Fundamentalismus der Aufklärung?

Von Ulrike Ackermann · 25.02.2007
Was ist eigentlich los in Europa, im freien Westen? In Großbritannien werden die Sparschweine aus den Banken geräumt, weil sie die religiösen Gefühle der Muslime verletzen könnten, die im Schwein ein unreines Tier sehen. In Italien erwägt man, Strände für die muslimischen Frauen abzusperren, damit sie bekleidet und von der gefürchteten dekadenten westlichen Nacktheit unbehelligt baden können.
In Frankreich debattiert man über muslimische Krankenhäuser, damit die Ehemänner, Väter und Brüder muslimischer Frauen sichergehen können, dass kein nichtmuslimischer Arzt ihre Ehefrauen, Töchter und Schwestern berührt. Kopftücher und Burkas sind in den Straßen Westeuropas zahlreicher zusehen aus je zuvor. Der deutsche Innenminister warnt zur gleichen Zeit vor der steigenden Gefahr des Islamismus in Deutschland und die Zahlen derer, die zum Islam konvertieren, steigt.

Angesichts dieser Erscheinungen warnt die in Somalia geborene, ehemalige holländische Parlamentsabgeordnete und Filmautorin Ayaan Hirsi Ali vor der "schleichenden Scharia" in Europa. Sie hatte zusammen mit Theo van Gogh den Film "Submission" gedreht, in dem sie die Frauenunterdrückung im Islam kritisiert. Auf offener Straße wurde van Gogh in Amsterdam von einem Moslem ermordet, der ihm mit einem Messer noch eine Todesdrohung an Ayaan Hirsi Ali an Brust heftete. Sie lebte danach unter ständigen Todesdrohungen und Polizeischutz und ist inzwischen nach Amerika gegangen. Die ehemalige streng gläubige Muslimin hat in ihrer Autobiographie ihren Weg in die Freiheit und ihre schrittweise Abwendung vom Islam sehr eindringlich beschrieben. Sie zählt zu den wenigen Dissidentinnen, die nicht nur den Islamismus brandmarken, sondern auch den Islam kritisieren. Für Ayaan Hirsi Ali ist "der Islam mit der liberalen Gesellschaft, wie sie sich im Gefolge der Aufklärung herausgebildet hat, nicht vereinbar". Ihre Kritik weckt aber nicht nur den Zorn und Widerspruch ihrer ehemaligen Glaubensbrüder, sondern aberwitzigerweise auch jenen europäischer linksliberaler Intellektueller. Ian Buruma und Timothy Garton Ash warfen ihr vor, eine "Fundamentalistin der Aufklärung" zu sein, die mit ihren Einlassungen Öl ins Feuer gieße, sie betreibe eine "Politik der Wut". Für Hirsi Ali sind die Errungenschaften der Aufklärung, die Trennung von Staat und Religion, die politischen und individuellen Rechte und Freiheiten, die Selbstbestimmung des Individuums, die Vernunft und die Gleichberechtigung der Geschlechter allerdings und zu Recht von fundamentaler Bedeutung.

Die Internet-Kulturplattform Perlentaucher hat seit Februar 2007 eine internationale Debatte darüber angestoßen. Der französische Intellektuelle Pascal Bruckner hält den Kritikern der Dissidentin entgegen, ihr gefeierter Multikulturalismus sei ein "Rassismus des Antirassismus". Der von Buruma und Garton Ash verteidigte Kulturrelativismus ist auch für Necla Kelek nicht hinnehmbar. Religionen sind nicht gleich, denn der Islam versuche, "die vertikale Trennung von Männern und Frauen in den demokratischen Gesellschaften zu etablieren". Der holländische Jurist Paul Cliteur sieht in der Glorifizierung des Fremden und dem Verzicht auf den Universalitätsanspruch der Moderne eine riskante Bedrohung westlicher Lebensformen.

Die Verharmlosung des Islam erinnert heute an jene des Kommunismus vor 1989. Zeigte sich damals der westliche Selbsthass und die Entwertung der Errungenschaften der freiheitlichen Demokratie in der Weichzeichnung des Kommunismus, so können wir dies heute gegenüber dem Islam beobachten - nicht zuletzt aufgrund seines Antikapitalismus und Antiamerikanismus. Bis in den Sprachgebrauch hinein liegt die Analogie nahe: die Stalinismuskritik war damals hoffähig, aber der Kommunismus als solcher wurde mit Samthandschuhen angefasst; heute ist die Islamismuskritik common sense, aber der Islam darf nur maßvoll kritisiert werden.

Ayaan Hirsi Ali kam letztes Jahr nach Berlin und stellte sich in ihrer Rede ganz bewusst in die Tradition der Dissidenten, die sich vom Kommunismus zugunsten der westlichen Freiheit abgewendet hatten. Bisher fallen Dissidentinnen des Islam wie Necla Kelek, Ayaan Hirsi Ali oder Seyran Ates in Ungnade, weil sie mit ihrer Kritik angeblich den Dialog der Kulturen störten. Ihre leidenschaftliche Verteidigung eines selbst bestimmten Lebens, der Freiheit des Individuums gegenüber einem religiösen, domestizierenden Kollektiv verlangt endlich lautstarke Unterstützung. Denn von wem soll denn eine Selbstreflexion und Reformation des Islam angestoßen werden, wenn nicht von diesen mutigen Frauen?

Dr. Ulrike Ackermann, geboren 1957, Studium der Politik, Soziologie und Neueren Deutschen Philologie in Frankfurt/Main. Ab 1977 Zusammenarbeit mit der Charta 77, dem polnischen KOR, der Solidarnosc und anderen Bürgerrechtsbewegungen in Ostmitteleuropa. Fünf Jahre lang verantwortliche Redakteurin der "Frankfurter Hefte/Neue Gesellschaft". 1995 bis 1998 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Hamburger Institut für Sozialforschung. Seit 1998 freie Autorin. Gründerin und Leiterin des Europäischen Forums an der Berlin-Brandenburgischen Akademie für Wissenschaften. Buchveröffentlichungen u.a.: "Sündenfall der Intellektuellen. Ein deutsch-französischer Streit von 1945 bis heute" und zuletzt "Versuchung Europa" (Hg.), Frankfurt am Main 2003, Humanities Online.
Ulrike Ackermann
Ulrike Ackermann© privat