Fußball: Digitale Augen sehen mehr

Von Tim-Hannes Schauen · 13.06.2013
Die FIFA testet in Brasilien erstmals eine Torlinientechnologie namens GoalControl: 3D-Kameras im Stadion schießen Bilder, erfassen die zentimetergenaue Position des Balls, eine ultraschnelle Netwerktechnik überträgt die Daten zu einem Rechner. Überquert der Ball die Linie, vibriert eine Uhr am Handgelenk des Schiedsrichters.
Wenn an diesem Samstag, dem 15.06., in Brasilien der Konföderationen-Pokal, der ConFed-Cup angepfiffen wird, beginnt nicht nur der Countdown zur Fußball-WM 2014, sondern es vollzieht sich auch eine mittelgroße technische Revolution im Profi-Fußball: zum ersten Mal in der Geschichte des Fußballs wird auf der ganz großen Bühne, wenn Nationalmannschaften beteiligt sind, Technologie eingesetzt, die den Schiedsrichtern helfen soll, über Tor oder Nicht-Tor zu entscheiden.

Herbert Zimmermann. "'' ... Schäfer nach innen geflankt – abgewehrt. Aus dem Hintergrund müsste Rahn schießen, Rahn schießt: Tor! Tor ! Tor!""

So eindeutig wie bei Helmut Rahns Tor zum 3:2 der deutschen Nationalmannschaft 1954 gegen Ungarn geht es im Fußball längst nicht immer zu. Bestes Beispiel: das legendäre Wembley-Tor beziehungsweise: Nicht-Tor. 1966 spielte Deutschland im Londoner Wembley-Stadion gegen England das Endspiel um die Weltmeisterschaft.

Rudi Michel: "Achtung! Achtung! Hei ... ! Nicht im Tor! ... Kein Tor! … Oder doch? Jetzt, was entscheidet der Linienrichter? Tor!"

Auch ein britischer Fernsehkommentator ist zunächst unschlüssig:

"Yes! No?! No, the linesman says no! Linesman says no! It's a goal!"

Tor! England ist Weltmeister. Obwohl der Ball, wie außerhalb Großbritanniens heute wohl jeder Fußballfan überzeugt ist, nicht im Tor war. Solche Fehlentscheidungen gehören zum Fußballspiel dazu wie Grasnarbe, Stollenschuh und Stadionbratwurst. Und ebenso die alte Weisheit: "Tor ist wenn der Schiedsrichter pfeift."

3D-Kameras bestimmen Ballposition
Auch beim Confed-Cup in Brasilien gilt dies, die Schiedsrichter erhalten jedoch in der Tor-Frage technische Unterstützung. Die FIFA testet erstmals bei einem großen Turnier eine Torlinientechnologie namens GoalControl. Eine Firma aus Würselen bei Aachen hat sie entwickelt. Seit 20 Jahren beschäftigt sich das Unternehmen mit industrieller Bildverarbeitung, setzt Hochgeschwindigkeitskameras bei der Produktkontrolle von Schläuchen und Profilen ein. Dirk Broichhausen ist einer der Geschäftsführer.

Dirk Broichhausen: "Ich habe 2009 ein Zweitligaspiel verfolgt, da war eine krasse Fehlentscheidung in einem Spiel, wo es auch um Relegation oder Abstieg ging, und diese Fehlentscheidung hat mich so beschäftigt, dass ich am Folgetag zu meinen Jungs gegangen bin, gefragt habe: Hört mal, wie sieht das aus, können wir eigentlich einen Ball detektieren? Die guckten mich dann natürlich mit großen Augen an, dann sagten die: "Ja wie, was für ein Ball denn?" Ja, sag ich, einen Fußball!"

Erst 2013 ist das Produkt fertig entwickelt worden, hat sich gleich gegen mehrere Konkurrenten durchgesetzt und die begehrte Lizenz der FIFA erhalten. Die Gründe liegen wohl in der vergleichsweise günstigen Technik. Außerdem, so der Weltverband, müssen Tore oder Bälle für dieses System nicht speziell präpariert werden, bestehende Ausrüsterverträge sind davon also nicht betroffen. Dirk Broichhausen startet jetzt in seinem Laptop ein Video.

