätzen, uns wohl zu fühlen in unserer Haut. Traditionell war dem nicht so. Stets existierte eine Art Selbsthass und Scham; der Gedanke, dass alles, was von außen kommt, besser sei ... Die ersten Folk-Bands imitierten den irischen, schottischen, bretonischen Sound - als ob das vor Ort Vorhandene nicht reichhaltig genug wäre, keine eigene Identität besäße. Dabei gibt es die schon durch die eigene, stark verwurzelte Sprache. Heutzutage befinden wir uns auf einem sehr guten Weg dahin, uns anzuerkennen und uns zu mögen..." (lacht)
Das von Uxía beschriebene mangelnde Selbstbewusstsein ist vor allem der Franco-Zeit geschuldet, der damaligen Unterdrückung der galicischen Sprache und kultureller Eigenheiten. Dass dort heutzutage keine sozial relevanten Unabhängigkeitsbedürfnisse herrschen - wie etwa in Katalonien - mag womöglich ja auch mit dem gerade erwähnten Fernblick, der Reiselust zu tun haben - eine quasi historische Wesensart des Galiciers.
Der überquerte von jeher den Atlantik gen Amerika, zum Beispiel Kuba. Er hinterließ dort seine Spuren, trug umgekehrt seine "Reisemitbringsel" nach Hause ins eigene Leben. Diese Tradition der "Ida y vuelta", des kulturellen Hin und Her, schreiben Musiker wie Uxía fort. Wie kaum jemand sonst ist die ausgewiesene galicische Kultur- und Menschenkennerin im großen, vor allem lusophonen Weltkulturkreis am Reisen und Netzwerken. Ein herausragendes, bis heute Blüten treibendes Projekt ist "Cantos na maré", für das sich die Sängerin mit Musikerfreunden aus Brasilien, Guinea Bissau oder den Kapverden zusammentat.
Künstlerischer Freiheitsgeist
Der galicische Liedermacher Fran Pérez alias NARF arbeitet mit Uxía dieser Tage an einem Album namens "Baladas da Galiza Imaxinaria". Dieses "imaginäre Galicien" besang er bereits zuvor: in diesem auf Galicisch und Englisch intonierten Wiegenlied, wo er seine diversen, in aller Welt siedelnden galicischen Identitäten aufzählt. Der sanfte Barde lebte und arbeitete - wie auch sein renommierter Kollege Xoel López - für längere Zeit außerhalb Spaniens und schöpft aus dieser Diasporaerfahrung heute maßgeblich seine Liedkunst. Genreübergreifend wie NARF - wenngleich mit anderem Klangresultat - geht auch Xosé Manuel Budiño ans Werk. Der mit allen Wassern galicischer Tradition gewaschene, weitgereiste Gaita-Spieler weiß den künstlerischen Freiheitsgeist vor der eigenen Haustür zu schätzen.
"In Galicien ist alles eng miteinander verknüpft. So spielst du zum Beispiel auf einem Konzert, und plötzlich wird ein Jazz- oder Rockmusiker auf die Bühne eingeladen. Ich brauche es, dass alles auf eine natürliche Art zustande kommt und nicht, dass man fusioniert - einfach nur der Fusion wegen: Jazz mit Flamenco mit ... Nein, es muss einfach mit den gewissen Musikern zustande kommen. Mir geht es um die Person."
Der Gaitero Xosé Manuel Budiño, hier zusammen mit einem weiteren sehr populären Gallego, Luis Tosar. Gut möglich, dass der international renommierte, musikaffine Schauspieler, der in Santiago de Compostela lebt, dort vielleicht auch die große, von Budiño gestaltete WOMEX-Eröffnungsgala besucht. Wenn neben Mercedes Peón und anderen auch der Flamenco-Jazzer Jorge Pardo und der Fado-Sänger Antonio Zambujo dort gemeinsam auftreten, dann wird schon am ersten Abend der Weltmusikmesse spürbar: In Galicien als Endstation des Pilgerweges sowie als maritime "Relaisstation" befindet man sich in einem von jeher offenen, dabei nicht minder eigenständigen Kulturraum.
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