Fritz Stern: Deutsche erfreuen sich zu wenig an ihren Erfolgen

Moderation: Jürgen König · 15.10.2007
Der Historiker Fritz Stern hat den Umgang mit der deutschen Wiedervereinigung kritisiert. Die Deutschen sollten sich mehr über ihre Erfolgsgeschichten freuen. Damit meine er auch die Tatsache, dass es 1989 die erste, friedliche, erfolgreiche Revolution in der deutschen Geschichte gegeben habe. "Warum das nicht mehr anerkannt wird, ist mir noch immer ein Rätsel, und ich bedaure es", sagte Stern.
Jürgen König: "Fünf Deutschland und ein Leben", das waren die Weimarer Republik, Nazi-Deutschland, die zwei deutschen Nachkriegsrepubliken und das wiedervereinigte Deutschland. Über Ihr Leben in diesen fünf Deutschländern zu schreiben, davor, wie sie im Vorwort sagen, davor schrecken Sie jahrzehntelang zurück. Warum?

Fritz Stern: Als Historiker möchte man nicht die privaten, sozusagen Erinnerungen oder was immer, mit hereinbringen und ich war mit wirklicher Begeisterung, war und bin Historiker. Und deswegen widerstrebte es mir irgendwie, mich selber darzustellen.

Dann ist es mir aber trotzdem gelungen, sozusagen besonders in einem Kapitel, das nicht zu den fünf Deutschlands gehört, sondern zu der Zeit vor 1914 oder vor 1918, über meine Vorfahren. Und da hatte ich gesehen, dass meine Eltern verschiedene Kisten mit Briefen mitgebracht haben aus Breslau, aus Deutschland, selber aber nie wieder geöffnet haben, so dass das ein Reichtum darstellte, als ich mit dem Buch anfing. Und da konnte ich, wie gesagt, die Zeit vor 1918 anhand von Dokumenten, also das, was der Historiker gewöhnt ist, schildern.

König: Also, es war eigentlich gar nicht Sie selbst, der da sprach, sondern eben objektive Zeugnisse?

Stern: Ja, obwohl natürlich die Einschätzung, wie man es interpretiert, ist immer noch das Subjektive. Ich habe nie geglaubt daran, dass der Historiker, wie es manchmal im Positivismus im 19. Jahrhundert gegeben hat, dass man gesagt hat, der Historiker sollte sich selber auslöschen. Das habe ich immer gesagt, auch meinen Studenten, jahrelang, das geht nicht.

Gelegentlich muss man sagen: ich glaube oder, ich denke. Es war damals verpönt, jetzt in Amerika, und ich glaube auch in anderen Ländern, aber ganz besonders in Amerika, ist der Subjektivismus weit ausgebreitet. Historiker und Historikerinnen heute übertreiben beinahe das Ich.

König: Weil Sie diese Dokumente gefunden haben, beginnen Sie entsprechend Ihr Buch mit einem groß ausholendem Porträt Ihrer Heimatstadt Breslau. Sie erzählen dann von einem sehr aufgeweckten Kind in der Nazi-Zeit und von dem sich entwickelnden Hass auf das Nazi-Regime.

Sie beschreiben die Skepsis, die der Emigrantenfamilie Stern in den USA entgegenschlug und sie schildern das ganz konsequent aus der Perspektive eines Heranwachsenden. War das für Sie beim Schreiben noch mal so eine Art Nacherleben, dieses langen und ja so sehr reichen Lebens?

Stern: Das ist ja eine wunderbare Frage. Es war eine Art Nacherleben, aber ich hatte auch da sehr viel mehr Dokumente als ich in dem Moment, wo ich angefangen habe, das mir bewusst war. Ich hatte Tagebücher, ich hatte Kopien von Briefen, aber Sie haben ein gutes Gespür, es war zum Teil auch Nachleben, Erinnerungen und so weiter.

König: Was Sie ja sehr eindrücklich schildern, ist das allgemeine Mitläufertum. Mein Eindruck war, dass es Ihnen sehr wichtig war, zu zeigen, Hitler war nicht, wie soll ich sagen, unvermeidlich.

Stern: Das ist ganz richtig. Hitler war kein Zufall, aber er war auch nicht das Ziel der deutschen Geschichte, sondern er hätte vermieden werden können, und das war einer der Eindrücke mit dem ich mein Leben als Historiker begonnen habe.