Broichhausen: "Hier sieht man jetzt sehr schön, wo die GoalControl4D-Kameras hängen, nämlich unter dem Stadiondach eines Profistadions. Kameras, sieben Stück an der Zahl, schauen auf das Tor und können ganz klar und zweifellos die Ballposition bestimmen, und wenn der Ball über die Torlinie tritt, gibt es ein sofortiges Signal an eine spezielle Schiedsrichteruhr."

Die 14 3D-Kameras arbeiten jeweils mit bis zu 500 Bildern pro Sekunde – zum Vergleich: der Standard für aktuelles HD-TV liegt bei circa 50. Neben der laut Hersteller zentimetergenauen Position des Balls im Raum erfasst das System auch dessen Geschwindigkeit. Ultraschnelle Netzwerktechnik überträgt die Daten zu einem Hochleistungsrechner: keine Sekunde nachdem der Ball die Linie überquert hat, vibriert eine Uhr am Handgelenk des Schiedsrichters.

Fußballer sind Traditionalisten
Die Kosten beziffert GoalControl pro Stadion auf circa 200.000 Euro. Andere Sportarten setzen elektronische Helfer schon länger ein: Im Tennis zum Beispiel werden bei wichtigen Turnieren die Begrenzungslinien seit über zehn Jahren mit dem "Hawk-Eye" elektronisch überwacht: vier Kameras scannen den Platz, ein Computer wertet die Bilder permanent aus. Sind sich Schiedsrichter und Spieler nicht einig, ob ein Ball "in" oder "out" war, hat der Spieler mehrmals pro Satz das Recht, die Auswertung des Hawk-Eyes zu verlangen. Cricket und Snooker setzen ebenfalls auf das digitale Auge. Beim Eishockey ist der Videobeweis zugelassen. Dass der Fußball recht konservativ ist und auf solch zusätzliche Technik bisher verzichtet hat, wundert den Kölner Sportjournalisten Volker Schulte nicht.

Volker Schulte: "Also Fußballer und Fußballfunktionäre und Fußballfans - da gibt es sehr, sehr viele Traditionalisten, und Technik ist dann erstmal etwas, was die Tradition bedroht, und deswegen setzt zum Beispiel Michel Platini, der Chef des europäischen Verbandes UEFA, weiter auf die Torrichter. Er hat also zwei weitere Schiedsrichter installiert, was im Endeffekt allerdings nicht verhindert hat, dass es auch weiterhin Fehlentscheidungen gibt."

Auch der Präsident des Weltverbandes FIFA, Joseph Blatter, galt lange als Technikfeind. Doch während der WM 2010 wird England ein Tor gegen Deutschland verwehrt: Torhüter Manuel Neuer spielt nach Frank Lampards Tor-Schuss einfach weiter, Sepp Blatter denkt um. Nicht bloß für den Journalisten und Sportschau-Mitarbeiter Schulte ist die Entscheidung der FIFA für Torlinientechnik eine Sensation.

Schulte: "Die Entscheidung, jetzt die Technik einzusetzen, ist schon eine Revolution im Fußball. Wenn einmal diese Hürde gefallen ist, dann kann ich mir auch gut vorstellen, dass neue Techniken den Einzug erhalten und wir demnächst in Sachen "Abseits" vor allem auch technische Hilfsmittel haben."

Besteht GoalControl die Tests, wird das System auch bei der WM 2014 in Brasilien eingesetzt. Darüber hinaus bestehen bislang keine Verabredungen. Zudem stellt die FIFA klar: die endgültige Entscheidung liegt weiterhin bei den Schiedsrichtern. Die alten Fußballweisheiten - auch knapp 50 Jahre nach Wembley sind sie gültig: "Der Ball ist rund", "das Spiel dauert 90 Minuten." "Tor ist wenn der Schiri pfeift."
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