"Für mich ist es vor allem ein lichter Roman"

Georg Klein im Gespräch mit Ulrike Timm · 19.03.2010
Für seinen "Roman unserer Kindheit" erhielt der Autor Georg Klein den Preis der Leipziger Buchmesse im Bereich Belletristik. Interessant sei die Ehrung, da sie "in die Leserschaft, ins literarische Feld" hineinsende, sagte Klein.
Ulrike Timm: Das Buch "Roman unserer Kindheit" hat den Leipziger Buchpreis in der Sparte Belletristik erhalten. Georg Klein erzählt die Geschichte einer Kinderbande in einer Neubausiedlung in der Bundesrepublik um 1960, und er tut das schaurig und schön – so sagen es die Rezensionen –, zwischen Fantasie und Realismus, so wie die Wahrnehmung von Kindern eben gestrickt ist. Wobei das Schaurige einen großen Anteil hat. "Es blutet und blutet" heißt gleich der erste Satz des Romans.

Idylle pur ist diese Kindheit ganz sicher nicht. "Roman unserer Kindheit" von Georg Klein - die Jury fand dieses Buch so eindrucksvoll, dass sie ihm dafür den Leipziger Buchpreis zuerkannte. Georg Klein, ich gratuliere sehr herzlich!

Georg Klein: Vielen Dank!

Timm: Herr Klein, 760 Bücher waren eingereicht, fünf standen auf der Shortlist. Laut wurde nur über eines gesprochen, jetzt ist es Ihres geworden. Wie viel Anspannung fiel ab?

Klein: Das war dann in den letzten zehn Minuten doch einiges. Ich war überrascht, was sich so ganz in der Schlussphase noch so an seelischer Energie auf den Bogen gespannt hat.

Timm: Wie sind Sie die losgeworden?

Klein: Abwarten, wie man das im Laufe des Lebens so lernt, einfach sitzen und abwarten.

Timm: Was machen Sie mit dem Preis, den Sie jetzt gewonnen haben?

Klein: Na ja, falls Sie jetzt das Geld meinen, so wahnsinnig viel Geld ist es ja nicht, das speist sich irgendwie so ganz zwanglos in einen Vierpersonenhaushalt ein. Interessant an dem Preis ist natürlich, dass er in die Leserschaft hinein, ins literarische Feld hinein ein starkes Signal sendet. Plötzlich werden halt Leserinnen und Leser auf den Autor aufmerksam, und ich hoffe natürlich, dass es für dieses Buch, aber auch über das Buch hinaus für andere Romane von mir noch mal einen neuen Schub, einen ganz frischen Schub an Aufmerksamkeit gibt.

Timm: Sprechen wir noch mal über dieses Buch, diesen "Roman unserer Kindheit". Sie haben keinen Zweifel dran gelassen, dass Sie selbst es sind, der große Teile dieser Kindheit erlebt hat. Haben Sie sich eigentlich gern erinnert?

Klein: Ja, das Erinnern ist natürlich so eine Sache, es gibt natürlich auch eine Idee oder eine Illusion des Erinnerns. Nur es wirklich zu tun, ist etwas anderes. Also Erinnerungen überkommen einen auch beiläufig und bleiben in den seelischen Netzen hängen, die man so aufgespannt hat. Aber wenn man sich dann so aus vollem Herzen auf das Erinnern einlässt, passieren natürlich ganz andere Sachen. Also man stößt auf Erinnerungen, mit denen man gar nicht mehr gerechnet hat, man stößt auch auf Netzwerke aus Erinnerungen, die plötzlich aufgehen.

Und je mehr man gibt, umso mehr bekommt man, aber man bekommt natürlich dann das ganze Spektrum des Gefühls. Also man bekommt auch den großen Schrecken und die besondere Süße, und oft ist die besondere Süße sogar das Erschreckendste, wenn man plötzlich begreift, was für ein Glück und was für ein Gelingen irgendwann mal möglich war.

Timm: Es ist eine Kinderbande, die sich stützt, aber eben auch das Dunkle dieser Nachkriegszeit von klein auf verinnerlicht. Die Kriegsverletzten zum Beispiel prägen diese Jahre noch sehr stark. Wie sehr hat denn dieses Nebeneinander Sie und damit das Buch geprägt?

Klein: Also für mich ist es vor allem ein lichter Roman, es ist kein dunkler Roman. Natürlich hat er als Kontrast auch seine dunklen Seiten, aber es ist für mich vor allem der Roman des Kindheitslichts, und ich habe in der Zeit, wo ich dran gearbeitet habe, wirklich in einer ganz besonderen Sonnenhelle gestanden, und ich glaube, dass das auch als ein Element, also auch was das emotionale Spektrum des Romans angeht, im Leseakt sich dann wiederholen wird.

Das haben mir zumindest die gesagt, die den Roman intensiv gelesen haben, dass es ein lichter Roman sei. Und das gilt natürlich dann auch für die Versehrten und Verletzten, also diejenigen, die sich aus dem Krieg gerettet haben, aber ihm ihren Teil lassen mussten, oft ganz banal einen körperlichen Teil. Auch das sind nicht nur versehrte und nicht nur beunruhigende Gestalten, das sind auch welche, die auf eine ganz besondere Art und Weise noch mal Glück gehabt haben. Und es sind auch Helfer, es sind sogar Helden dieses Romans.

