Fremd im eigenen Land

Rezensiert von Eberhard Straub · 07.02.2010
Der Journalist und Historiker Gustav Mayer stammte aus einer jüdischen Familie, die seit dem 17. Jahrhundert in Prenzlau in der Uckermark lebte. Sein Wunsch war, in der deutschen Kultur aufzugehen. Das wurde ihm erschwert durch die kulturellen Vorbehalte vieler Deutscher gegenüber Juden.
"Vor Ende des Jahres will ich wieder in Deutschland wohnen. Ich weiß es, dass ich ein Fremder bin im Reiche Wilhelms des Zweiten und dass die barbarischen Lebensgewohnheiten der Teutonen mich tausendmal anwidern werden. Ich fühle tiefer als je zuvor, dass ich aus anderem Holz geschnitzt bin als sie. Aber ihre Sprache ist die meine, in ihrer Landschaft habe ich zuerst die Jahreszeiten erblickt, und ihre großen Dichter sind meine Erzieher gewesen. Im nichtdeutschen Land bin ich ganz ohne Atmosphäre, völlig ein allein stehendes Atom, das nie auch nur vorübergehend in einer größeren Einheit aufgehen kann."

Das schrieb Gustav Mayer, Korrespondent der Frankfurter Zeitung, aus Brüssel 1903. Der Zögling der Weimarer Klassik und des deutschen Idealismus, schon damals einer Welt von Gestern, war im Grunde nirgendwo zu Hause. Er resignierte und hielt sich an die Devise: "Nur die Distanz gibt Freiheit".

Gustav Mayer, der später den Nachlass von Ferdinand Lassalle herausgab und eine längst klassisch gewordene Biografie Friedrich Engels' verfasste, stammte aus einer jüdischen Familie, die seit dem 17. Jahrhundert in Prenzlau in der Uckermark lebte. Sein Wunsch war, ganz und gar in der deutschen Kultur aufzugehen, nichts als ein Deutscher zu sein. Das wurde ihm erschwert durch die kulturellen Vorbehalte vieler Deutscher gegenüber Juden.

Akademiker mussten diese nicht unbedingt teilen, aber für viele unter ihnen machte sich Gustav Mayer, obschon kein Parteimitglied, verdächtig als Historiker des Sozialismus. Er konnte sich mitten im Kriege in Berlin nicht habilitieren, da liberale Fundamentalisten weiterhin Sozialisten für vaterlandslose Gesellen hielten, ungeachtet des kaiserlichen Versprechens im August 1914, nur noch Deutsche und keine Parteien mehr zu kennen.

Unter dem Eindruck dieses großen Wortes in der "gewaltigen Schicksalsstunde" des Reiches, erwachte in Gustav Mayer die "alte Sehnsucht" …

" … aufzugehen in einer großen Gemeinschaft, ganz im Gefühl eins mit ihr zu sein, von ihr anerkannt und beansprucht zu werden."

Er hoffte, dass es nach dem Krieg keine "Judenfrage" mehr geben werde und in einem demokratisierten Deutschland sämtliche Deutsche am nationalen Leben Anteil haben dürften. Seine Tagebücher, Aufzeichnungen und Briefe während des Ersten Weltkrieges und der Revolution unterrichten über die Erwartungen, Enttäuschungen und die Solidarität eines patriotischen deutschen Juden mit den übrigen Deutschen.

Gustav Mayer wollte den fürchterlichen Krieg als Mittel verstehen, Deutsche und Juden endgültig miteinander zu versöhnen. Zugleich hoffte er, dass sich der bürgerliche Nationalismus und der antibürgerliche Sozialismus unter dem Druck der Spannungen aus ihren jeweiligen Borniertheiten befreiten und zur Symbiose in einem nationalen Sozialismus fänden. Nach der verlangten auch seine Freunde, der Soziologe Werner Sombart, der Philosoph Max Scheler, der liberale Historiker Friedrich Meinecke oder der nationalliberale Politiker Friedrich Naumann als spezifisch deutsche Leistung während der Krise der bürgerlichen Welt.

Gustav Mayer war bald darüber beunruhigt, dass vor dem großen Moment mit seinen Herausforderungen die Politiker mit ihren kleinen Winkelzügen und beschränkten Gesichtspunkten jämmerlich versagten.

"Begabungen heraus! Heißt es jetzt, aus welchem Kreis auch immer. Wo bleiben sie?"

Er entdeckte sie auch nicht unter den Sozialdemokraten, Spießern und Bürokraten, die Angst bekamen als die Revolution 1918 ihre Mauscheleien mit den übrigen Parteien und dem Militär vorübergehend in Frage stellte. Aber die Scheidemann und Ebert fanden rasch den Weg zurück zur Mitte, kostete er auch einige Tropfen Blut. Doch es war nur Arbeiterblut, Blut extrem Radikalisierter, mit denen sich kein Staat machen lässt, wie es hieß. Der Bürger Gustav Mayer war kein Revolutionär. Aber er forderte in außergewöhnlichen Umständen Mut und überraschende Tatkraft. Die vermisste er bei den Sozialdemokraten. Deren Führer waren für ihn, wie er 1923 resümierte …

" … von kleinem Maß, ihnen fehlten nicht bloß staatsmännische Begabung, Instinkt, Kenntnisse und jener Ehrgeiz, der sich an die Sache hingibt, restlos, um im Werk fortzuleben. Nein, ihre große Mehrzahl waren hochgekommene Spießer, Leute des kleinen privaten Vorteils, muffige Kleinbürger, ohne Glauben, ohne Ideale, ohne moralischen Mut und ohne hinreißendes Verantwortungsgefühl."

Betrübt beobachtete er, dass man nicht einmal mit Sozialdemokraten eine Republik aufbauen konnte. Die Weimarer Republik verwies ihn erst recht auf das ideale Weimar, an dem er nicht irre wurde, selbst als deutsche Nationalsozialisten ihn zur Emigration nötigten. Er starb 1948 in London, ungetrennt vom wahren Vaterland eines jeden gebildeten Deutschen, vom Weimar Goethes und Schillers.

Gustav Mayer: Als deutsch-jüdischer Historiker in Krieg und Revolution 1914 - 1920. Tagebücher, Aufzeichnungen, Briefe
Herausgegeben von Gottfried Niedhart
Oldenbourg Verlag, München 2009
Gustav Mayer: "Als deutsch-jüdischer Historiker in Krieg und Revolution 1914 - 1920"
Gustav Mayer: "Als deutsch-jüdischer Historiker in Krieg und Revolution 1914 - 1920"© Oldenbourg Verlag