Gabriel verteidigt Atomausstieg

Moderation: Hanns Ostermann · 26.04.2006
Bundesumweltminister Sigmar Gabriel hat anlässlich des 20. Jahrestages des Atomunfalls in Tschernobyl das Ziel eines deutschen Ausstiegs aus der Kernkraft bekräftigt. Man könne angesichts dieser Katastrophe nicht auf eine Technik setzen, bei der das technische und menschliche Versagen nicht passieren dürfe, sagte Gabriel im Deutschlandradio Kultur.
Hanns Ostermann: Es geschah heute vor 20 Jahren, am 26. April 1986, explodierte ein Reaktor des Atomkraftwerks von Tschernobyl. Große Mengen an radioaktiven Stoffen wurden freigesetzt. Die Folgen dieses Super-GAUs sind noch heute zu spüren, im unmittelbaren Umfeld ebenso wie tausende Kilometer entfernt. Neben den gesundheitlichen Konsequenzen steht Tschernobyl aber auch als Symbol für die Risiken, die jeglicher Fortschritt beinhalten kann. Dass diese Gefahr unterschiedlich bewertet wird, dass sieht man nicht zuletzt im Streit in Deutschland. Die einen plädieren für den sofortigen Ausstieg aus der Kernenergie, die anderen sind für einen Mix. Sigmar Gabriel von der SPD begrüße ich am Telefon von Deutschlandradio Kultur, den Bundesumweltminister. Guten Morgen, Herr Gabriel.

Sigmar Gabriel: Guten Morgen, ich grüße Sie.

Ostermann: Ihre Zeitungsbeilage, ein Magazin zum zwanzigsten Jahrestag, hat für erheblichen Ärger bei Ihrem Koalitionspartner geführt, parteipolitisch würde Tschernobyl ausgeschlachtet, die Position der Union käme zu kurz. Warum diese Provokation?

Gabriel: Na, die Union hat eine Position, die mit dem Koalitionsvertrag nicht übereinstimmt, nämlich dass wir aus der Kernenergie aussteigen, das steht im Koalitionsvertrag, die Union will das Gegenteil. Ich kann diejenigen, die permanent öffentlich dazu auffordern, den Koalitionsvertrag nicht einzuhalten, denen kann ich nicht noch die Möglichkeit geben, in einer Broschüre des Umweltministeriums ihre Position wiederzugeben, sondern klar ist, dass in der Ressortverantwortung meines Ministeriums der Ausstieg aus der Kernenergie weiter vorangetrieben wird, das ist das Ziel.

Und im Übrigen finde ich, angesichts der, sozusagen der Katastrophe, die in Tschernobyl stattgefunden hat, wird man wohl schwer begründen können, warum man in einer Broschüre, die berichtet über die katastrophalen Folgen von Tschernobyl, schwer begründen können, warum man eigentlich auf eine Technik setzten will, bei der drei Dinge nie passieren dürfen: Der Mensch darf nie versagen, die Technik darf nie versagen und vor allen Dingen darf nicht beides zusammen passieren.

Ostermann: Herr Gabriel, dass Sie einseitig und verzerrt beschreiben, in dieser Broschüre, diesen Vorwurf weisen Sie scharf zurück?

Gabriel: Ob scharf oder nicht, jedenfalls ist es nicht die Wahrheit.

Ostermann: Die politische Großwetterlage zeichnet ein zum Teil völlig widersprüchliches Bild. Einerseits plädieren einige für einen sofortigen Atomausstieg, andererseits entstehen in Europa und weltweit zahlreiche neue Atomkraftwerke. Vor allem auch in China. Können wir mittelfristig überhaupt auf diese Energiequelle verzichten?

Gabriel: Also zurzeit ist es jedenfalls so, beginnen wir mal in Europa, dass 17 von 25 Mitgliedsstaaten der Europäischen Union die Kernenergie nicht nutzen wollen. Das ist die Mehrheit. Das heißt, in der Europäischen Union befindet sich Deutschland auf der Seite der Mehrheit. Ich gebe zu, wenn man manche Berichte liest, kann man den Eindruck haben, alle wollten in Europa die Kernenergie, das ist nicht so.

Wenn Sie darüber hinausgehen, dann ist es so, dass fast 80 der Kernkraftwerke, die es weltweit gibt, mehr als 30 Jahre alt sind, die werden in nächster Zeit vom Netz gehen, und dass die derzeitigen Planungen, die wirklich realisiert werden können, derzeit jedenfalls nicht mal ausreichen, diese Kraftwerke alle zu ersetzen. Also zurzeit, in der aktuellen Situation befinden wir uns eher dabei, dass die Nutzung der Kernenergie abnimmt. Wenn Sie allerdings jede denkbare Planung, die mal irgendjemand aufgeschrieben hat, auch Planungen, die zum Teil 30 Jahre alt sind, zusammenzählen, dann kommt man zu den Zahlen der Atomwirtschaft in Deutschland, die behauptet, es gäbe eine Renaissance der Kernenergie.