Timm: Sie haben den Roman dann sehr optimistisch "Roman unserer Kindheit" genannt, also wenden sich an eine ganz große Gruppe, von der Sie meinen, dass sie sich damit identifiziert. Gab es dann auch Leute, gleichaltrige Menschen, die es gelesen haben und gesagt haben, nee, bei mir war das ganz anders, diese 60er-Jahre?

Klein: Merkwürdigerweise nicht. Ich glaube, die das Buch wirklich intensiv gelesen haben, haben gemerkt, dass das Zeitgeschichtliche, also die zeitgeschichtliche Erzählung, keine entscheidende Rolle spielt. Also es ist nicht ein Roman, das anknüpft an, ja, was weiß ich, "Spiegel"-Sonderheft 60er-Jahre oder an populäre Fernsehsendungen zur Mentalitätsgeschichte der 60er-Jahre. Also diese Erzählwelten sind literarisches Erzählen, kann weitgehend auf solche Bezüge verzichten.

Timm: Schreiben Sie eigentlich im Hinblick auf einen vorgestellten Leser, eben auch "Roman unserer Kindheit" oder letztlich doch wieder ganz für sich?

Klein: Unbedingt, also ich schreibe unbedingt auf einen vorgestellten Leser. Also die Imagination, die, ja, wie soll man sagen, die innere Errichtung eines starken und fantasievollen Lesers, das brauche ich jeden Tag, wirklich. Wenn ich an dem Vorhandensein der starken Leserinnen und Leser zweifeln würde, würde mich auch jede Freude, würde mich wirklich die Energie verlassen. Da draußen müssen die ganz starken Leser sein, sonst macht es keine Freude.

Timm: Sie sagen, die starken Leser. Wie wünschen Sie sich die Leser, was sind für Sie starke Leser?

Klein: Na ja, die Stärke besteht in einem gewissen Durchhaltevermögen natürlich, in der Bereitschaft, das, was man an Fantasiekapital in sich hat, zum Leben zu erwecken, und in der Bereitschaft, auch das Ganze emotionale Spektrum, das Sprache in einem aufrufen kann, auslösen kann, das ganze emotionale Spektrum gelten zu lassen.

Timm: Deutschlandradio Kultur, das "Radiofeuilleton", wir sprechen mit dem Schriftsteller Georg Klein. Er hat für seinen "Roman unserer Kindheit" den Leipziger Buchpreis gewonnen. Herr Klein, es ist ja keine einfache Sprache, die Sie benutzen – könnte man ja eventuell vermuten bei dem Titel –, sondern es ist eine sehr kunstvolle, und für diese kunstvolle Sprache sind Sie seit Langem gerühmt. Es gibt Menschen, die diesen Stil ein wenig mit dem von Kafka vergleichen. Macht Sie das schwindelig?

Klein: Nein, schwindelig nicht, aber Vergleiche sind ja vor allem dazu da, Unterschiede festzustellen und nicht nur dazu da, Identität zu erzeugen. Also Stilvergleich ist interessant, weil man Unterschiede sieht. Und deswegen bin ich für Stilvergleich und Stilkritik sehr dankbar. Kafka halte ich allerdings eher für eine Sackgasse.

Timm: Wenn das eine Sackgasse ist, wo geht die leitende Straße hin, die Sie geführt hat auf Ihrem Weg als Schriftsteller, sprachlich?

Klein: Also stilistisch würde ich natürlich nie etwas verraten. Glauben Sie mir, wenn ich jetzt zwei, drei Namen nennen würde von Vorbildern, die würden mich bis an mein Lebensende verfolgen. Und deswegen schweige ich da drüber.

Timm: Das ist klug. Dann frage ich Sie, was Georg Klein als Kind gern gelesen hat?

Klein: Ich habe als Kind alles gelesen, was mir in die Finger fiel. Es gab einfach nicht so viel Möglichkeiten, an Bücher zu kommen. Eigentlich gab es in meiner Grundschulzeit nur zwei Möglichkeiten: Es gab eine sogenannte Leihbücherei, ein Zeitschriften- und Tabakwarengeschäft, wo man Bücher gegen geringe Summen ausleihen konnte, und es gab den Autobus der Stadtbibliothek, der alle 14 Tage bei uns in der neuen Siedlung Bärenkeller eintraf.

Und meine Mutter durfte fünf Bücher ausleihen, ich hatte eine eigene Kinderlesekarte, ich durfte auch fünf Bücher ausleihen, und das führte dazu, dass wir am Ende, bevor der Bus wiederkam, immer versuchten, die Bücher des anderen zu lesen. Das fiel meiner Mutter natürlich nicht schwer, aber ich weiß noch, mit welcher verzweifelten Hartnäckigkeit ich mich zum Beispiel durch einen Roman wie "Lieben Sie Brahms" von Françoise Sagan gekämpft habe, wo ich wirklich sehr wenig verstand, aber ich hatte nichts anderes mehr zu lesen. Und ich hatte gesehen, dass es meiner Mutter so gut gefällt, also hatte ich gedacht, das muss ich irgendwie auch schaffen.

