Gagarin des Internets

Wie 1982 der erste Sowjet online ging

Blick in ein Moskauer Rechenzentrum mit den sowjetischen Computern der zweiten Generation "Minsk-22 und "Ural 14", aufgenommen im Jahr 1973.
Blick in ein Moskauer Rechenzentrum mit den sowjetischen Computern der zweiten Generation "Minsk-22 und "Ural 14" © picture-alliance / dpa / B. Korzin / Sputnik
Von Jens Rosbach · 19.01.2016
Kopiergerät, Fax oder Computer: Nur linientreue Genossen durften in der UdSSR moderne Kommunikationstechnik bedienen. Es gab allerdings auch einen politisch unzuverlässigen Biochemiker, der vor über 30 Jahren zum sowjetischen Internet-Pionier avancierte.
Moskau, im Winter 1982/83. Der ehemalige KGB-Chef Juri Andropow regiert die Sowjetunion. Er lässt das Volk überwachen und den Krieg in Afghanistan fortsetzen. Trotz der politischen Eiszeit will die UdSSR online gehen – sprich: Erstmals an einer weltweiten "Computerkonferenz" teilnehmen.
Als Vertreter des Landes wird Anatolij Klyosov bestimmt, ein Biochemiker der Moskauer Universität. Er wird zum Institut für angewandte automatische Systeme geschickt, nahe dem Kreml:
"Als ich in das Institut kam, sah ich viele Wachschützer mit Maschinenpistolen, mit Kalaschnikows. Es handelte sich um ein geheimes oder sogar streng geheimes Institut. Denn die Einrichtung verwaltete das erste und einzige Kabel, welches das Land mit der restlichen Welt verband."
Ein sowjetischer IBM-Nachbau
Klyosov, ein 35-jähriger Professor, war in den Augen des KGB eigentlich politisch "unzuverlässig" und hatte Reiseverbot. Doch die Online-Konferenz beschäftigte sich mit biochemischer Forschung - deshalb sollte der Experte die internationalen Kontakte aufbauen. Und zwar mit einem sowjetischen ES-EVM-Computer, dem Nachbau eines IBM-Rechners. Das schrankgroße Gerät mit angeschlossenen Magnetbändern konnte ganze 30 Megabyte speichern.
Der Rechner – und sein kleiner grüner Bildschirm - waren an das einzige Computer-Modem angeschlossen, das in der Sowjetunion existierte. Es steuerte einen Konferenz-Server in Schweden an.
Anatolij Klyosov: "Die Übertragung eines einzelnen Buchstabens dauerte ein bis zwei Sekunden. Und bis sich der gesamte Bildschirm füllte, dauerte es ganze drei bis vier Minuten! Und natürlich gab es keinerlei Bildschirm-Grafik.
Plötzlich las ich auf dem Bildschirm: Die Universität Stockholm begrüßt Sie! Ich kam mir wie ein Kosmonaut vor, wie Gagarin! Als wenn ich in den Weltraum geflogen wäre! Im Bruchteil einer Sekunde war ich im Ausland. Ohne jegliche Genehmigung!"
Ungestörte Kommunikation mit dem Rest der Welt
Der "Gagarin des sowjetischen Internets" tauschte jedoch nicht nur wissenschaftliche Daten aus mit seinen schwedischen, amerikanischen oder westdeutschen Kollegen. Lieber verschaffte er sich Nachrichten, die es nicht durch die Kreml-Zensur geschafft hatten. Etwa vom sowjetischen Spionage-U-Boot, das vor der schwedischen Küste auf Grund gelaufen war - mitten im Kalten Krieg. Selbst nach der Konferenz konnte der Biochemiker ungestört mit der westlichen Welt kommunizieren – insgesamt sieben Jahre lang.
Nach dem Ende der UdSSR erklärte ihm ein Insider, warum es keine Kontrolle gab:
"Er sagte: Der KGB ist eine sehr bürokratische Organisation. Jeder weiß, was er zu tun hat. Einer ist zuständig für ausländische Besucher. Ein anderer überwacht Telefonanrufe und Briefe. Aber da gab es niemanden, der für Computer-Konferenzen zuständig war. Und keiner hat sich getraut, etwas zu unternehmen. Denn wer etwas Neues wagt, wird dafür irgendwann einen Kopf kürzer gemacht."
Gleich nach der ersten Online-Konferenz versuchte Anatolij Klyosov, in sowjetischen Zeitschriften einen Aufsatz über die Chancen der Computer-Vernetzung zu veröffentlichen. Doch der staatliche Zensor blockte ab:
"Er sagte: Die Massen sollen davon nichts erfahren. Und ich fragte ihn warum? Er meinte: Stell Dir vor, dass jeder das Gleiche wie Du tun will! Was wird dann passieren?"
Unternehmer und Millionär in den USA
1985 startete Gorbatschows Perestroika - und Anatolij Klyosov durfte seinen Aufsatz doch noch publizieren. Der Internet-Pionier war nun allerdings "infiziert" mit der westlichen Freiheit: 1990 emigrierte er in die USA und machte dort Karriere. Heute lebt der 69-jährige Wissenschaftler und Unternehmer als Millionär in Boston. Noch immer wundert sich der Russe, wie er damals seinen digitalen Ausbruch aus der Sowjetunion überleben konnte:
"Ich hatte zu Hause immer eine kleine Tasche bereit stehen mit warmen Sachen – für den Fall, dass ich verhaftet werde. Es hätte durchaus passieren können. Aber es ist einfach nicht passiert."
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