Fürs Leben lernen

28.05.2008
Immer mehr Schulen wenden sich ab vom klassischen Frontalunterricht. Praxisnahes Lernen heißt die Devise. Beispiele aus Sachsen-Anhalt, Brandenburg und Schleswig-Holstein.
Sachsen-Anhalt
Von Susanne Arlt

12. Klasse, Deutschstunde. 22 Schüler und drei Schülerinnen sitzen zu viert an den Tischen, starren auf ein Blatt Papier.

Deutsch, vor allem Grammatik, gehört nicht gerade zu den Lieblingsfächern. Mario schaut gelangweilt auf seinen Übungstext.

An der Berufsbildenden Gutjahrschule in Halle an der Saale können Schüler nach der neunten Klasse die allgemeine Hochschulreife erwerben, ihr Fachabitur machen oder das theoretische Wissen für ihre duale Ausbildung pauken. Der Vorteil vor allem für Gymnasiasten: Sie pauken in den drei Schuljahren nicht nur Deutsch und Englisch, sondern auch technisches Wissen. Auf ihrem Stundenplan stehen darum auch Fächer wie Bautechnik, Elektrotechnik, Informationstechnik oder Metalltechnik. Markus Knoll hat sich bewusst für die Berufsbildende Gutjahrschule entschieden. Der Unterricht an seinem alten Gymnasium war ihm nicht praxisnah genug und technische Fächer standen erst gar nicht auf dem Stundenplan.

"Ich war erst auf einem normalen Gymnasium und habe dann entdeckt, dass die Chancen hier durchaus besser sind im späteren Berufsleben, … dass man schon mal den Einblick bekommt in das Gebiet, das man später mal studieren möchte, was man auf einem normalen Gymnasium nicht bekommt."

Der 19-jährige Paul Bessler pflichtet ihm bei. Beide haben das Fach Informationstechnik gewählt. Die Lehrer vermitteln ihnen theoretisches und praktisches Wissen: zum Beispiel wie man eine Ampelschaltung programmiert. Aufgrund des hohen Anteils praktischen Unterrichts müssen die Gymnasiasten ein Jahr länger lernen, bis zur einschließlich dreizehnten Klasse. Das sei ihnen aber egal, sagen beide einstimmig. Schon jetzt fühlten sie sich ihren ehemaligen Schulkameraden überlegen, was das technische Know-how angehe. Lediglich einen Nachteil habe die Berufsbildende Gutjahrschule, sagt Markus Knoll grinsend. Der Frauenanteil sei überschaubar.

85 Prozent Jungs, schätzt Schuldirektor Wolfgang Müller, besuchen die Berufsbildende Gutjahrschule in Halle. Mädchen für technische Berufe zu begeistern, sei nicht leicht. Schon jetzt fehlen deutschlandweit Ingenieure. Tendenz steigend. Fatal, findet Wolfgang Müller. Er und sein Kollegium haben sich darum zum Ziel gesetzt, guten Ingenieurnachwuchs auszubilden. 80 Prozent der Gutjahr-Absolventen entschlössen sich für ein Studium, sagt Schulleiter Wolfgang Müller.

"Wir führen zum allgemeinen Abitur, wir ermöglichen die Studierfähigkeit. Wir wollen auf der anderen Seite aber auch, dass während der dreijährigen Ausbildung am Fachgymnasium, eigentlich die Möglichkeit besteht, reinzuschnuppern, in das was auf mich zukommen könnte. Um auch in der Vielfalt der Ausbildungsmöglichkeiten der Fachhochschule für sich selbst ordentlich auswählen zu können."

Darum hat die Gutjahrschule in diesem Jahr eine Kooperation mit der Hochschule Anhalt vereinbart. Die Schüler können ab Herbst zwei Wochen lang einen Studiengang der Fachhochschule besuchen, Vorlesungen hören und parallel ein Praktikum absolvieren. Dadurch sollen sie Einblicke in den Studienalltag bekommen, sagt Vizepräsidentin Carola Griehl. Im Jahr verzeichnet die Fachhochschule rund 35 Prozent Abbrecher. Gerade in den ingenieurwissenschaftlichen Studiengängen wüssten Studierende oft nicht, welche Ansprüche auf sie zukämen.

"Unser Schulsystem krankt etwas daran, dass dieses Fach Technik, wenn überhaupt als Wahlfach vermittelt wird, in der Regel kein eigenes Schulfach ist. Und das ist der Grund auch warum wir an die Gutjahr-Schule herangetreten sind, denn hier ist eine gute technisch-naturwissenschaftliche Ausbildung zu verzeichnen, und die Schüler haben doch eine klare Vorstellung davon, was in den Ingenieurwissenschaften mal verlangt wird, was der Beruf bedeutet."

