Fremde, seltsame Welt

26.07.2012
Die fruchtbare Kreuzung von Journalismus und Erzählung gehörte zu den Ambitionen der Pop-Literatur. Niemandem ist das hierzulande besser gelungen als Marc Fischer, der sich im April 2011 das Leben nahm, gerade 40 Jahre alt.
Kurz vor seinem Tod hat er noch diesen Band mit ausgewählten Texten vorbereitet – Reportagen, die größtenteils in den letzten zehn Jahren entstanden. "Die Sache mit dem Ich" lautet der Titel, der die Methode angibt. Denn Marc Fischers Texte sind einerseits immer sehr welthaltig, andererseits stark ichdurchdrungen.

Was die Welt betrifft, so reist der Reporter nach Nairobi, um im "Hotel Somalia" die exilierten Politikers des gescheiterten Staates bei der Zimmerherrschaft zu beobachten. Er reist nach Key West ins Zentrum des Hemingway-Kultes; er verbringt einen schwärmerischen Nachmittag in einem Pariser Hotel mit Kate Moss. In Montecito, Kalifornien, spaziert er mit dem Schriftsteller T.C. Boyle durch dessen weitläufigen Garten und fürchtet sich ein bisschen – "fremde, seltsame Welt" lautet eine wiederkehrende Formel dieses großartigen, auch sehr komischen Textes. Er reist zum "Pfingstfest der Linken" an den Werbellinsee und besucht die Galerien von Miami Beach, wo die Stars ihr Geld in Kunst anlegen. Das alles sind für sich bereits interessante Orte und Themen. Für Fischer sind die möglichst fremden, möglichst seltsamen Welten aber vor allem eins: Experimente der Selbsterfahrung.

Immer ist er auf der Suche nach der ganz besonderen Geschichte. In Tokyo spielt er Detektiv und setzt sich auf die Spur eines ominösen Brillendiebs – eine nahezu klassische Short-Story mit fabelhafter Schlusspointe. Trifft Fischer sich zum Gespräch mit Katja Riemann, dann hat er den Ehrgeiz, die als interviewzickig geltende Schauspielerin einmal ungemein vorteilhaft zu präsentieren, was am humorlos-uncharmanten Verhalten der "Gouvernantengesichtsverleiherin" jedoch scheitert. Wie überhaupt die Interviews und Porträts immer auch Selbstauskünfte eines Reporters sind, der, während die Gespräche aus dem Ruder laufen, mit seiner übermäßigen Bewunderung, seiner Fragescheu oder aber mit gänzlich unzulässigen Fragewünschen zu kämpfen hat.

Bei Jennifer Lopez setzt ihm die Frage nach der Weltbedeutung ihres Pos zu, bei Michael Stipe glaubt er der Öffentlichkeit jene Auskunft schuldig zu sein, die der R.E.M.-Sänger, der sonst schon alle denkbaren Fragen beantwortete, noch nie gegeben hat: "Sind Sie schwul, Herr Stipe?" Fischers Texte werden hier zu erhellenden Parodien der Interview-Form, die als authentisch gilt und in Wahrheit meist sehr künstlich ist.

Natürlich geht es auch um die Popjahre. Dann schlägt Fischer bisweilen jenen "Wir"-Ton an, der sich seit Florian Illies doch ziemlich erschöpft hat und rekapituliert Generationserfahrungen. Den Beastie Boys schreibt er eine Hommage, die Rolling Stones schildert er mit dem befremdeten Blick des Nachgeborenen. Es sei "die dünnste und älteste und seltsamste Band der Welt" – auch das ist ebenso leicht wie prägnant formuliert.

In den besten Stücken löst sich Fischer fast ganz von der Reportageform. Dazu gehören skurrile Storys wie "Der Postkastenmann", wo der Ich-Erzähler einfach auf einem Briefkasten sitzt und bei den Vorbeikommenden Verwirrung stiftet. Dazu gehört auch der vielleicht schönste, auf jeden Fall anrührendste Text des Bandes ("Fünfzehn"), wo der Ich-Erzähler gezwungenermaßen eine Fünfzehnjährige im Auto mitnimmt, dann aber all seine Vorstellungen und Klischees über Pubertierende angesichts des hellwach plaudernden Mädchens revidieren muss. Was immer Dunkles Fischer zum Selbstmord getrieben hat – dieses Nachlassbuch ist eine wunderbar leichte Sommerferienlektüre.

Besprochen von Wolfgang Schneider
Marc Fischer: Die Sache mit dem Ich. Reportagen
Kiepenheuer & Witsch, Köln 2012
304 Seiten, 14,99 Euro
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