Fußball und Integration in Frankreich

Zwischen Wunsch und Wirklichkeit

Dimitri Payet locht für die Franzosen zum 2:0 gegen Albanien ein.
Dimitri Payet locht für die Franzosen zum 2:0 gegen Albanien ein. © picture alliance / dpa / Oliver Weiken
Von Ronny Blaschke · 26.06.2016
Multikulturelle Nationalteams wie das französische werden gern zum Modell gelungener Integration erklärt und zum Spiegelbild der Gesellschaft. An einer Integrationsdebatte wollen sich die Fußballer jedoch nicht beteiligen.
Einige Historiker sagen, dass die Wirkung des WM-Sieges etwa zweieinhalb Jahre angehalten habe. Spürbar durch Wirtschaftswachstum oder höhere Geburtenraten. Doch das Auseinanderdriften der französischen Gesellschaft blieb nicht verborgen. Das erste Länderspiel gegen Algerien nach Ende des Kolonialkrieges musste 2001 abgebrochen werden, vier Wochen nach dem 11. September ließen viele arabischstämmige Franzosen ihrer Abneigung gegen den Westen freien Lauf. Der Sozialwissenschaftler Albrecht Sonntag erforscht seit zwei Jahrzehnten die gesellschaftlichen Hintergründe des Sports, vor kurzem hat er einen Fußballkultur-Reiseführer herausgegeben.
"Also, ich habe mich 1998 sehr bestätigt gefühlt in meiner Meinung, dass der Fußball nicht ein Spiegelbild der Gesellschaft ist, sondern dass der Fußball die Gesellschaft so widerspiegelt, wie sie sich eigentlich gern sehen würde. Dass er also immer ein Raum für Projektionen ist, von Idealbildern, von Wunschbildern auch. Und auch damals gab es ja schon offensichtliche Schwierigkeiten bei der Eingliederung auf dem Arbeitsmarkt von Leuten mit Migrationshintergrund. Es gab Misstöne von Seiten der FN, die immer stärker wurde. FN, also Front National. Und die Hysterie war eigentlich weniger bei der Bevölkerung, die sich einfach nur gefreut hat, sondern das war bei den Intellektuellen, die den Fußball eigentlich immer unterschätzt hatten und plötzlich Dinge hinein interpretierten, die völlig über das Ziel hinausschossen."
Seit mehr als einhundert Jahren verdeutlicht der Fußball die Migrationsbewegungen in Frankreich. In den fünfziger Jahren vertraten einige Spieler mit polnischen und italienischen Wurzeln das Nationalteam, in den Siebzigern und frühen Achtzigern tauchten spanische und portugiesische Namen auf. Der erste schwarze Spieler war 1975 Gérard Janvion aus Martinique. Seit den Neunzigern kamen viele Spieler aus Nordafrika dazu. Albrecht Sonntag:
"Es ist schön, dass der Fußball so vielen Leuten ermöglicht, sich bis ganz nach oben zu kicken. Aber das sagt nichts aus, wie sehr eine Integrationspolitik gelungen ist oder nicht."
Die französische Gesellschaft ist gespalten. Straßenkämpfe in den Banlieues, steigende Jugendarbeitslosigkeit, wachsender Rassismus. Nach den Terroranschlägen 2015 mit mehr als 140 Toten berichteten Lehrer, dass einige Schüler das Morden sogar gut geheißen hätten. Trotz dieser Polarisierung wurde erst vor kurzem der Posten einer Staatssekretärin geschaffen, die sich beim Premierminister mit Migrationsfragen beschäftigt. Stefan Dehnert analysiert die Politik als Leiter der Friedrich-Ebert-Stiftung in Paris.
"Aber es ist nicht so, wie das die Staatsministerin für Integration beispielsweise in Deutschland als Rolle hat. Und auch nicht das Verständnis, wie man in Deutschland Integration betreiben möchte: Gerade auch durch die Anerkennung der kulturellen Diversität, und dass man Zuwanderern auch zugesteht, dass sie diese Diversität leben und ausleben können und darin zum Teil sogar gefördert werden. Man spricht nicht von Integration, weil das Integrationsmodell in Frankreich ein anderes ist, nämlich über die Gleichheit aller in der Republik. Es gibt also keine Idee einer positiven Diskriminierung, Es gibt nicht eine Idee der Multikulturalität."
Auch der französische Fußballverband betreibt – anders als der Deutsche Fußball-Bund - keine breiten Integrationsprogramme. Zwar ist der Migrationsanteil unter französischen Spielern in alten Altersklassen hoch, aber unter Funktionären, Trainern und Schiedsrichtern sind Einwanderbiografien unterrepräsentiert. Zuletzt wurde das Thema von Karim Benzema überschattet. Wegen einer Erpressungsaffäre wurde der Stürmer von Real Madrid nicht für das französische Team berücksichtigt, doch Benzema warf Nationaltrainer Didier Deschamps Rassismus vor. Sachliche Vorschläge sind in dieser Aufregung vorerst nicht zu erwarten.
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