Freiheit oder Liberalismus (2/4)

Wie das Ich zu Markte getragen wird

Handy und der Fahrdienst-App Uber
Der Online-Fahrdienst Uber macht den Taxi-Unternehmen Konkurrenz. © Imago
Von Philipp Lemmerich · 10.02.2015
Das Individuum verdingt sich mit all seinen Facetten als Wegbereiter des Neoliberalismus. Dabei hängt der Erfolg von Online-Angeboten wie dem Fahrdienst Uber oder AirBnB, dem Anbieter privater Unterkünfte, auch mit der Selbstdarstellung der Teilnehmer zusammen.
"Das Verhältnis von Leben und Produktion ist vollendet widersinnig. Mittel und Zweck werden vertauscht. Das reduzierte und degradierte Wesen sträubt sich zäh gegen seine Verzauberung in Fassade."
Theodor W. Adorno, Minima Moralia.
"Ich gehöre zu den Menschen, die zu viel Information in sich aufsaugen wollen immer."
Holger, Mitte 20, Student aus Leipzig. Facebook-Freunde: 598. 176 Follower bei Twitter. Nutzt regelmäßig zwischen 30 und 40 Apps.
"Ich gehöre zu den Menschen, die beim Augenaufmachen als allererstes ihr Handy in die Hand nehmen und tatsächlich erstmal Facebook checken. Schon bevor ich aufgestanden bin."
Es gibt einen enormen Sog, angebunden zu sein an die Netze. Ich bin, weil ich vernetzt bin.
Ulrich Bröckling, Professor für Kultursoziologie an der Universität Freiburg.
"Also die wichtigsten Apps sind eingegliedert in soziale Netze, Produktivität - das sind so meine Kalender, meine Dienstpläne, dann Gesundheit - das sind so meine Fitness-Apps, wenn ich laufe oder generell Sport mache, um mich selbst zu kontrollieren. Dann hab ich meine Lifestyle-Apps: Mal geile Rezepte rausfinden, Shopping, Amazon oder Ebay-Kleinanzeigen. Da gehört auch noch mein Newsfeed mit rein, wo ich dann einfach auch mal gucken kann, was auf meinen ganzen abonnierten RSS-Feeds passiert. Und damit ich halt früh, wenn ich aus dem Haus bin, schon up to date bin und weiß, was draußen so heute Phase ist einfach."
"Manchmal denke ich mir, es ist wie ein Rettungsanker, der ihnen die Möglichkeit eröffnet zu erfahren, dass sie noch da sind."
Ulrich Brieler, Professor für Philosophie an der Universität Leipzig.
Ob das der kritischen Mündigkeit Vorschub leistet, ob es tatsächlich so ist, dass mittlerweile jeder an jedem Ort alles Wissen der Welt zu sich nehmen kann, oder ob da nicht Gestalten des Denkens heraus erwachsen, die in höchstem Maße fremdbestimmt sind, das scheint mir eine offene Frage zu sein - aber auch Ergebnis von politischen und geistigen Kämpfen, die darum zu führen sind.
Sich als Marke verstehen
Schon lange hat das Digitale seine Makellosigkeit verloren. In den sozialen Medien stelle der Einzelne sich bloß, schreibt der Philosoph Byung-Chul Han. Er mache sich nackt vor der Öffentlichkeit und verkomme so zum Konsumgut – nicht nur für seine Freunde und Follower, sondern auch für Big Data und NSA. All das geschieht freiwillig. Es gibt keine repressive Instanz. Der süße Duft der Freiheit ist in Wahrheit eine stetige Kontrolle - sanft, aber allgegenwärtig. Unfreiheit durch Autonomie zu organisieren liegt im Kern der Gesellschaft der Gegenwart.
"Es ist schon viel Selbstdarstellung bei mir dabei. Aber ich versuche immer, das in der Waage zu halten."
Holger ist kein unpolitischer Mensch. Akademische Ausbildung, wache Augen, humorvoll. Er weiß, was um ihn herum passiert. Zu Grexit, Pegida und der Krise des Journalismus hat er eine Meinung. Holger ist kein Smartphone-Nerd, wie sie gerade die ältere Generation in den digitalen Performern von heute immer noch zu sehen glaubt.