Ich kam ja aus einer Zeit, wo ich mich erinnerte an die politische Opposition, die es vor 1933 gegeben hat, an die Verteidiger der Demokratie. Und dann als Historiker durch studieren und so, war es mir auch klar, dass es '32/'33 auch andere Möglichkeiten gegeben hätte, als Hitler zum Reichskanzler zu ernennen.

König: 1950 kehrten Sie zum ersten Mal wieder nach Deutschland zurück, nach dem Krieg, damals waren Sie dann 24 Jahre alt und, das beschreiben Sie, sie wussten ganz genau, was in Nazi-Deutschland geschehen war.

Sie schreiben von Ihrer Verachtung, davon, dass Sie sich ständig fragten, ob Ihr Gegenüber vielleicht zehn Jahre zuvor noch ein Nazi gewesen sein könnte. Sie nennen das eine vorauseilende Feindseligkeit. Fritz Stern, beschreiben Sie uns doch, wie daraus dann doch allmählich so etwas wie eine kritische Freundschaft sozusagen wurde?

Stern: Das ist völlig richtig von Ihnen beschrieben, aber ich würde erst Ihre Frage so beantworten, dass ich mich auf Golo Mann beziehe, der mal gesagt hat, wer in der braunen Zeit gelebt hat, wird das Misstrauen nie los. Das ging mir auch so. Jetzt ist es eine - wenn Sie von kritischer Freundschaft ... - ich habe wichtige Freundschaften mit Deutschen, die eine ganz wichtige Rolle gespielt haben in meinen Beziehungen zum Land, das ich an und für sich in den 30er-Jahren und auch in den 40er-Jahren verabscheute.

Durch Freundschaften und durch, hoffentlich auch, wenn ich das sagen darf, durch historisches Verständnis, ist der Hass verschwunden. Das Misstrauen ist eigentlich auch hauptsächlich weg. Obwohl wir ja alle wissen, dass man immer noch wieder von den Verstrickungen, von denen man nichts wusste, jetzt plötzlich hört.

König: Sie dürfen das ganz bestimmt sagen, mit dem historischen Verständnis, denn man hat beim Lesen Ihrer Erinnerungen den Eindruck, dass die deutsche Geschichte Ihnen in unendlich vielen Details wiederum wie vollkommen gegenwärtig ist Ihnen, der Sie seit 1938 in New York leben, von Bismarck und Rathenau über Stresemann, Hitler, Adenauer, Brandt, die DDR, Ulbricht, Honecker, bis zu Kohl und Schröder und Merkel. Mein Eindruck war, Sie müssen sehr an Deutschland hängen, stimmt das?

Stern: Gefühlsmäßig würde ich sagen, ich hänge an Europa und Deutschland ist ein Teil Europas. In meiner Jugend war ich, das beschreibe ich auch in dem Buch, in der Nazi-Zeit war es meinen Eltern möglich, sagen wir mal, einmal im Jahr Ferien zu machen und natürlich, wenn möglich im Ausland, nach '33 immer im Ausland, so dass es nicht nur die Freude an Ferien waren, sondern die Freude, im Ausland zu sein, in der freien Welt.

Und so habe ich Europa kennen gelernt und habe auch als Amerikaner immer das Gefühl gehabt, ich bin Amerikaner europäischer Abstammung. Und Europa war sozusagen auch mein Beruf, mein Geschichtsberuf. Dass ich mich hauptsächlich dann später mit der deutschen Geschichte befasst habe, ist auch richtig.

Aber ich würde da hinzufügen, dass ich möglicherweise es nicht immer explizit gesagt habe, aber implizit befolgt habe: Deutsche Geschichte kann nur verstanden werden, wenn man den europäischen Kontext berücksichtigt. Und das habe ich, glaube ich, in meinen Arbeiten, die Sie freundlicherweise erwähnt haben, immer wieder versucht.

König: Sie waren 1993/94 für einige Monate in Deutschland, haben damals ein Gespräch mit der "Zeit" geführt und haben da gesagt, wie verwundert Sie seien über den Grad der Bedrücktheit in Deutschland. Von Aufbruchstimmung gäbe es keine Spur, es gäbe auch keine Debatten, die irgendeine Aufbruchsstimmung hervorrufen könnte.

