"Fürs Radiohören braucht man keinen Strom"

Tilo Grätz im Gespräch mit Christopher Ricke · 13.02.2013
Anlässlich des Welt-Radiotags wirft der Medienethnologe Tilo Grätz einen Blick auf die Rundfunklandschaft in Westafrika und das dortige Hörverhalten. "Es gibt wenige Leute, die kein Radio besitzen", sagt Grätz. Und mit Batterien sei der Hörer unabhängig vom Stromnetz.
Christopher Ricke: Es gibt den Welttag des Buches, den der Poesie, es gibt den Welt-Toilettentag, und es gibt den Welt-Radiotag. Der ist heute. Radio kann ja vieles sein: Informationsquelle, Ziel für Eskapismus, Unterhaltung.

Es gibt ausgesprochen dümmliche Lala-Formate, aber es gibt auch ambitionierte und intelligente Ansätze im Radio, und es gibt ganz unterschiedliche Radioregionen. Deutschland zum Beispiel: Da ist das Radio zwar eine wichtige Informationsquelle, aber eben nur eine unter vielen.

In Afrika sieht das dann schon wieder ganz anders aus. Ich spreche mit Professor Tilo Grätz, er ist Medienethnologe an der Freien Uni Berlin. Sein Thema ist Radio in Westafrika. Guten Morgen, Herr Grätz.

Tilo Grätz: Schönen guten Morgen!

Ricke: Was bedeutet es denn, in Westafrika ein Radio zu besitzen oder vielleicht auch keines zu haben?

Grätz: Es gibt wenige Leute, die kein Radio besitzen, oder keinen Zugang zum Radio haben. Das Radio ist das Massenmedium Nummer eins, kann man nach wie vor so sagen. Einerseits sind Geräte relativ preiswert. Für drei Euro kann man schon ein gutes Radiogerät erwerben. Viele Hörer haben auch Geräte, die sie für einen Euro kaufen und dann UKW-Sender hören, oder über das Mobiltelefon.

Fürs Radiohören braucht man keinen Strom, das geht mit Batterien, und vor allem: Man muss keine Lese- und Schreibfähigkeit haben, die man vielleicht fürs Zeitung lesen braucht. Das Radio erreicht also doch sehr, sehr viele Hörer im Gegensatz zu anderen Medien, die viel größeren Aufwand voraussetzen.

Ricke: Wie global, wie national oder auch vielleicht wie regional ist denn Radio in Westafrika organisiert?

Grätz: Es ist so, dass es neben den staatlichen Sendern, die meistens direkt vom Ministerium für Information gesteuert werden, doch seit ungefähr 15 Jahren eine große Vielfalt von Radiosendern gibt, die einerseits von religiösen Sendern, also Gemeinderadios, bis hin zu privaten, sehr kommerziell orientierten Sendern reichen.

Die meisten dieser Sender sind sehr regional orientiert, also senden primär für ein lokales Publikum. Das erkennt man daran, dass auch der Anteil der einheimischen Sprachen – die Sprachvielfalt ist ja sehr groß in Afrika mit über 700 Sprachen -, dass die dort im Radio ihren Platz findet. Da gibt es Sendefenster für viele Sprachen. So ein Gemeindesender hat meistens drei, vier Sprachen im Programm, die aber dann die Hörer in den jeweiligen Regionen direkt ansprechen.

Ricke: Afrika ist auch ein Kontinent der Krisen. In Mali zum Beispiel, wo Sie ja auch mal geforscht haben, erleben wir das gerade. Und da gibt es natürlich unterschiedliche Parteien mit unterschiedlichen Propagandazielen, vielleicht auch jeweils mit eigenen Radiosendern. Welche Rolle spielt das Radio da?

Grätz: Ja. Das beobachten wir in vielen Krisenregionen, dass natürlich solche Rebellengruppen unterschiedlichster Couleur sich gerne Radiosender bedienen, um sich direkt an die Bevölkerung zu wenden. Das ist sicherlich ein Problem dort, wo es keine anderen Informationsquellen gibt, wo dann viele Hörer Schwierigkeiten haben, zwischen Propaganda und realer Information zu unterscheiden.

Ich würde aber sagen, das sind extreme Ausnahmefälle, denn auf der anderen Seite haben sie auch Radiostationen, die im Gegenteil zur Versöhnung aufrufen, die auch politische Bildung leisten auf sehr originelle Art, in Form von Radiotheater, und damit dann auch die Dinge voranbringen, die man nationale Integration nennt. Es gibt zum Beispiel in Sierra Leone Beispiele, wo das Radio im Gegenteil zur nationalen Versöhnung und Integration beigetragen hat.

Ricke: Das Besondere am Radio ist ja seine Jetztzeitigkeit. Radio entsteht im Augenblick, kann interaktiv sein. Ist das in Afrika auch oder setzt man sich davor und hört zu?

Grätz: Nein! Gerade der Boom der Mobiltelefone, die ja immer preiswerter werden, die auch in ländlichen Regionen jetzt immer weiter verbreitet sind, hat seit ungefähr acht bis zehn Jahren dazu geführt, dass gerade Sendungen, die zum Anrufen aufrufen, unheimlichen Anklang gefunden haben. Das geht von Gruß- und Wunschsendungen, wo man einfach nur Verwandte, Bekannte in entfernten Regionen grüßt, bis hin zu Sendungen, wo sich Hörer auch zu aktuellen Problemen äußern können.

Da gibt es in vielen Sendern zum Beispiel in der Republik Benin ein Programm, wo jeder Hörer 90 Sekunden Zeit hat und sich so über ein aktuelles Problem einfach äußern kann. Der Moderator hält sich da zurück, und das ist für viele auch Politiker so ein Fingerzeig, was nicht so gut funktioniert im Land. Das sind Sendungen, die manchmal auch ein bisschen umstritten sind, und in Wahlzeiten stellt man sie meist ein.

Aber die Hörer fordern diese Sendungen ein, weil das so ein direkter Draht ist in die Öffentlichkeit. Andere Anrufersendungen sind eher dialogisch orientiert, wo Hörer mit Moderatoren oder Studiogästen diskutieren über Gesundheitsprobleme. Oder was in den letzten fünf, sechs Jahren an Bedeutung zugenommen hat, sind Sendungen über Partnerschaftsprobleme, Liebe, auch Sexualität, Eheprobleme, Dinge, die in der Öffentlichkeit bis dahin oft so Tabuthemen waren und die jetzt aber gerade von jungen Leuten immer stärker auch eingefordert werden - Sendungen, die dann nachts laufen meistens, aber doch einen großen Anklang finden. Gerade diese interaktiven Sendungen haben die Beteiligung der Hörer gefördert und den Erfolg gerade von kleineren Radiosendern doch jetzt immer weiter gefördert.

Ricke: Professor Tilo Grätz, er ist Medienethnologe an der Freien Uni Berlin. Heute am Welt-Radiotag sprachen wir über Radio in Afrika. Vielen Dank, Herr Grätz, und einen guten Tag.

Grätz: Bitteschön!


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