"Wenn ich mein Leben teile, dann versuche ich das so zu machen, dass es auch wirklich etwas Interessantes ist, einen Mehrwert für Leute hat, mit denen ich befreundet bin oder die mir folgen. Dass sie auch Denken: Mensch, hat er mal wieder eine geile Aktion gestartet. Ne komische Situation, wenn ich jetzt auf Arbeit bin, mit meinen Kollegen zum Beispiel. Ich poste schon, regelmäßig, auch viel, aber ich guck schon, dass es immer zu mir passt und zu meinen Followern."
Dieser Druck zur Selbstpräsentation ist so etwas wie Self-Marketing. Indem ich mich so zeige, wie ich mich gezeigt wissen möchte, „impression management", indem ich Eindruck zu machen versuche in meiner Peer-Group, in den Netzen. Meine eigene Besonderheit, meine eigene Individualität, das was mich von den anderen unterscheidet.
Eine Hand übergibt einer anderen einen Schlüssel.
Zimmer und Wohnungen zu teilen, zum Beispiel über die Internet-Plattform AirBnB, ist eine Form der "Sharing Econmy"© dpa / picture alliance / Jens Kalaene
Ein Retweet von Moderator Jan Böhmermann - ein Ritterschlag. Bei 50 Daumen klopft das Herz stärker. Doch hier geht es nicht um den Wettlauf nach Shares, Likes und Follower. Sondern um den Wettlauf im Allgemeinen, der in den sozialen Medien kulminiert. Die ewige Formel der Konkurrenz, die im Digitalen ihre Vervollkommnung findet. Erfolg hat, wer sich perfekt inszeniert.
"Verstehen Sie sich selbst als eine Marke. Verstehen Sie sich selbst als im Wettbewerb. Und versuchen sie zu schauen: Wer sind ihre Konkurrenten und wer sind ihre potentiellen Kundinnen und Kunden."
Ulrich Bröckling beschreibt keine absurden Fantasien marktgläubiger Ökonomen, sondern eines der stärksten Leitbilder unserer Zeit: das unternehmerische Selbst. Es ist ein Ideal. Ein Fixstern, unerreichbar. Kreativ, flexibel, eigenverantwortlich, risikobewusst, kundenorientiert. Ein ewiges Hin und Her zwischen Rundum-Evaluierung und Selbstoptimierung. Ein unternehmerisches Selbst kann man nie sein. Aber mit aller Anstrengung soll man versuchen es zu werden.
"Wenn ich im Wettbewerb stehe, dann muss ich schauen, was macht die Konkurrenz: Ich muss mich abheben von den Mitbewerbern. Ich muss Alleinstellungsmerkmale entwickeln. Anders sein als die anderen und besser oder zumindest interessanter. Die Konkurrenten müssen aber das gleiche: Alle sind ständig damit beschäftigt, in der Arbeit an sich selbst, in der Optimierung der eigenen Person sich an den potentiellen Abnehmern, den Kunden zu orientieren und an dem, was die Wettbewerber tun. Ich hab keine klare Richtung mehr, wo ich mich hinoptimieren muss, sondern die Aufgabe ist, permanent neu zu justieren, wo stehe ich, wie kann ich mich jetzt wiederum absetzen von denen, mit denen ich im Wettbewerb stehe. Ein enorm flexibilisiertes Modell, das eine möglichst große Differenz, Vielfalt, Diversität verlangt."
"Jeder hat sich als effizientes Humankapital zu begreifen, das sich dementsprechend zu entwickeln, auszubilden, natürlich lebenslang, versteht sich, zu optimieren, den Systemansprüchen in ständiger Herausforderung veränderlich zu präsentieren hat."
Die Geschichte der Selbstoptimierung reicht bis an die Wurzeln des Individuums. Erstmals wurde sich der moderne Mensch in der Renaissance seiner Freiheit und schöpferischen Kraft bewusst. Er begann, Herrschaftsverhältnisse zu hinterfragen. Mit pädagogischem Pathos verkündeten die europäischen Aufklärer den Ausgang des Menschen aus seiner Unmündigkeit. Das Gegenbild war das vollends entfaltete und gebildete Subjekt - eine ebenso wirkmächtige wie unerreichbare Idee.