Sie sprachen dagegen, vom Glück der zweiten Chance, wie Sie das nannten, nämlich das Glück, dass Deutschland nach den verpassten Gelegenheiten auf dem Weg zur Demokratie nun mit der Wiedervereinigung zuteil geworden wäre. Haben Sie heute den Eindruck, dass Deutschland sich mittlerweile dieser zweiten Chance endlich bewusst geworden ist?

Stern: Also, ehrlich gesagt, muss ich das leider mit etwas Skepsis sagen, nicht so, wie man sich es hätte erhoffen können. Wenn man denkt, was die deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert durchgemacht hat und angerichtet hat. Dass man sich dann nicht mehr an Erfolgsgeschichten endlich erfreut, bei Erfolgsgeschichten meine ich nicht nur zum Teil die Bundesrepublik und ihre Verbindung mit dem Westen, sondern die Tatsache, dass schließlich und endlich, meinem Eindruck nach - ich weiß, dass das von anderen abgelehnt wird - dass ich den Herbst '89 in Ostdeutschland, in der DDR, als die erste friedliche erfolgreiche Revolution in der deutschen Geschichte ansehe.

Und warum das nicht mehr anerkannt wird, besonders in der alten Bundesrepublik unter den Westdeutschen, ist mir immer noch im gewissen Sinne ein Rätsel, und ich bedauere es. Das heißt nicht, dass ich, wie manche Leute glauben, einen neuen Patriotismus schüren möchte oder beipflichten möchte. Sondern richtig die historische Erinnerung, dass endlich was gut gegangen ist und das Traurige, um das milde Wort zu sagen, das Grausame, erste Hälfte des Jahrhunderts, die Grausamkeit, die von Deutschen ausgegangen ist und die dann auch die Deutschen gespürt haben, selber, am eigenen Körper, dass man dann nicht das Gefühl hat, ja trotzdem haben wir in der zweiten Hälfte doch einiges geschafft und wir haben jetzt eine Demokratie mit festen Institutionen.

Wir haben Fehler gemacht, aber wir haben auch einiges richtig gemacht, und wir haben, wie gesagt, das Glück gehabt, was ich mit zweiter Chance nannte, war, dass Deutschland vor 1914 eine Chance hatte, als führende Macht Europas sozusagen im Frieden die große Macht, die sie hatte und das große Prestige zu erleben, dass sie jetzt die zweite Chance hat, nach der Wiedervereinigung, behutsam mit der neuen Macht, jetzt eingebunden in ein neues Europa, sich zu entwickeln.

König: Letzte Frage, Fritz Stern: Was immer mitschwingt, wie genau Sie die Dinge auch beobachten, wie scharfsinnige Sie Zusammenhänge analysieren, bei alle dem merkt man immer auch einen unglaublich großen Witz, sehr, sehr viel Humor. Wie haben Sie sich den so viele Jahrzehnte hindurch bewahrt?

Stern: Das ist für das Leben notwendig. Das macht reine Freude mit etwas Humor, Ironie - ich bin ein begeisterter Leser von Heine - also wie gesagt, mit einem Schuss von Ironie, Humor durchs Leben zu gehen, besonders, wenn das Leben oft, gerade auch am Anfang, sehr, sehr schwer war.

König: Können Sie ein Gedicht von Heine hersagen, oder eine Strophe?

Stern: Die beiden Grenadiere - und als sie kamen ins deutsche Quartier, hörten sie die traurige Mär, der Kaiser, der Kaiser, gefangen, der eine sagt, das Lied ist aus, auch ich möchte mit dir sterben, doch hab' ich Weib und Kind zu Haus, die ohne mich verderben. Was schert mich Weib, was schert mich Kind, ich habe größeres Verlangen, gewähr mir eine letzte Bitte, nimm meine Leiche nach Frankreich mit, begrab mich in Frankreichs Erde.

Wollen Sie noch mehr haben?

König: Nein, wunderbar! Fritz Stern, "Fünf Deutschland und ein Leben", die Erinnerungen von Fritz Stern aus dem Englischen von Friedrich Griese übersetzt sind bei C. H. Beck erschienen, das Buch kostet 29,90 Euro. Wer sofort einen Eindruck bekommen möchte von der Kunst des Fritz Stern, der lese nur in der aktuellen Ausgabe der "Zeit" auf Seite zwei einen Artikel von ihm nach, eine Analogie zwischen Kaiser Wilhelm II. und Präsident Georg W. Bush wird da hergestellt, nicht polemisch, sondern argumentativ, ein wunderbarer Aufsatz, sehr zu empfehlen.
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