Timm: Georg Klein, Sie sind 1953 geboren, vor zehn Jahren waren Sie Preisträger des Bachmann-Wettbewerbs, jetzt der Leipziger Buchpreis, dazwischen sehr gerühmte Romane – "Libidissi" zum Beispiel oder "Barbar Rosa" –, Ihre Anfänge aber, die waren recht langsam. Sie haben 15 Jahre lang überhaupt keinen Verleger gefunden für Ihre Texte. Sind Sie heute noch sauer auf die Lektoren, die Sie so lange haben schmoren lassen?

Klein: Nein, also ich kenne diese Menschen natürlich sehr gut, die sind natürlich auch heute noch im literarischen Leben tätig, und wir beackern jetzt ein gemeinsames Feld. Und warum soll ich über so was eigentlich ganz Selbstverständliches über so einen langen Zeitraum gram sein?

Es ist für das Außerordentliche, und dazu gehört auch ein außerordentlicher Roman halt, oft sehr schwierig, in einem Feld durchzudringen. Also mein Roman "Barbar Rosa" ist mit zehnjähriger Verspätung erschienen.

Timm: Oder war diese Zeit, in der Sie mehr oder weniger für die Schublade geschrieben haben, gerade wertvoll, um Sie als Schriftsteller zu formen?

Klein: Ich denke, nur bis zu einem gewissen Punkt. Also ich denke, so 1989 war ich eigentlich soweit. Also die letzten zehn Jahre hätte es nicht gebraucht, aber es war, wie soll man sagen, in sozialer Hinsicht war es eine Schonwelt. Also mir blieb erst mal der Einblick in das literarische Feld und auch in seine Abgründe doch weitgehend erspart.

Und es ist günstiger, also ich sehe es rückblickend als günstig, wenn man schon etwas älter und gefestigter und ruhiger ist und dann erst in ein kulturelles Feld tätig eintritt. Das hat Vorteile.

Timm: Sie leben heute in Ostfriesland, ziemlich abgelegene Wohngegend, zumal für einen, der immer auch mal wieder den Ruf hat, ein Chronist der Berliner Republik zu sein. Hilft der Blick auf den Deich, die Dinge mit dem richtigen Abstand zu betrachten?

Klein: Nun, ich glaube, es muss nicht sein. Also ich glaube, ich könnte inzwischen überall schreiben, aber die besondere Schönheit der ostfriesischen Landschaft, wie soll man sagen, die bildet so was wie eine strukturelle Analogie zu dem, was ein literarischer Text sein könnte. Also Sie schauen in den Himmel, und auf den ersten Blick ist er einfach nur blau, aber dann kommen die Wolken, und plötzlich entstehen so komplexe Strukturen, dass Sie sich ohne Mühe schöne Sätze oder vielleicht sogar einen ganzen Roman an den Himmel pinseln können.

Timm: Das heißt, die Sätze des Georg Klein, die formen oder formulieren sich manchmal bei einem langen Deichspaziergang.

Klein: Nein, nein, geschrieben wird vor dem PC. Das ist inzwischen schon längst normal, und vielleicht habe ich sogar inzwischen zu diesem Handwerkszeug eine libidinöse Beziehung aufgebaut, so wie ich sie früher zur Schreibmaschine oder zum Bleistift hatte.

Also ich lebe schon aus dem niedergeschriebenen Satz raus, ich bin eigentlich nicht der Typ, der vorher viel für sich denkt. Ich will den Satz in dem Augenblick, wo er kommt, auch schnell sehen, also ich will die Buchstaben und die Wörter sehen.

Timm: Der Tag so einer Preisverleihung ist natürlich ein aufregender, dann wird viel gefeiert, dann gibt es viel Rummel – können Sie die Tage der Buchmesse in Leipzig jetzt genießen oder freuen Sie sich schon wieder auf zu Hause?

Klein: Ja, beides. Ich meine, das wird jetzt natürlich sicher – ich bin noch bis Sonntagmorgen hier – das wird sicher eine sehr schöne Zeit, einfach weil jetzt viele Lesende auf mich zukommen, also Lesende, die ich kenne und mit denen ich im literarischen Feld, im Literaturbetrieb einen gemeinsamen Weg gegangen bin, aber auch Lesende, die ich jetzt neu kennenlerne. Und gerade in Leipzig ist es ja so, dass man wie in so einem Karpfenteich mit vielen Fischen schwimmen kann in diesem Frühlingswasser der Literatur.

Timm: Dann wünsche ich Ihnen beim Schwimmen im Karpfenteich alles Gute, noch schöne Tage in Leipzig. Der Schriftsteller Georg Klein hat mit seinem "Roman unserer Kindheit" den Leipziger Buchpreis gewonnen. Wir gratulieren von hier aus noch mal ganz herzlich, alles Gute und vielen Dank fürs Gespräch!

Klein: Vielen Dank!