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Lehrermangel
"Wir werden Qualitätsprobleme im Bildungswesen bekommen"

Der deutsche Lehrerverband schlägt Alarm: Der Lehrermangel verschärfte sich immer mehr, sagte Verbandspräsident Heinz-Peter Meidinger im Dlf. Etwa 15.000 Stellen könnten bundesweit nicht besetzt werden, oft müssten Quereinsteiger Lücken füllen. Besonders an Grundschulen leide darunter die Qualität.

Heinz-Peter Meidinger im Gespräch mit Jörg Münchenberg | 28.08.2019
Der Bundesvorsitzende des Deutschen Philologenverbandes, Heinz-Peter Meidinger, aufgenommen am 15.04.2016 in seinem B
Heinz-Peter Meidinger fürchtet, dass die Qualität besonders in Grundschulen leidet (dpa/picture-alliance/Gregor Fischer)
Der bundesweite Lehrermangel habe mittlerweile auch Bayern erreicht, besonders an Grundschulen gebe es deutliche Lücken, sagte Hans-Peter Meidinger vom deutschen Lehrerverband im Dlf.
"Es ist ein riesiges Problem". Er arbeite seit 20 Jahren in seinem Beruf, ihm sei "noch kein vergleichbarer Lehrermangel begegnet". Etwa 15.000 Lehrerstellen könnten deutschlandweit nicht besetzt werden. "Das Problem hat sich deutlich verschärft, das wird von niemandem bestritten".
Quereinsteiger bekommen oft nur Crashkurse
Grundsätzlich sei nichts gegen Quereinsteiger einzuwenden, die Lücken im Lehrplan füllten, es dürften aber nicht zu viele sein. Außerdem müssten sie gut integrierbar sein. Eine gute Vor- und Nachqualifizierung sei nötig, so Meidinger. Oft bekämen die neuen Kolleginnen und Kollegen aber nur Crashkurse, die nicht geeignet seien, alles zu vermitteln, was ein ordentlich ausgebildeter Lehrer in seinem Studium lerne.
"Wir werden Qualitätsprobleme im deutschen Bildungswesen kriegen", sagt Meidinger deshalb. Das werde sich besonders an den Grundschulen zeigen. "Wir hatten bereits bei der letzten Grundschulstudie zum ersten Mal einen Rückschritt zu verzeichnen. Ich fürchte, das wird sich fortsetzen."

Das in Interview in voller Länge:
Jörg Münchenberg: Das Problem ist nicht wirklich neu und trotzdem stellt es sich derzeit jedes Jahr aufs Neue. Es gibt in vielen Bundesländern zu wenig Lehrer. Die Folge: Unterrichtsausfall oder aber der verstärkte Rückgriff auf sogenannte Quereinsteiger, also Berufsfremde, die dann per Aushilfsvertrag vorübergehend einspringen. Allein aber in Nordrhein-Westfalen, wo heute die Schule wieder startet, konnten bislang nur 58 Prozent der offenen Stellen überhaupt besetzt werden.
Am Telefon ist jetzt Heinz-Peter Meidinger. Er ist Schuldirektor im bayerischen Deggendorf und er ist zugleich Vorsitzender des Deutschen Lehrerverbandes. Herr Meidinger, einen schönen guten Morgen!
Heinz-Peter Meidinger: Guten Morgen, Herr Münchenberg.
Münchenberg: Herr Meidinger, in Bayern sind ja noch Sommerferien. Aber können Sie denn schon absehen, wie viele Lehrer an Ihrer Schule zum Schulstart fehlen werden?
Meidinger: Ich hoffe ganz stark, dass es mir noch gelingt, die fehlenden Lücken zu schließen. Aber der Lehrermangel, der in Bayern lange Zeit eher ein Fremdwort war, hat auch uns erreicht und insbesondere an den Grundschulen zeigen sich deutliche Lücken.
Münchenberg: In Nordrhein-Westfalen, wo heute ja die Schule beginnt, konnten bislang nicht einmal 60 Prozent der offenen Stellen besetzt werden. Wie groß ist das Problem Lehrermangel, wenn man jetzt einmal auf ganz Deutschland schaut?
Meidinger: Es ist ein riesiges Problem. Ich mache ja in meiner Funktion den Job schon über 20 Jahre und mir ist in diesem Zeitraum noch kein vergleichbarer Lehrermangel begegnet. Es ist tatsächlich ein riesiges Problem, vor dem wir an Deutschlands Schulen stehen.
"Das sind natürlich schon dramatische Zahlen"
Münchenberg: Aber kann man das noch ein bisschen genauer in Zahlen fassen?
Meidinger: Ja! Wir haben ja bereits Ende Juli mal eine Schätzung abgegeben vom Deutschen Lehrerverband, dass zirka 15.000 Lehrerstellen deutschlandweit nicht besetzt werden können, und bei weiteren 40.000 – teilweise sind die auch schon im Dienst – Unterricht erteilt wird durch Personen, die keine Lehrerausbildung haben, die nie eine pädagogische Vorlesung gehört haben, nie vor einer Klasse gestanden sind, und das sind natürlich schon dramatische Zahlen.
