Fremd, allein, gedemütigt

08.06.2012
Gábor Németh hat mit "Bist du Jude?" einen in jeder Silbe schmerzvollen Roman über die Kindheit geschrieben. Über die alltäglichen Grausamkeiten eines unerbittlichen Systems, über die tiefen Wunden in der Seele eines sensiblen Jungen, die auch nach vielen Jahrzehnten nicht verheilen wollen.
Ein Ferienlager im kommunistischen Ungarn: Alles ist, wie es immer ist. Man schläft mit zu vielen Leuten in zu kleinen Zimmern, man bekommt undefinierbare Masse auf das trockene Brot geschmiert, mal süß, mal fleischig, aber immer viel zu fettig. Ein Junge, Gábor, ist mittendrin. Und mutterseelenallein. Er beobachtet alles, er sieht alles – und er bleibt stumm und tatenlos. Sogar dann, als seine Ferienlagerkameraden einen Frosch finden und ihm mit einem Taschenmesser das Maul vergrößern, bis das Tier – lebendig eingegraben – verendet. Gábor Németh hat mit "Bist du Jude?" einen in jeder Silbe schmerzvollen Roman über die Kindheit geschrieben: über die alltäglichen Grausamkeiten eines unerbittlichen Systems, über die tiefen Wunden in der Seele eines sensiblen Jungen, die auch nach vielen Jahrzehnten nicht verheilen wollen.

Die Art und Weise, auf die der ungarische Schriftsteller über seine Kindheit und Jugend erzählt, ist drastisch und poetisch zugleich: "Ich war noch nicht geboren, da hatte man mich schon zweimal töten wollen." So leitet der Ich-Erzähler beispielsweise eine Episode ein, in der er sich noch im vermeintlichen Paradies des Mutterleibs befindet – während eben jene Mutter erst auf gewaltbereite Milizen, später auf russisches Militär trifft und der Katastrophe nur knapp entgeht: "Der im Ballonmantel hebt die Maschinenpistole mit Trommel, meine Mutter bleibt stehen, erstarrt, und durch ihr Blut, durch die sogenannte Nabelschnur versetzt sie mich in mordsmäßige Angst, und dann bereitet sie sich auf die allereinfachste Art auf den Tod vor. Nämlich gar nicht."

Das Großartige an diesem Roman: Gábor Németh hat einen Stil gefunden, der nie selbstmitleidig ist oder nach Bekenntnisliteratur klingt: Selbst im schlimmsten Augenblick ist Platz für Humor und Selbstironie, und überhaupt: den eigenen Erinnerungen traut der Autor bei Weitem nicht alles zu, was er im Roman immer wieder offen zugibt – und im Zweifelsfall einfach Dinge erfindet. So, wie auch das Bekenntnis zum Judentum allein eine Erfindung ist: Der junge Gábor glaubt schlichtweg daran, Jude sein zu müssen – weil es das Gefühl ist, was er teilt: fremd zu sein, allein zu sein, gedemütigt zu sein.

Das alles liest sich übrigens leicht, als würde der Autor auf einer Bühne stehen und Ausschnitte aus seinem Leben erzählen, wie sie im gerade in den Sinn kommen. Doch diese Leichtigkeit ist hart erarbeitet: Literarisch und sprachlich raffiniert springt Gábor Németh von einer Erinnerung zur anderen, variiert das Tempo, gibt sich selbst die Stichworte für Exkurse und Ereignisse. Übersetzt hat das Buch Terézia Mora, selbst Schriftstellerin – und das spürt man: Sie schafft es, dem schmerzlichen Leben des Ich-Erzählers so messerscharf Ausdruck zu verleihen, dass man es nach der Lektüre nicht mehr vergisst.

Besprochen von Martin Becker

Gábor Németh: Bist du Jude?
Aus dem Ungarischen von Terézia Mora
edition atelier
180 Seiten, 18,90 Euro