Für die Schönheit zu klein

19.07.2012
Der kleinwüchsige Arzee hat eine Nische gefunden, in der er arbeiten und sich gleichzeitig verstecken kann: Er ist Filmvorführer. Doch dann kommt etwas dazwischen und Arzee bekommt großen Ärger. Der indische Schriftsteller Chandrahas Choudhury führt seine Leser in Arzees Welt, eine Welt voller kurioser Charaktere.
Nein, Günther Grass hat keine indische Konkurrenz bekommen, kein neuer Oskar Mazerath hat die Bühne der Literatur betreten. Der Zwerg Arzee, den der indische Schriftsteller Chandrahas Choudhury als seinen Erzähler gewählt hat, ist ein ganz normaler kleinwüchsiger Mann, kein Kind mehr. Dass er gut aussieht, macht seine Situation keineswegs leichter. Für die Schönheit ist er sozusagen zu klein. Er stößt auf Mitleid, statt auf Akzeptanz.

Am Anfang des Romans ist er Gehilfe eines Filmvorführers in einem jener alten Kinos in Bombay, in denen man für wenig Geld von morgens bis abends alte Schwarz-Weiß-Filme anschauen kann. Sein Kollege wird demnächst in Rente gehen und er hofft, dessen Posten übernehmen zu können - ein lang erträumter Aufstieg. Das Kino bedeutet für ihn eine Art ausgleichende Gerechtigkeit, denn als Filmvorführer schaut er aus seiner kleinen Kabine auf die Welt unter ihm herab. Niemand kennt sein Aussehen. Dort oben fühlt er sich groß. Umso schockierter ist er, als er dann erfährt, dass das Kino demnächst geschlossen wird. Statt Beförderung Entlassung. Für den kleinen Mann eine doppelte Ungerechtigkeit, ist er doch mit seinem Aussehen mehr als geschlagen. Er hadert überhaupt mit der Welt, hat immer Anflüge depressiver Stimmungen, vermutet bei allen, mit denen er zu tun hat, dass sie auch in übertragenem Sinne auf ihn runter schauen.

Chandrahas erzählt die Geschichte des Zwerges größtenteils in der 3. Person, er schaut ihm also über die Schulter. Diese Form ermöglicht es dem Autor, die Handlung voranzutreiben, aber er durchbricht sie immer wieder bewusst, um uns an Arzees Gedanken teilnehmen zu lassen, einen Blick in sein Inneres zu werfen. Die Brüche seines Lebens spiegeln sich auch im Stil wieder. Arzees führt selten seine Sätze zuende.

In den Phantasien, in die er immer wieder flüchtet, ist er kein hilfloser Zwerg, sondern erfolgreich, bewundert, geliebt. Und weil man sich mit Geld viel Anerkennung kaufen kann, lässt er auf illegale Wette ein, leiht sich dafür viel Geld, weil er auf große Gewinne hofft. Er verliert und steht nun in der Schuld einer kriminellen Bande.

Chandrahas Choudhury führt uns dann einen Geldeintreiber vor, wie ihn die Literatur wohl nur selten gesehen hat. Sein Gangster hat ein so weiches Herz, dass Bollywood und Hollywood ihn sofort aus dem Filmset werfen würden. Arzee sieht in ihm sogar eine Art Freund. Um seine Schulden abbezahlen zu können, verschafft ihm der Gangster sogar einen Job als Sandwichmann, was zu unfreiwillig komischen Szenen führt. Und dann hilft er ihm auch noch, eine alte Liebe wiederzufinden, die zerbrach, weil der Vater der Geliebten an Arzees religiösem Hintergrund Anstoß nahm. Doch der ist wie überhaupt seine Herkunft nicht das, was er stets geglaubt hat. Eine schockierende Erkenntnis.

Chandrahas Choudhury spart sich ein Liebes-Happy End; das wäre zu unrealistisch und kitschig. Aber er lässt seinen Protagonisten auch nicht ganz ohne Hoffnung. So endet der Roman mit einem Aufbruch in eine ungewisse Zukunft.

Besprochen von Johannes Kaiser

Chandrahas Choudhury: Der kleine König von Bombay
aus dem Englischen Kathrin Razum, dtv München 2012, 258 Seiten, 14,90 Euro
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