Auch der Neoliberalismus beinhaltet Herrschaftskritik
Der Neoliberalismus, das Wirtschaftsregime von heute, knüpft daran nahezu nahtlos an. Auch er postuliert das autonome, kritische Subjekt. Auch er ist als Herrschaftskritik zu verstehen, als Warnung vor einem Zuviel des Staates. Er ist aber auch Kritik am Kapitalismus der Industriegesellschaft, an kalter Rationalität und verkrusteter Struktur. In einer aufgeklärten Welt mag sich kein Subjekt dem kalten Kapital beugen. Der Neoliberalismus inszeniert sich als Politik der Befreiung. Nur das Vokabular hat sich geändert: An die Stelle des mündigen Intellektuellen ist der wendige Entrepreneur getreten.
"Die Tatsache, dass so etwas so hat greifen können, so eine Anrufung: Handle unternehmerisch, hat auch damit zu tun, dass das an ein Begehren, an Sehnsüchte anknüpfen kann. Das hätte überhaupt keine Resonanz gefunden, wenn es nicht auch ein Versprechen beinhalten würde. Wenn es nur eine Zumutung wäre, hätten sich die Leute längst geweigert, dieser Zumutung zu folgen. Dieses Versprechen ist etwas, was mit Autonomie, mit Freiheit zu tun hat, mit Gestaltungsmöglichkeiten: Nicht mehr gesagt zu bekommen, was man tun soll, sondern darüber selber entscheiden zu können."
"Auf der einen Seite wird der Zwang, sich zum Humankapital zu machen, immer stärker. Man denke nur an all das, was an Management, Motivation, Coaching, Selbstertüchtigung, etc. pp. - Industrie sich mittlerweile etabliert hat - das sind ja alles Anrufungen, Appelle an den Menschen, ein produktives Wesen zu werden in Antwort auf die ökonomischen Herausforderungen, die sich uns stellen. Das ist das eine. Das andere ist, dass eine Weiterentwicklung dieses konsumistischen Kapitalismus in immer stärkerem Maße von den subjektiven Fähigkeiten und Fertigkeiten der Menschen abhängig ist. Kreativität, Erfindergeist, Ausdruckskraft, Wissensentwicklung, Sprachkompetenz, etc. pp."
Die Ökonomie von heute braucht die Autonomie des Subjekts. Nur so lässt sich Effizienz weiter steigern. Ausgebeutet wird alles, was zum Wesen der Freiheit gehört: Emotionen und Kreativität werden zu unique selling points. Auch Grenzüberschreitungen gehören dazu. Denn die Konkurrenz schläft nicht. Getrieben vom Wettbewerb ergründet der Unternehmer seiner Selbst sämtliche Lebensbereiche. Freizeit existiert nicht mehr. Alles ist verfügbar.
Die Verheißung ist auch eine ideologische: Empowerment, flache Hierarchien, die Vereinbarkeit von Beruf und Freizeit.
All das sind Chiffren für den Kampf der 68er-Bewegung gegen das Establishment. Heute hat sie sich die Marktwirtschaft zu eigen gemacht. Selbstzwang statt Fremdzwang. Anreize statt Repression. Kreativität statt Disziplin.
Die Herrschaft des Neoliberalismus ist sanft.
"In dieser Form der Regierung der Menschen, die nicht mehr qua Disziplin sich darstellt, sondern die in hohem Maße auf Selbsttätigkeit setzt - also sich selbst zum produktiven Humankapital zu erziehen - würde ich die neue Qualität des neoliberal-globalen Kapitalismus sehen. Der Neoliberalismus ist im Kern eine Revolution der Menschenführung."
"Eines Tages, als Martin nichts außer dem einfachen Soldatenmantel bei sich trug, begegnete er mitten im Winter einem nackten Armen. Dieser flehte die Vorbeigehenden um Erbarmen an. Doch alle liefen an dem Elenden vorüber. Da erkannte Martin, von Gott erfüllt, dass der Arme für ihn da sei. Also nahm er sein Schwert und teilte den Mantel mitten entzwei."