Münchenberg: Auf der anderen Seite: Bei der Kultusministerkonferenz heißt es ja, die Zahlen wären schwierig einzuordnen, weil viele Besetzungen erst in den letzten Ferienwochen stattfinden, oder sogar in den ersten Schulwochen. Muss man mit den Zahlen insgesamt nicht eher etwas vorsichtig sein?
Meidinger: Es ist richtig, dass es natürlich derzeit nicht möglich ist, eine genaue Zahl anzugeben, wie viele Lehrerstellen jetzt endgültig nicht besetzt werden können. Diese Zahlen liegen jetzt für NRW vor. Das ist ja doch eine hohe Zahl, 4.200. Wir lagen aber im letzten Jahr mit unserer Schätzung ziemlich genau richtig und deswegen nehme ich auch an, dass dieses Mal die 15.000 fehlenden Lehrer leider die Realität widerspiegeln.
Münchenberg: Das Problem, um es noch mal auf den Punkt zu bringen, hat sich insgesamt verschärft?
Meidinger: Das Problem hat sich deutlich verschärft. Das, glaube ich, wird auch von niemandem bestritten.
"Grundsätzlich gegen Quereinsteiger nichts einzuwenden"
Münchenberg: Nun behelfen sich ja viele Bundesländer auch mit Quereinsteigern. Berlin zum Beispiel greift vor allen Dingen auf Berufsfremde zurück. Ist das aus Ihrer Sicht eine gute Lösung?
Meidinger: Grundsätzlich ist gegen Quereinsteiger, die es immer schon im deutschen Schulsystem gegeben hat, der Diplomphysiker, der dann doch noch ins Lehrfach gewechselt hat, nichts einzuwenden. Voraussetzung ist, es ist nicht eine zu hohe Zahl, so dass sie gut integrierbar sind, und es findet eine ausreichende, etwa dem Referendariat vergleichbare Vorqualifizierung oder Nachqualifizierung statt. Das ist aber jetzt das Problem.
Wir haben Bundesländer, in denen die Mehrzahl, teilweise zwei Drittel, wenn man nach Berlin schaut oder nach Sachsen schaut, der neu eingestellten Quereinsteiger sind und für die auch keinerlei Vorqualifikation oder wenn, dann ein Kurz-Crashkurs stattfindet. Ähnlich ist es ja auch in NRW. Da findet ein Crashkurs statt, der natürlich nicht geeignet ist, in dieser kurzen Zeit alles das zu vermitteln, was ein ordentlich ausgebildeter Lehrer während seines Studiums und seines Referendariats dann alles an Qualifikationen erwirbt.
Münchenberg: Die Schulausbildung, würden Sie so weit gehen, wird schlechter?
Meidinger: Ich fürchte tatsächlich, dass wir auch Qualitätsprobleme im deutschen Bildungswesen kriegen werden. Das wird sich vor allem an den Grundschulen zeigen. Wir hatten ja bereits bei der letzten Grundschulstudie zum ersten Mal einen Rückschritt zu verzeichnen, bei Iglu und der IQB-Grundschulstudie. Ich fürchte, das wird sich fortsetzen.
"Im Augenblick führt an Notmaßnahmen kein Weg vorbei"
Münchenberg: Herr Meidinger, auf der anderen Seite: Zu Quereinsteigern gibt es ja wohl kaum eine Alternative, denn so schnell wird man ja mit der Ausbildung von neuen Lehrern an den Universitäten und Hochschulen gar nicht hinterherkommen.
Meidinger: Das ist richtig. Im Augenblick führt an Notmaßnahmen kein Weg vorbei. Das sind zum einen Quereinsteiger. Leider müssen viele Schulen dann auch zur Mehrarbeit für bestehende Lehrer greifen. Teilweise wird auf Studenten zurückgegriffen. Aber es sind Notmaßnahmen, die natürlich keine dauerhafte Lösung versprechen.
Münchenberg: Nun stellt sich ja das Problem des Lehrermangels vor allen Dingen an den Grundschulen, auch Sonderschulen. Wäre es da nicht zum Beispiel ein sinnvoller Schritt, dass ein Grundschullehrer jetzt zum Berufsstart genauso viel verdient wie ein Gymnasiallehrer, damit der Beruf insgesamt attraktiver wird?
Meidinger: Ich würde jetzt nicht als Lehrerverbandspräsident gegen eine Besserbezahlung von Lehrkräften sprechen. Allerdings muss man natürlich sagen: Erstens mal ist es keine kurzfristige Lösung und wir haben ja auch einen ständigen Wechsel zwischen Lehrermangel und Lehrerüberangebot. Ich kann mich noch gut erinnern, dass wir vor ein paar Jahren auch dringend Gymnasiallehrkräfte gesucht haben, insbesondere in Naturwissenschaften. Die Bezahlung rein nach dem Bedarf auszurichten, glaube ich, ist auch nicht die Lösung. Aber insgesamt – da haben Sie recht – müssen wir auch über insbesondere bessere Aufstiegschancen für Lehrkräfte nachdenken. Wir haben Lehrerlaufbahnen, die mit dem Einstiegsgehalt dann auch in Ruhestand gehen oder fast auf dieser Stufe in Ruhestand gehen, und das ist natürlich im Vergleich zu anderen Berufsgruppen keine gute Perspektive.