Ostermann: Es gibt aber auch einen andern Blickwinkel, denkt man zum Beispiel an China. Dort sind es nicht nur Planungen, dort entstehen Atomkraftwerke und zwar in erheblichem Maße.

Gabriel: Ja, aber China zum Beispiel setzt wesentlich mehr auf erneuerbare Energien als auf Kernkraft. Und natürlich gibt es in der Welt, sehen wir ja auch in Indien, dass es Länder gibt, die auf Atomenergie setzen will, das ist eine der großen Gefahren. Wenn die reichen Staaten der Industriestaaten öffentlich permanent erklären lassen, die Kernenergie ist das einzig Wahre, dann müssen wir uns nicht wundern, dass ärmere Länder darauf einsteigen, und dann auf einmal auch die prinzipielle Fähigkeit erlangen, waffenfähiges, spaltbares, radioaktives Material zu bekommen, wie Indien. Und es ist eben eine der Gefahren im Umgang mit der Kernenergie, dass wenn sie sie wirklich weltweit anbieten zur Stromerzeugung, gleichzeitig sie immer die Fähigkeit anbieten, Waffen daraus zu machen.

Ostermann: Aber hat der Gasstreit zwischen Russland und der Ukraine nicht doch gezeigt, dass wir mehrere Optionen brauchen. Wie sichern wir unseren Energiebedarf und bleiben wirtschaftlich wettbewerbsfähig?

Gabriel: Also ich bin auch der Überzeugung, dass wir einen Energiemix brauchen, der muss bestehen vor allen Dingen, zu allererst aus mehr Effizienz im Umgang mit Energie, da zeigen uns andere Länder wie Japan, dass so was geht, oder die Schweiz, die in Europa sich solche Ziele gesetzt hat. Das zweite ist eine bessere Technologie, die wirksamer ist, höhere Wirkungsgrade hat, aber auch weniger CO2 produziert bei Kohle und Gas, und das dritte ist natürlich der Ausbau erneuerbarer Energien. Und wir haben ja gerade einen Bericht zum Energiegipfel der Bundeskanzlerin vorgelegt, wo wir sehen, dass wir in den kommenden Jahren fast, ich glaube rund 18.000 Megawatt neue Kapazitäten auf dieser Basis bekommen, da sind die erneuerbaren Energien noch gar nicht dabei, und im gleichen Zeitraum 7000 Megawatt Kernenergiestrom vom Netz gehen, weil wir Kraftwerke abschalten. Daran sehen Sie, dass wir mehr Kraftwerkskapazitäten bekommen, als Kernenergie vom Netz geht.

Ostermann: Es fehlt bei uns in Deutschland noch ein Konzept für ein Atommüllendlager. Sie arbeiten dran. Kommt es nach Salzgitter?

Gabriel: Wir haben ja unterschiedliche Probleme. Nach Salzgitter soll, nach dem Willen des Oberverwaltungsgerichts, das hat da ein Urteil gefällt, der eher unproblematischere Teil des radioaktiven Abfalls kommen, das sind zwar 90 Prozent der Volumenabfälle, die aber nur zehn Prozent der Radioaktivität enthalten, ob das realisiert wird oder nicht, entscheidet letztendlich das Oberverwaltungsgericht in Leipzig, weil es dort sozusagen eine Nichtzulassungsbeschwerde gibt, und ich denke, in spätestens einem Jahr wissen wir es. Viel problematischer ist der Umgang mit den verbleibenden zehn Prozent der Abfälle, das sind 90 Prozent der Radioaktivität, da gibt es bislang die Erkundung in Gorleben. Ich bin der festen Überzeugung, dass wir in Deutschland endlich eine Entscheidung treffen müssen über die Endlager, wir können das nicht immer vor uns her schieben.

Allerdings finde ich, muss man den sichersten Standort suchen und das geht nur, indem sie Standortvergleiche machen, sie werden also an einigen anderen Orten in Deutschland, die entsprechende geologische Formationen haben, auch Bohrungen vornehmen müssen, um dann zu vergleichen, wo ist am Ende die Sicherheit am größten, und dann in der Tat müssen sie das auch realisieren. Ich glaube, dass wir uns vor der Verantwortung nicht länger drücken dürfen.

Ostermann: Ist die Kernenergie neben der Gesundheitsreform der entscheidende Test für die große Koalition?

Gabriel: Ich glaube, dass im Laufe der nächsten Jahre es eine ganze Reihe von Tests der großen Koalition gegeben wird. Aber die Energiepolitik insgesamt, wie sichern wir Versorgung, wie halten wir stabile Preise und wie sichern wir den Klimaschutz, das ist schon eine der großen Aufgaben der großen Koalition, kein Zweifel.