Versprechen des Start-Ups ist die Authentizität
Jedes Kind kennt die Legende vom heiligen Martin. Sie lehrt uns Selbstlosigkeit und Nächstenliebe. Aber Teilen erhöhe auch die Wohlfahrt, schrieb der Harvard-Ökonom Martin Weitzman in seinem 1984 erschienenen Werk "The Share Economy". Ressourcen würden effizienter genutzt und damit geschont. Im digitalen Zeitalter ist die Share Economy in aller Munde. Das Teilen und Vermitteln von Autos, Wohnungen, Gegenständen oder Dienstleistungen ist längst eine hippe Mode.
"Das Versprechen und die Traditionen, an die das anknüpft, sind die der Alternativbewegung, der Alternativökonomie, sind nahezu anarchokommunistische Utopien eines gemeinsamen Eigentums oder einer Kritik von Eigentum. Da gibt es ein Versprechen, das Versprechen des Teilens, des nicht mehr Bezahlenmüssens, des Gabentausches. Das ist das utopische Potential, was da angezapft wird, und was auch die Faszination ausmacht."
"Grüß Gott. - Hallo - Airbnb ne. - Genau - Kommen Sie rein. - Dankeschön - Was lange währt."
Christa, AirBnB-Vermieterin aus Dittelbrunn in Bayern.
Airbnb, milliardenschweres Start-Up aus Kalifornien. Mehr als 600.000 Angebote soll es auf der Vermietungsplattform geben. Eines davon in Dittelbrunn.
"Ich bin gar net so computerfit. Meine beiden Jungs sind ausgezogen Und ich wollte halt, wenn sie alle kommen und mit Kind kommen, dann ist das große Haus ja praktisch. Aber wenn sie nicht da sind, ist es eigentlich blöd. Ich wohn schon gerne da, aber es ist auch schwierig, das zu unterhalten."
Seit einem dreiviertel Jahr verdient sich Christa bei Airbnb etwas dazu. Ihr Sohn richtete die Profilseite ein, zwei Wochen später kam der erste Gast. Das große Versprechen des Start-Ups ist die Authentizität: Übernachten in echten Wohnungen, ein Eintauchen in den Alltag der Vermieter. Eine Alternative zu sterilen Hotelketten.
"Ich biete auch immer den Garten an, aber das hat bis jetzt noch niemand genutzt. Und im Sommer hab ich da auch ne Bank, da kann man sich abends in die Sonne legen. Vielleicht ist das dann zu intim oder zu ländlich. Im Sommer ist einmal das Fahrrad genutzt worden. Ich biete es halt an, weil ich's einfach da hab und mir nichts ausmacht. Ich biete auch mein Leseregal an oder eine Zeitschrift, aber das wird auch nicht gefragt. Die Leute sind immer mit ihrem PC ganz arg glücklich. Ich hatte noch nie jemanden hier, der nicht nen Laptop dabei hatte."
Die ehrliche Gastfreundschaft scheint die Gäste weniger zu interessieren. Die meisten sind Geschäftsreisende, die sich so eine teure Hotelübernachtung sparen. Christa selbst verdient 24 Euro pro Übernachtung. Dafür lädt sie ihre Gäste zum Frühstück ein und putzt wie eine Weltmeisterin. Kein sehr lukratives Geschäft. Das Unternehmen kassiert 15 Prozent Provision.
Grenzen der Erwerbsarbeit werden gesprengt
Was ich noch nie gemacht hab, ist dass ich nicht an Airbnb-Leute vermietet hab, weil ich doch da abgesichert bin mit Adresse und so. Und das finde ich doch eine leichte Sicherheit. Das ist eine gute Sache und Seite, und die vermitteln, und das Portal ist gut, und ich finde das sollte man net unterwandern. Weil das so schön organisiert ist. Dann soll das auch so bleiben.
"Früher, als ich Kind war, da war's noch üblich zu trampen. Da hat man sich an die Straße gestellt und den Daumen rausgehalten und wurde kostenlos mitgenommen."
Sven Gabor Janszky, Zukunftsforscher und Gründer des Think-Tanks 2beahead.
