Früher Aufbruch in die Moderne

13.05.2009
Für die meisten Historiker setzt die Moderne in Europa mit dem Ende des Ersten Weltkriegs ein. Philipp Blom hingegen deutet in seinem Buch "Der taumelnde Kontinent. Europa 1900-1914" die Geschichte anders. Seine These: In den ersten 15 Jahren des 20. Jahrhunderts waren die Grundzüge dessen, was das Jahrhundert später ausmachen sollte, bereits angelegt.
"Alles schon dagewesen": diese müde, leicht blasierte Äußerung meist älterer Menschen hört man im Allgemeinen nicht so gern. Doch der Historiker Philipp Blom ist kein alter Mensch (Jahrgang 1970). Und schon gar nicht klingt er blasiert. Er schreibt vielmehr temperamentvoll, anschaulich und engagiert. Aber seine These lautet ebenfalls: Alles schon dagewesen. Und zwar in der Zeit von 1900 bis 1914.

In den ersten 15 Jahren des 20. Jahrhunderts, das weist er in 15 Kapiteln nach, die diesen Jahren gewidmet sind, war vorgebildet, was nachher das 20. Jahrhundert ausmachte – vor allem eine ungeheure Beschleunigung in allen Lebensbereichen, die eine Verunsicherung der Menschen mit sich brachte, die wir gemeinhin als das wesentliche Charakteristikum der Moderne betrachten: Unbehaustheit, transzendentale Obdachlosigkeit, Entfremdungsgefühle.

Diese Sicht ist geschichtswissenschaftlich gesehen tatsächlich eine kleine Revolution. Sind wir doch seit langem gewohnt, den Beginn der Moderne mit dem Ende der Monarchien in vielen europäischen Ländern und dem Ende des Ersten Weltkriegs anzusetzen: also 1918. In diesem Jahr, so sagt beispielsweise der berühmte englische Historiker Eric Hobsbawm, ging das lange 19. Jahrhundert zu Ende, und es begann das kurze 20. Jahrhundert, das wiederum mit dem Ende der Block-Konfrontation im Jahre 1989 sein Leben aushauchte. Nun also soll das 20. Jahrhundert schon 1900, 1901 und 1902 ff. in vollen Gang gewesen sein. Wie das?

Blom verweist auf den Siegeszug der Technik, der Maschine. Und auf die Defensivstrategien, mit denen viele Menschen –vor allem Intellektuelle und Künstler – auf die sich so rasant verändernde Welt reagierten: Niedergangs-Diskurse, Antisemitismus, mystisch-spirituelle Erneuerungen, Radikalisierung und Formzertrümmerung in den Künsten: Das alles waren Reaktionen auf die Modernisierung. In den einzelnen europäischen Ländern unterschiedlich intensiv und mit unterschiedlichen Schwerpunkten. In Frankreich beispielsweise mit seiner geringen Geburtenrate ist der Dekadenz-Diskus besonders ausgeprägt; in Deutschland das Reformdenken (es gibt nicht nur die Reform-Pädagogik, es gibt das Reform-Kleid, die allgemeine Lebensreform usw.).

Der synoptische Blick Bloms erfasst die Weltausstellungen und den Kolonialismus, die Psychoanalyse und die Naturwissenschaften, den Männlichkeitskult und die wachsende Homosexualität, den Niedergang des Adels und die revolutionären Bewegungen, die Frauenemanzipation und den Starkult in Theater und Film, das zunehmende Interesse für Wahnsinn und die Nervenschwäche als Krankheit der Epoche (heute Burnout-Syndrom genannt). Die Suche nach dem Übermenschen und die Stigmatisierung des Untermenschen. Den wachsenden Komfort und die Sehnsucht nach dem Primitiven, Ursprünglichen. Man fühlt sich als Leser wie in einem der Rund-Panoramen, die damals auf vielen Jahrmärkten standen und in denen man Ansichten ferner Länder an seinem Auge vorüberziehen lassen konnte. Eine bewegte, dynamische, experimentierfreudige Epoche wird da heraufbeschworen, und nach einer Weile drängt sich die Frage auf: Was konnten die restlichen 85 Jahre des 20. Jahrhunderts den ersten 15 eigentlich hinzufügen? Die Antwort: Im Grunde nur Massenmord – denn der kennzeichnete die Epoche nach 1914. Alles andere war im Keim bereits in den Jahren 1900 bis 1914 angelegt.

Rezensiert von Tilman Krause

Philipp Blom: Der taumelnde Kontinent. Europa 1900-1914
Hanser Verlag, München 2009
528 Seiten, 29,90 Euro
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