Von der Kooperation erhofft sich die Vizepräsidentin zwei Dinge: Zum einen begabte Abiturienten an die Hochschule Anhalt zu locken, zum anderen die hohe Studienabbrecherquote zu minimieren. Bei den Schülern der Gutjahrschule in Halle kommt das Praktikumsangebot gut an. Viele wollen im Herbst an dem freiwilligen Programm teilnehmen. Denn je mehr praktische Erfahrung er schon in der Schule sammeln, desto besser sei das für seine berufliche Zukunft, glaubt der 17-jährige Robert Sziboris.

"Ich würde schon sagen, dass es immer anstrengender wird, jemanden davon zu überzeugen, dass seine Qualitäten die man hat, am Besten für diesen Job sind und deswegen würde ich auch sagen, dass wenn man die Zeit hat Praktika zu machen und nicht nur in einen Bereich zu gehen, sondern verschiedene, um zu zeigen, man hat sich bemüht Erfahrungen zu sammeln, um fürs spätere Leben dann halt was zu lernen."


Brandenburg
Von Claudia van Laak

Jeden Donnerstag tauscht Florian Belde die Jeans gegen den Blaumann, den Schraubenschlüssel gegen den Füller. Er arbeitet einen Tag lang in der Autowerkstatt. Das gefällt dem 14-Jährigen. Reden ist seine Sache nicht, er schraubt lieber am Auto.

"Ich möchte Kfz-Mechatroniker werden, weil ich schon bei meinem Vater und meinem Bruder in der Werkstatt geholfen habe, dort gearbeitet habe."

"Der ist einmal die Woche hier, und weiß dann auch schon, wie und wo er zufassen muss, kennt sich dann auch schon aus im Betrieb."

Sagt Norbert Nass, Verkaufsleiter des Angermünder VW-Autohauses. Zwei Jahre lang wird Florian Belde jeden Donnerstag hier arbeiten und deshalb für den Betrieb nützlicher sein als ein Praktikant, der nur zwei Wochen lang kommt. Florian hofft auf einen anschließenden Ausbildungsplatz, Norbert Nass auf einen ordentlichen neuen Mitarbeiter. Denn die Zahl der Bewerber lässt nach, der Geburtenknick nach der Wende in Ostdeutschland macht sich auf dem Ausbildungsmarkt bemerkbar.

"Absolute Zahl weniger, und auch weniger Brauchbare, natürlich, die den Anforderungen entsprechen. Deshalb ist die frühzeitige Sondierung ganz, ganz wichtig, dieses Sondieren und Gucken in den Schulen."

Als die Angermünder Oberschule auf Norbert Nass zukam und fragte, ob sein Unternehmen zu einer Zusammenarbeit bereit sei, sagte er gleich zu. Wir wollen ja nicht, dass unsere jungen Leute in den Westen abwandern, meint er.

"Wir sind ganz scharf drauf, vernünftige Leute zu kriegen und den jungen Leuten eine Chance zu geben, dass sie nicht weggehen nach Bayern oder Baden-Württemberg."

Das Praxislernen an der Angermünder Oberschule ist nicht auf ein Betriebspraktikum beschränkt. Die Schüler müssen sich selbständig ein passendes Unternehmen suchen, bekommen bestimmte Aufgaben mit auf den Weg, müssen einen Praktikumsbericht schreiben. Die Lehrer besuchen die Schüler im Betrieb, vermitteln zwischen Unternehmen und Schule. Am Ende steht ein Zertifikat. Im besten Falle haben alle voneinander gelernt - Unternehmer, Lehrer und Schüler - sagt Schulleiter Frank Bretsch.

"Wir stellen ja unseren jungen Leuten auch eigentlich Kompetenzteams an die Seite, das sind die Lehrer, die Eltern, die Unternehmer, das Angermünder Bildungswerk mit den entsprechenden Möglichkeiten für Assessments. Also von der Warte her denke ich, dass unsere Praxislernschüler zum überwiegenden Teil nach Ende der Schule wissen, in welchen Berufsfeldern ihre größten Chancen liegen."

Praxislernen ist mehr als Berufsorientierung. Die Schüler sollen lernen, dass der Schulstoff wichtig ist für das Leben, sagt Roman Kruse. Der frühere Geschichtslehrer leitet den Projektverbund Praxislernen in Potsdam. "Ein Gramm Erfahrung ist besser als eine Tonne Theorie" - dieser Spruch hängt in seinem Büro.