"Dann gab es irgendwann Mitfahrzentralen, noch viel später gab es Fernbusse und so weiter. Heute, wenn wir uns umschauen, gibt es ganz wenige Tramper. Also ist die Frage: Wollen Menschen das nicht, diese leichte Ökonomisierung? Und das ist in anderen Bereichen genauso. Wenn es darum geht, Sie brauchen ein Kindermädchen. Na klar können Sie auf die Straße gehen, oder ne Anzeige schalten und sagen: Mensch, wer hilft mir mal. Aber ist das nicht ein bisschen angenehmer für Sie, wenn Sie über irgendeine Online-Plattform jemanden buchen? Die meisten bewerten das eher positiv, weil sie sagen: Mensch, jetzt wird es irgendwie berechenbar, kalkulierbar. Es kostet mich ein paar Cent mehr, aber ich gewinne dadurch Lebensqualität und Sicherheit."
Plattformen wie Couchsurfing vermitteln schon seit Jahren Übernachtungsmöglichkeiten über das Internet - völlig kostenfrei, aber völlig unverbindlich. Airbnb ökonomisierte das Modell und macht nun Millionengewinne. Die Share Economy schafft Anreize, sich weniger ideologisch, sondern vielmehr rational zu verhalten. Möglich macht es erst die Digitalisierung. Denn über Internet und optimierte Apps lässt sich das Sharing effizienter gestalten - und letztlich alles ökonomisch verwerten. Was „Airbnb" für Wohnungen, ist „Uber" für Privattaxis, „Leihdirwas" für sämtliche Gegenstände, „Helpling" für Reinigungskräfte. Das Modell ist jeweils das gleiche: Aus jedem noch so privaten Lebensbereich lässt sich Bares schlagen.
"Wenn einmal ein Kind die Seiltänzer tanzen, die Musikanten blasen, die Mädchen Wasser tragen, die Kutscher fahren sieht, so denkt es, es geschähe alles aus Lust und Freude an der Sache. Wir aber wissen, worum es geht."
Friedrich Hebbel, Tagebücher.
Wir wissen worum es geht - um die Produktion von Kapital. Was bei Hebbel noch als Erwerbsarbeit zur Existenzsicherung gemeint war, verliert im Neoliberalismus seine Grenzen: geographisch, da global; die zwischen Öffentlichem und Privatem, zwischen Arbeit und Freizeit.
Ein Problem eines jeden Einzelnen von uns, könnte man meinen. Wer seine Bohrmaschine online monetarisieren oder in der Freizeit Touristen beherbergen möchte, kann dies tun - oder eben nicht. Die rationalen Anreize, es eben doch zu tun, scheinen aber vorhanden.
In Berlin ging der Share-Economy-Hype bisweilen so weit, dass ganze Wohnblöcke über Airbnb vermietet und so dem ohnehin angespannten Wohnungsmarkt entzogen wurden - bis die Stadtverwaltung einschritt.
"Wenn jeder seinen Kleinwagen als Taxi nutzen kann, und das über entsprechende Apps vermittelt wird, dann sind eben nicht unbedingt mehr geregelte Arbeitszeiten, bestimmte Mindestlöhne, wie sie gesetzlich gefordert sind, und auch als sozialstaatliche Errungenschaft gefeiert werden. Da lässt sich dann alles außer Kraft setzen. Also dieses utopische Potential, dieses geradezu kommunistische Versprechen, ist wiederum eingebettet in eine Wettbewerbsgesellschaft, und wird dort als Wettbewerbsvorteil genutzt, weil man auf diese Weise billiger Dinge anbieten kann. Und man ist deshalb billiger, weil man sich zum Beispiel nicht an Arbeitsschutz- oder Arbeitszeitregelungen halten muss oder sich nicht daran halten zu müssen glaubt."
Online-Fahrdienst Uber agiert in rechtlicher Grauzone
Mit der romantischen Vorstellung vom Teilen hat die Share Economy wenig zu tun.
Sie ist ein knallhartes Geschäft.
"Uber kann das sein, was sie wollen. Sie können eigentlich nur Vorteile haben."
Fabian Nestmann, General Manager bei Uber und Unternehmensprecher für Deutschland.
"Fahrer können sich anbieten, sooft sie wollen und so selten sie wollen und so lange sie wollen und so kurz sie wollen. Das steht jedem Einzelnen zu, wir geben da keine Vorgaben. Sie können also flexibel sagen: Ich möchte eine Stunde pro Woche oder pro Monat oder aber zehn Stunden an einem Tag oder an mehreren Tagen mich anbieten und Fahrten anbieten."
