Freundschaft ohne Worte

Rezensiert von Wolfgang Schneider · 22.08.2006
Der französische Bestsellerautor Philippe Claudel erzählt mit einer Poetik der Schicksalsschläge und Rühreffekte die Geschichte des Monsieur Linh, der im Krieg bis auf seine Enkelin die gesamte Familie verliert und als Flüchtling nach Frankreich kommt. Dort freundet er sich mit einem alten Franzosen an. Die beiden verstehen sich auch ohne Worte.
Die unerhörten Metzeleien des Ersten Weltkriegs bilden den Hintergrund von Philippe Claudels Roman "Die grauen Seelen", mit dem dieser Autor vor drei Jahren nicht nur in Frankreich Literaturpreise und viele Leser gewann, sondern auch den internationalen Durchbruch schaffte.

Sein neues Buch, das in Frankreich lange auf den Bestsellerlisten stand, ist ebenfalls verdüstert von Kriegsleid. Es erzählt eine Flüchtlingsgeschichte und ist doch ganz anders als der, ungeachtet seiner stilistischen Eleganz, an hartem Realismus geschulte Vorgängerroman.

"Monsieur Linh und die Gabe der Hoffnung" liest sich eher wie eines dieser todtraurigen und zugleich so sentimental schönen Märchen von Hans Christian Andersen.

Monsieur Linh hat alles verloren. Er herrscht Krieg in seinem Land. Seine Familie fand er zerfetzt im Reisfeld. Nur seine halbjährige Enkeltochter Sang-diu hat den Bombenangriff überlebt. Mit ihr und einem Säckchen Heimaterde findet er sich nach abenteuerlichen Wochen auf dem Meer schließlich in der Flüchtlingsunterkunft einer französischen Hafenstadt wieder. Auch wenn Claudel in dieser parabelhaften Geschichte keine Orte nennt, so ist doch an das Schicksal vietnamesischer "boat-people" zu denken.

Alt und gebrochen, ganz auf sich allein gestellt in einer oft abweisenden Umgebung, deren Sprache er nicht versteht, gibt es für Monsieur Linh nur einen Grund, weiterzuleben: die Sorge um das Enkeltöchterchen, um das er sich rührend kümmert. Aber bald tritt noch ein anderer Mensch an seine Seite. Auf einem seiner Spaziergänge durch die fremde Stadt, das Baby immer fest an sich gedrückt, lernt Linh Monsieur Bark kennen, den gemütvollen Kettenraucher, ebenfalls ein alter, einsamer Mann, der um seine kürzlich verstorbene Frau trauert.

Auf einer Parkbank kommen sie ins Gespräch, bei dem das Gesagte Nebensache ist. Denn außer "guten Tag" haben die beiden Männer kein gemeinsames Wort, und wenn Monsieur Bark vom Holzpferdchen-Karussell spricht, mit dem seine Frau das Lachen in Kindergesichter zauberte, oder schamvoll gesteht, wie er einst selbst als Soldat in Indochina gemordet hat, dann versteht Monsieur Linh buchstäblich nichts davon, spendet für alle Fälle aber Verständnis und Trost. Bald verbindet die beiden aus der Welt gefallenen Männer eine innige Herzensfreundschaft, die sich in kleinen Gebärden und Geschenken ausdrückt. Jeden Tag treffen sie sich, jeden Tag kommen sie sich noch ein bisschen näher.

Dann wird die Flüchtlingsbaracke aufgelöst und Monsieur Linh mitsamt seiner Enkeltochter in eine Art Altersheim ans andere Ende der Stadt verfrachtet. Dort hält es ihn jedoch nicht lange. Unter Aufbietung seiner letzten Kräfte macht er sich eines Tages mit Sang-diu auf den langen, gefährlichen Weg, um seinen Freund wiederzufinden. Die Schlusspointe, auf die das ganze Buch sorgfältig hingearbeitet ist, hat große Erschütterungskraft, erst recht, wenn man dann noch einmal mit nassen Augen die ersten Seiten liest.

Als Literatur getarnte Erbauungstraktätchen à la "Monsieur Ibrahim und die Blumen des Koran" erfreuen sich großer Beliebtheit. Wohl in der Kalkulation auf einen Bestseller rückt der Verlag durch den deutschen Titel Claudels Buch in diese Ecke. Im Original heißt der kleine Roman nicht "Monsieur Linh und die Gabe der Hoffnung", sondern schlicht und unverdächtig "Die Enkeltochter von Monsieur Linh".

Claudel ist ein fesselnder Erzähler. Er versteht es, die Emotionen des Lesers aufzurühren und wirtschaftet auf jeder Seite mit plakativen Szenen und großen Gefühlen: Tod, Trauer, Verzweiflung, aber auch Fürsorge, Freundschaft und Liebe. Gewiss, Monsieur Linh ist ein einfältiger alter Mann, wie er nur im Märchenbuch steht, und das traumschöne ostasiatische Land seiner Herkunft hat etwas von einer exotischen Wellness-Oase. Aber es sind ja die von allen Trübnissen bereinigten, sehnsuchtsvollen Erinnerungen eines Vertriebenen, die in solchen Passagen die Perspektive bestimmen. Das muss erlaubt sein.

Wer freilich lieber die subtilen Zwischentöne mag, wird sich mit Claudels Poetik der Schicksalsschläge und Rühreffekte nicht anfreunden wollen. Der Autor treibt seine Geschichte bis hart an den Rand des Sentimentalen und Kitschigen. Aber eben nur bis zum Rand. Vor allem seine Sprache mit ihrer nahezu klassischen Einfachheit und punktgenauen Nüchternheit, stilsicher übersetzt von Christiane Seiler, bildet ein rettendes Gegengewicht.

Von Kafka stammt die Definition, ein Buch müsse eine Axt für das gefrorene Meer in uns sein. Claudel arbeitet mit derartigen Axtschlägen. Wer dabei nicht wenigstens ein bisschen auftaut, dem ist mit solcher Literatur nicht zu helfen.

Philippe Claudel: Monsieur Linh und die Gabe der Hoffnung
Roman. Aus dem Französischen von Christiane Seiler.
Kindler Verlag, Berlin 2006
127 Seiten, 14,90 Euro