"Komischerweise ist es ja so, dass Schüler mit Flächenberechnung an der Tafel in der Schule häufig Schwierigkeiten haben. Wenn sie einen Praxislernplatz in einem Malerbetrieb haben und dort gezeigt bekommen, dass man vorher ausrechnen kann, wie viel Farbe man für die Wand braucht, dann rechnen sie das und merken gar nicht, dass das Mathematik ist, was sie ja eigentlich gar nicht mögen."

30 Oberschulen in Brandenburg haben sich für das Praxislernen entschieden. Das bedeutet eine Menge Arbeit für Schulleitung und Lehrer: sie müssen Betriebe suchen, die sich beteiligen, sie müssen den Schulalltag umorganisieren und den Lehrplan entrümpeln, damit Zeit da ist für das wöchentliche Praktikum. Doch Roman Kruse macht den Schulen Mut. Seine Erfahrung ist,

"dass viele Schüler sich dann motivierter im Regelunterricht zeigen. Auf jeden Fall arbeiten sie zielorientierter, sie wissen frühzeitig, in welches Berufsfeld sie wollen und sie wissen im besten Fall, dass sie dort mit einer 4 in Mathe ganz schlechte Karten haben."

Viele ehemalige DDR-Bürger erinnert das Praxislernen an UTP - an den Unterrichtstag in der Produktion. Ganze Klassen wurden damals in die Betriebe geschickt und mussten dort mehr oder wenige sinnvolle Tätigkeiten ausführen. Das, was wir heute machen, ist besser als UTP, sagt Schulleiter Frank Bretsch.

"Anders als zu DDR-Zeiten, als es darum ging, den Schülern einen Einblick in die Produktion zu bieten, geht es hier um eine spezifische Berufsvorbereitung und um eine wirklich sehr intensive Verzahnung zwischen Schule und Unternehmen. Insofern darf ich sagen, dass qualitativ das Praxislernen wesentlich mehr bedeutet als UTP zu DDR-Zeiten."

Die Ehm-Welk-Oberschule in Angermünde arbeitet mit 75 Unternehmen zusammen. Das Verständnis füreinander sei in den letzten Jahren gewachsen, sagt Schulleiter Bretsch. Die Kritik eines Ausbilders: "Was macht ihr denn da in der Schule für einen Unsinn" hat er schon lange nicht gehört.


Schleswig-Holstein
Von Matthias Günther

Die Kooperative Gesamtschule in Reinfeld. Gerade ist der Technikkurs der achten Klasse von einem Betriebsbesuch zurückgekehrt. Das Unternehmen stellt unter anderem automatische Türen für Krankenhäuser her und ist einer der Partner der Gesamtschule aus der Wirtschaft. Die Schüler sind angetan:

"Das war ganz lustig da, die haben uns alles gezeigt, wie das nach und nach abgeht, die waren ja auch vorher schon einmal bei uns in der Klasse, haben uns alles vorgestellt, und danach sind wir mit dem Technikkurs dahin. Ein paar Auszubildende haben uns das alles gezeigt, dann mussten wir da noch so einen Notschalter zusammenschrauben. Zuerst hatten wir ein bisschen Schwierigkeiten, weil die Zeichnungen waren ein bisschen kompliziert, und dann die ganzen kleinen Schrauben und so, aber sonst ging das eigentlich."

Techniklehrer Hermann Wildebuhr sieht in dem Betriebsbesuch einen Gewinn:

"Was ich ganz gut finde, dass sie dort praktisch gearbeitet haben, dass sie da was zusammengestellt haben aus der laufenden Produktion, das wurde dann anschließend auch überprüft, ob es auch funktioniert und kam dann auch gleich in den Versand – für die Schüler, glaube ich, das Interessanteste."

Schüler lernen den Betriebsalltag kennen – nicht im Rahmen eines einmaligen Praktikums, sondern in einer über Jahre angelegten festen Zusammenarbeit. Im ganzen Land gibt es ähnliche Projekte, die von den schleswig-holsteinischen Handwerkskammern und Industrie- und Handelskammern koordiniert werden. Die Idee entstand, als immer mehr Unternehmer feststellten, dass Lehrstellenbewerber von den möglichen Berufen viel zu wenig wissen.

Auch Tischlermeister Björn Dunkelgut aus Reinfeld möchte dagegen etwas tun.