Uber, die viel diskutierte Fahrdienst-App aus den USA. Regelmäßig gehen Taxifahrer wegen drohender Einbußen auf die Straße. Auch Politiker äußern sich besorgt. Das Argument: Tausende sozialversicherungspflichtige Jobs gingen verloren. Denn Uber agiert mit seiner Fahrdienst-App in Deutschland in einer rechtlichen Grauzone, was Ausbildung und Bezahlung der Fahrer, steuerliche Abgaben und den Versicherungsschutz der Nutzer angeht. Diverse Gerichtsprozesse sind anhängig, ihr Ausgang unklar.
"Veränderung ruft natürlich immer eine Reaktion hervor. Und dann geht es darum, nach dieser ersten Reaktion pragmatisch zu eruieren, ist diese Veränderung in meinem Sinne oder ist sie in dem Sinne von einer Mehrheit, und wenn ja, wie möchte ich die gestalten und strukturieren."
"Ich bin mir ziemlich sicher, dass ein Fahrer von Uber, der ein bisschen unternehmerisch an seine Tätigkeit herangeht, wesentlich mehr verdient als ein heute sozialversicherungspflichtiger Taxifahrer. Das heißt: Natürlich verändern sich Regeln, selbstverständlich. Dass sich in unserer Wirtschaftswelt und Arbeitswelt Regeln verändern, das ist völlig normal. Ansonsten gibt es keine Innovationen. Und wir müssen dafür sorgen, dass diese Regelveränderungen in die richtige Richtung gehen. Ich kann mir absolut und zwar sehr einfach ein öffentliches Beförderungssystem vorstellen, dass auf dem Uber-Prinzip funktioniert und wo keiner der Beteiligten unter ein Level von sozialversicherungs¬pflichtigen Jobs rutscht - eher hoch."
Auch das Uber-Prinzip braucht ein unternehmerisches Selbst. Den kleinen, flinken, emsigen Arbeiter, der seine eigene Effizienz weiter und weiter optimiert. Mit einer solchen Geschäftsidee in eine Lücke zu stoßen, die sich profitmaximierend nutzen lässt, ist in einem System der Profitmaximierung allerdings nicht illegal, sondern nur konsequent. Statt einer hysterischen Reaktion, wie in Deutschland geschehen, wäre ein kühler Kopf angebracht. Denn die Digitalisierung wird drastische Veränderungen nach sich ziehen - nicht nur im Taxigewerbe. Die Debatte um die Deutungshoheit ist längst überfällig.
"Wenn Sie so wollen, kann man davon ausgehen, dass sich zwischen die etablierten Anbieter von bisherigen Geschäftsmodellen und den Endkunden zwischenrein eine Softwareschicht legt. Und diese Softwareschicht muss man sich ungefähr so vorstellen wie Uber oder Airbnb, die es für Endkunden sehr sehr einfach macht, auf Knopfdruck jeweils das passende - in dem Fall Verkehrsmittel - zu finden. Es ist nicht so, dass Taxis verschwinden. Taxis wird's weiter geben. Aber zwischen Endkunde und Taxi liegt halt eben Uber. Und Uber bestimmt die Regeln und bestimmt die Preise."
Lebenslanges Lernen als kategorischer Imperativ
Das Moorsche Gesetz ist in der IT sehr umstritten - widerlegt ist es noch nicht. Es prognostiziert eine Verdopplung der Prozessorgeschwindigkeit von Computern alle zwei Jahre - bei gleichbleibenden Kosten. In zehn Jahren wäre die Leistung unserer Notebooks, Tablets und Smartphone 32x so hoch wie heute. Sie könnten es mit dem IBM-Supercomputer Watson aufnehmen, der 2011 die amerikanische Quizshow Jeopardy gegen zwei Menschen gewann.
"Welche Rolle spielt in dieser Situation Expertenwissen? Überhaupt keine. Weil diese Geräte es immer besser können. Die können mehr als wir. Und alle Menschen, die heute ihre Expertise verkaufen, ihr Wissen verkaufen, all die Verkäufer, die Makler, auch die Forscher und Wissenschaftlicher, auch die Ärzte, Journalisten. All die werden natürlich dadurch angegriffen. Jeder, dessen Qualifikation heute darin besteht, eine Maschine zu bedienen, der muss sich fragen, ob sich diese Maschine nicht in Zukunft selbst bedient. All die Taxifahrer, die Busfahrer, die Straßenbahnfahrer, die Lokführer, die Piloten - die verlieren."
