Furchtbare Hässlichkeit und gütige Lüge

18.10.2007
Dezsö Kosztolányi gilt als ein Klassiker der ungarischen Literatur. Lerche, die Hauptfigur seines gleichnamigen und gleichzeitig in zwei Verlagen erscheinenden Kurzromans, ist 35 und lebt noch bei den Eltern. Diese können sich die Hässlichkeit ihrer Tochter nicht eingestehen. Kosztolányi zeigt die Familie als selbstgewähltes Gefängnis aus gütigen Lügen.
Manesse und Suhrkamp werden es nicht gern sehen, dem Buch aber verhilft es hoffentlich zu größerer Aufmerksamkeit: Bei beiden Verlagen sind in diesen Tagen Übersetzungen des Kurzromans "Lerche" von Dezsö Kosztolányi erschienen. Der 1885 geborene ungarische Klassiker, dem deutschen Leser bisher nur durch die etwas mutwillig verspielten Novellen um Kornel Esti bekannt, fällt nämlich nicht mehr unter das Copyright. Er ist vor 71 Jahren gestorben.

"Lerche" aus dem Jahr 1924 verdient die doppelten Bemühungen. Kosztolányi schildert sieben Tage einer zurückgezogen lebenden Familie in der Provinzstadt Sárszeg. Anfangs reist die trotz ihrer 35 Jahre noch immer bei den Eltern lebende, unverheiratete Tochter Lerche für eine Woche zu Verwandten in der Puszta. Lieber wäre sie zu Hause geblieben, als wieder einmal zu erleben, wie ihr wegen ihrer Hässlichkeit Ablehnung entgegenschlägt. Auch die Eltern fürchten die Abwesenheit ihrer Tochter, deren Hässlichkeit sie sich nicht eingestehen. Lerches ängstlicher und verletzter Rückzug ins Haus gibt auch ihrem Leben Sinn: Die symbiotische Beziehung beruht auf dem Ausschluss der Welt.

Als Ákos Vajkay und Antónia Bozsó von Kecfalva dann allein sind, genießen sie es wider Erwarten. Sie essen im Restaurant, betrachten Schaufenster, besuchen den Friseur und das Theater. Sie entdecken die lang entbehrten Freuden der Freiheit, hegen aber ein schlechtes Gewissen der Tochter gegenüber. Erst als Ákos volltrunken vom Herrenabend zurückkommt, wagt er es, seiner Frau gegenüber die bedrückende Wahrheit auszusprechen: Lerche sei furchtbar hässlich.

Antónia widerspricht, hofft aber insgeheim, Ákos würde ihre Verteidigung der Tochter zurückweisen. Doch ihr Mann lässt sich nur allzu gern beruhigen. Die Stunde der Wahrheit ist vorüber, die Lebenslüge hat die Eltern wieder. Sie beseitigen vor Lerches Ankunft alle Spuren ihrer Vergnügungen und begrüßen sie wie eine schmerzlich Vermisste. Lerche ist forciert hilfsbereit und kennt nichts Eiligeres als die Besprechung häuslicher Pflichten, aber in der Nacht beschwert sie ihr "unfruchtbares, kaltes Mädchenbett" "wie die Leiche die Bahre" und weint in das Kissen. Auch die Tochter hat die Reise verändert: Sie weiß nun um ihr trauriges Schicksal.

Kosztolányi zeigt die Familie als selbst gewähltes, ganz und gar nicht liebevolles Gefängnis aus gütigen Lügen. Sein Buch besitzt jene unterhaltende Eleganz, die den europäischen Gesellschaftsroman einst auszeichnete. Stellenweise erinnert "Lerche" an den unaufgeregten, atmosphärisch genauen Plauderton Eduard von Keyserlings, und tatsächlich verlegt Kosztolányi die Ereignisse in das Jahr 1899 zurück. Dass er 20 Jahre später schreibt, lässt sich an der subtilen Konstruktion erkennen: Ausgerechnet der verarmte Adlige Ákos mit seiner Liebe zu Stammbäumen und Heraldik muss erfahren, wie dürftig familiäre Blutsbande sein können. Außerdem erfreut Kosztolányi zuweilen mit beißender Ironie: Als Ákos beim Herrenabend all die alten Bekannten begrüßen muss, hat er mehr zu tun, so heißt es knapp, "als damals beim Brand der Dampfmühle."

"Lerche" spielt also auf unterhaltsame Weise mit Anachronismen, denen sich Christina Viraghs Übersetzung für den Manesse Verlag präzis annimmt. Bei ihr geht es leicht umständlich und so andeutungsvoll wie altertümlich zu: Die Sätze umschleichen das Gemeinte auf leisen Sohlen. Wo die Manesse-Ausgabe von "Brustbild" spricht, heißt es bei Suhrkamp "Porträt": Heinrich Eisterer schärft den Kurzroman an. Seine Übersetzung ist klarer, weniger geheimnisvoll, deutlicher treten die psychologischen Abgründe und die kurz aufblitzende Ironie hervor. Heinrich Eisterer kennt einen Kosztolányi, der unserer Gegenwart näher ist. Mal sehen, welchen Ungarn die Leser bevorzugen.

Rezensiert von Jörg Plath

Dezsö Kosztolányi, Lerche. Roman.
Aus dem Ungarischen übersetzt von Christina Viragh. Nachwort von Péter Esterházy. Manesse Verlag. Zürich 2007. 302 S., 17,90 Euro

Dezsö Kosztolányi, Lerche. Roman.
Aus dem Ungarischen übersetzt von Heinrich Eisterer. Mit einem Nachwort von Ilma Rakusa. Bibliothek Suhrkamp. Suhrkamp Verlag. Frankfurt a.M. 2007. 218 S., 14,80 Euro