"Allgemeines Problem bei den Lehrlingen ist, dass die mit handwerklichen Berufen – bis sie zu uns kommen – meistens noch gar keine Berührung hatten und überhaupt keine Erfahrung überhaupt damit haben, irgendetwas mit den Händen oder mit Werkzeugen zu machen. Das liegt eventuell auch daran, dass das Elternhaus auch schon keine technischen Berufe mehr hat sondern eben mehr theoretische Berufe,, technische Berufe werden eher weniger, und dass bei uns Leute ankommen, die wissen nicht mal, wie sie einen Hammer anfassen sollen."
Die Tischlerei Dunkelgut hat deshalb der Kooperativen Gesamtschule in Reinfeld ebenfalls eine Partnerschaft angeboten.

Schulleiter Michael Möller besucht die Tischlerei und erklärt erst einmal, dass viele seiner Schüler immerhin schon wissen, wie man einen Hammer anfasst.

"Wir sind als Kooperative Gesamtschule in der Lage, ab Klasse 7 das Fach Technik anzubieten. Wir haben drei Technikkurse pro Jahrgang, das sind immerhin 45 Schülerinnen und Schüler pro Jahrgang, vom Hauptschüler bis zum Gymnasiasten. Und insofern können wir halt eben da auch etwas Neues bieten, und die handwerklichen Firmen können schlicht und ergreifend dann eben auch von uns Schüler zu sich holen, die tatsächlich wissen, wie man einen Hammer anfasst."

Das Konzept für die Partnerschaft hat Björn Dunkelguts Ehefrau Gesa ausgearbeitet. Sie stellt es dem Schulleiter vor. Zunächst will sie im Technikkurs der Schule über den Beruf des Tischlers informieren – dabei soll auch ein kleiner Film gezeigt werden, vor allem aber können die Schüler Fragen stellen – und zwar an einen Lehrling der Dunkelguts:

"Wie schwer ist die Berufsschule, oder muss man da weiterhin Englisch lernen in der Schule oder macht es auch Spaß, Tischler zu sein, macht es Spaß, auch mal bei Regen auf der Baustelle zu sein, oder verbrennt man sich die Haut im Sommer, oder… das gibt wirklich Fragen, die 14-, 15-Jährige haben, die wir 40-, 50-Jährigen uns ja gar nicht vorstellen können. Und diese Fragen kann ein Lehrling beantworten."

Anschließend soll der Technikkurs in einer Doppelstunde in die Tischlerei kommen und auch selbst etwas anfertigen:

"Die Sache, die wir hier beginnen, die wird in der Doppelstunde ja nicht fertig sein. Und wenn der Lehrer darauf Wert legt, dass wir dann in dem Rhythmus der Doppelstunde bleiben, dann müsste man auf jeden Fall die halbfertigen Arbeiten dann mit zur Schule nehmen, und dann würde ich wiederum mit dem Lehrling, den die Schüler ja auch schon kennen, in die Schule kommen, für die nächste Doppelstunde und da ist es mir wirklich sehr viel wert, und meinem Mann auch, dass dieses Werkstück dann beendet wird, und die Schüler nachher wirklich aus dem Bereich Tischlerhandwerk ein Stück mit nachhause nehmen können, was sie ihren Eltern zeigen und sagen: ich könnte Tischler werden, ich habe hier wirklich was gelernt und ich kriege was fertig. - Mhmmm!"

Schulleiter Möller nickt. Er nimmt die Vorschläge mit in die Schule.

Aber nicht jeder will Tischler werden. Und auch das Interesse an einer Arbeit bei dem Hersteller von automatischen Türen für Krankenhäuser ist im Technikkurs der achten Klasse geteilt:

"Das war sehr interessant, würde ich auch gerne wieder hingehen und würde ich auch Praktikum gerne machen. Nee, mich interessiert das nicht so richtig so mit Metall, ich interessiere mich eher für landwirtschaftliche Dinge so."

Die Schule hat deshalb mehrere Partner in der Wirtschaft – auch ein Pflegeheim ist darunter. Für Schulleiter Möller haben die Partnerschaften aber auch dann einen Sinn, wenn die Schüler bei den Partner-Unternehmen noch nicht ihren Traumberuf finden:

"Wir haben das Problem, dass viele Schüler nicht ausreichend motiviert sind, und wir hoffen darauf, wenn sie ein bisschen was von dem eigentlichen Leben und von dem, was sie später erwartet, kennen, dass sie dann halt eben vielleicht auch mit mehr Engagement lernen, dass sie Leben und Schule miteinander verbinden lernen, und dass möglicherweise von daher auch mehr Nachhaltigkeit kommt und auch die Bereitschaft, fähig zu werden für lebenslanges Lernen."