Die Digitalisierung mündet nicht in der Share Economy, sie beginnt erst dort. Was uns erwarten könnte, ist eine vollständige Transformation der Arbeitswelt. Und eine kleine Anthropologie der Selbstoptimierung.
"Wer gewinnt? Es gewinnen diejenigen, die über dieses Expertenwissen hinaus eine menschliche Komponente da drauf bringen. Die verstehen, auf andere Menschen zuzugehen, andere Menschen zu motivieren, ein bisschen in den Hintern zu treten, zu begleiten, Prozesse anzustoßen, Denkprozesse anzustoßen und die dann ins Handeln zu bringen. Es gewinnen diejenigen Experten, die als Coach agieren. Und die machen ein viel besseres Geschäft."
Im Kampf um den Jackpot ist das Projekt "Ich" gefragt: Emotionenwelt und soft skills, Persönlichkeit und Sozialverhalten, Träume und Triebe - das Management des individuellen Portfolios lässt sich immer noch ein stückweit optimieren. Die hohle Phrase des lebenslangen Lernens wird zum kategorischen Imperativ. Wer daran scheitert, ist selbst schuld. Während der Druck steigt, kehrt der Duktus der Macht zurück. Die Krise der letzten Jahre hat die Tonalität verändert.
"Es ist nicht so sehr diese Verheißung, die heute das unternehmerische Handeln motivieren soll, sondern eine Drohung: Wenn du dich nicht genügend anstrengst, wenn du nicht deine unternehmerischen Fähigkeiten genügend entwickelst, wenn du nicht im Wettbewerb deine Alleinstellungsmerkmal entwickelst, dann wirst du abstürzen. Die Richtung, wie man sich verändern soll, ist geblieben. Die Tonlage hat sich verändert. Es ist eine Grammatik der Härte da rein gekommen. Es wird mehr mit Angst operiert als mit Glücksversprechen."
"Stehe! stehe! / denn wir haben / deiner Gaben / vollgemessen! / Ach, ich merk es! Wehe! wehe!/ Hab ich doch das Wort vergessen! / Ach, das Wort, worauf am Ende / er das wird, was er gewesen. / Ach, er läuft und bringt behende! / Wärst du doch der alte Besen! / Immer neue Güsse / bringt er schnell herein, / Ach! und hundert Flüsse / stürzen auf mich ein."
Goethe - "Der Zauberlehrling".
"Aus meiner Sicht muss man relativ klar sagen, dass die Politik vor etwa 20 Jahren ihren Gestaltungsanspruch aufgegeben hat. Ihren Anspruch zu bestimmen, wohin das Land sich bewegt. Jetzt ist die Wirtschaft die treibende Kraft von gesellschaftlicher Veränderung - und die Politik reagiert nur noch. Die Politik ist nur noch Ausputzer."
Mit seiner Studie "Das Kapital im 21. Jahrhundert" konnte der französische Ökonom Thomas Piketty im vergangenen Jahr zeigen: Noch nie war unsere Gesellschaft so reich wie heute. Doch die Ungleichheit erinnert an den Feudalismus. Das globale Kapital versteckt sich weit abseits auf den virtuellen Märkten einer digital vernetzten Finanzwelt. Die Politik verliert die Übersicht. Der Wohlfahrtsstaat zerbröckelt. Und der Unternehmer in uns ist gefangen im Hamsterrad der Selbstoptimierung. Hat sich alles verselbstständigt?
"Die Dramatik der Diagnose ist ja, dass dieser einmal in Gang gesetzte Prozess eine solche Dynamik annimmt, die sich als Natürlichkeit und als Selbstverständlichkeit im Alltagsverstand der Leute niederschlägt, dass sie nicht mehr steuerbar ist. Diese Option muss man im Auge haben. Das muss man ganz brutal sagen. Man hat die Verhältnisse entfesselt, aber es gibt keinen Zauberer mehr. Man verfügt nicht mehr über die Bedingungen, sie einzubinden, zu regulieren. Das Ding ist nicht mehr steuerbar. Too big to fail."