Münchenberg: Das Problem Lehrermangel stellt sich vor allen Dingen bei den Grundschulen. Wäre es da tatsächlich nicht doch sinnvoll, dass man auch finanziell vor allen Dingen den Job attraktiver macht?
Meidinger: Ich habe ja gesagt, ich bin nicht gegen eine Besserbezahlung. Nur das Problem ist doch folgendes: Wir haben derzeit vor allem einen Grundschullehrermangel, weil wir in den letzten Jahren – das ist auch ein Versäumnis der Vorgängerregierungen – Lehramtsstudienplätze im Bereich Grundschule massiv abgebaut haben und weil wir diese starke Zuwanderung hatten. Das waren über 200.000 Kinder im deutschen Schulsystem, die durch die Flüchtlingsbewegung 2015 bis 2017 gekommen sind. Insofern, glaube ich, ist es jetzt nicht grundsätzlich ein Problem der schlechteren Bezahlung, dass wir einen Lehrermangel an den Grundschulen hatten. Wir haben jetzt beispielsweise die Einführung von G9. Wir werden in einigen Jahren, wenn die Regierung nicht gegensteuert, auch einen starken Lehrermangel im Bereich Gymnasium haben. Von daher, könnte man sagen, muss man auch andere Lehrergruppen anheben. Aber ich glaube, das ist nicht die grundsätzliche Lösung.
"Auf jeden Fall mehr Studienplätze schaffen"
Münchenberg: Aber was wäre dann die grundsätzliche Lösung? Ein Problem ist ja offenbar auch der hohe Numerus Clausus für das Studienfach. Sollte man das zum Beispiel lockern, mehr Studienplätze schaffen?
Meidinger: Auf jeden Fall mehr Studienplätze schaffen. Der Deutsche Lehrerverband hat ja einen Vorschlag gemacht schon vor vielen Jahren. Um diesen ständigen Wechsel zwischen Überangebot und Lehrermangel auszugleichen, müssten die Länder in Zeiten, wo es viele gute qualifizierte Lehrkräfte gibt, sprich ein Überangebot, über Bedarf einstellen, um dann in anschließenden Lehrermangelzeiten dafür auch eine Reserve zu haben. Das wäre ein Vorschlag, der auch umsetzbar ist. Bislang sperren sich allerdings die Finanzminister der Länder dagegen.
Münchenberg: Nun haben ja viele Bundesländer auch wieder die Verbeamtung eingeführt, um den Beruf insgesamt attraktiver zu machen. Ist das aus Ihrer Sicht auch eine Grundbedingung? Berlin zum Beispiel geht da den ganz anderen Weg: Dort gibt es überhaupt keine Verbeamtung. Das hat ja auch zur Folge, dass viele Lehrer sich in Berlin ausbilden lassen, aber dann in die anderen Bundesländer abwandern.
Meidinger: Ich glaube schon, dass der Beamtenstatus für Lehrkräfte ein wichtiges Kriterium ist, übrigens nicht nur wegen der Berufswahl, dass da mehr Lehrer werden, sondern auch wegen der Unabhängigkeit und weil Bildung ja auch Staatsaufgabe im Grundgesetz ist. Und es zeigt sich ja auch, dass die beiden Bundesländer, die lange Zeit nicht verbeamtet haben oder immer noch nicht verbeamten, wie Berlin und Sachsen, mit die schwierigste Situation bei der Lehrerversorgung haben.
Münchenberg: Noch ganz kurz in die Zukunft geschaut. Ihrer Ansicht nach, hat die Politik, haben die Kultusminister das Problem ausreichend erkannt, weil die meisten Studien ja eher skeptisch sind in Sachen Lehrermangel?
Meidinger: Das ist schwierig zu sagen. Es wird natürlich jetzt massiv Lehrerwerbung betrieben. Es werden die Lehramtsstudienplätze wieder aufgebaut. Es gibt allerdings auch schon Prognosen, die sagen, viele, die jetzt neu anfangen zu studieren, die werden ja erst in fünf bis sieben Jahren fertig. Dann sitzen auf ihren Stellen aber die Quereinsteiger und dann werden wir wieder das umgekehrte Problem haben. Es ist wirklich schwierig. Ich persönlich würde jedem jungen Menschen, der sagt, Mensch, Lehrer wäre doch eine tolle Tätigkeit, sagen, mach das, mach es nicht abhängig von Lehrerbedarfsprognosen, sondern von Deinem persönlichen Interesse. Meistens findet sich dann auch ein Weg und jetzt zurzeit wären wir sehr froh, wenn in der Vergangenheit mehr junge Menschen Lehramt studiert hätten.
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Der Deutschlandfunk macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.