Wir sind ein Spielball unserer Selbst
Andererseits lässt sich recht genau beschreiben, wann sich der Neoliberalismus zum neuen - unsichtbaren - Leviathan über die Menschen erhob. Deregulierung, Privatisierung - es war ein politisches Projekt.
"Da Menschen das gemacht haben, da diese neoliberale Politik der Pflege der großen Vermögen und der großen Investmentfonds und der großen Konzerne von Menschen gemacht worden ist, besteht immer die Möglichkeit - wenn man dies kritisch durchschaut, dass man Gegenmaßnahmen ergreifen kann. Wo finden sich Momente der Resistenz, der Kritik, des Beharren auf Mündigkeit und Individualität? Wo sind die Risse? Diesem dialektischen Dilemma entkommen wir nicht. Es geht darum, wirklich glasklar - und ich nehme unsere Gegenwart eher so wahr, dass man sich davor scheut - glasklar diese systematischen Zwänge zu benennen. Und sie sind wirklich gewaltig. Aber auf der anderen Seite müssen wir mit gleicher Kraft versuchen, die Räume von Mündigkeit, die aus den Widersprüchen erwachsen zu erkennen, zu beschreiben, zu verteidigen und natürlich in der Hoffnung auf Emanzipation zu erweitern."
"Macht doch keine Gegenprogramme, versucht jetzt nicht euch auszudenken, welche tollen Strategien und wie ihr euch dann selbst subjektivieren müsst. Am besten einen Ratgeber mit Anleitung zum Widerstand schreiben. Sondern steigt aus der Logik des Programmierens aus. Hört einfach mal auf, an diesem permanenten Optimieren, das muss nicht sein. Ich muss nicht zum Coach gehen. Ich muss nicht Ratgeber lesen. Man kann das auch sein lassen. Also vielleicht sind Formen einer gewissen Wurstigkeit, einer gewissen Simulation von Anforderungen Spuren, denen man nachgehen könnte. Vielleicht fängt es mit solchen Mikropolitiken an. Ich glaube nämlich, dass ganz viele, letztlich alle, irgendwelche Strategien haben im Alltag, sich dem zu entziehen. Jeder hat doch seine kleinen Nischen, wo man Dinge nicht so macht, wie erwartet wird. Diese kleinen Formen der Subversion. Viel wäre schon gewonnen, wenn man das ins Gespräch bringt. Wenn man darüber miteinander redet, sich austauscht, sich Tricks mitteilt - das wäre schon einmal etwas, wo eine Form von Politisierung anfangen könnte."
"Vielleicht wird die wahre Gesellschaft der Entfaltung überdrüssig und lässt aus Freiheit Möglichkeiten ungenützt, anstatt unter irrem Zwang auf fremde Sterne einzustürmen."
Theodor W. Adorno, Minima Moralia
Die Komplexität der Gegenwart macht uns zu einem Spielball unser Selbst. Es wäre an der Zeit durchzuatmen und uns neu zu sortieren.
"Das ist ein ganz wichtiger Punkt, dass so etwas wie Ruhe, Gelassenheit, wie Muße, wie Kontemplation - dass das politische Aufgaben sind und Verteidigungswerte, Aktivitätsmöglichkeiten, die auf einer befreienden Agenda stehen, ja. Denken setzt immer Kontemplation voraus. Das scheint mir wirklich eine Zielrichtung zu sein, auf die man hinarbeiten müsste. Der neoliberalen Hektik mit einer ruhigen, gelassenen, sich der Emanzipation verpflichteten Vernunft zu begegnen. Die wichtigste Praxis für Menschen, die sich der Philosophie, der Sozialwissenschaft verschrieben haben, ist zu denken. Und wenn man diese relative Autonomie des Denkens anerkennt, dann ist das der beste Praxisbeitrag, den Intellektuelle leisten können."
"Sur l'eau, rien faire comme une bête, auf dem Wasser liegen und friedlich in den Himmel schauen, sein, sonst nichts, ohne alle weitere Bestimmung und Erfüllung, könnte an Stelle von Prozess, Tun, Erfüllen treten."
Theodor W. Adorno, Minima Moralia
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