Freiheit als höchster Wert

Rezensiert von Karen Horn · 09.01.2011
Das Buch ist in mancherlei Hinsicht unzeitgemäß, und auch darin liegt sein Reiz. Hayek verzahnt die Perspektive seines Fachs mit der Philosophie und dem Recht, ganz im Gegensatz zur heutigen Praxis der Ökonomie.
Es sei zugestanden: Dies ist kein einfaches Werk, die Argumentation ist nicht frei von Widersprüchen. Doch es stecken unendlich viele Denkanstöße darin. Es ist inspirierend, wie sorgsam Hayek um den Begriff der Freiheit ringt, sich mit ihrer präzisen Abgrenzung und Begründung plagt, mit ihrer Bedeutung und den Anforderungen an den Ordnungsrahmen – an die Verfassung – einer Gemeinschaft.

Warum gilt die Freiheit als höchster Wert? Hayek setzt die Freiheit nicht axiomatisch an die Spitze der Werteskala, er leitet sie auch nicht aus den üblichen, ihm aber fremden Naturrechtstheorien ab. Er wirbt für sie mit dem Argument der Zweckmäßigkeit. Freiheit ist schlicht zweckmäßig, weil die Menschen, wie schon Sokrates erkannt hatte, mit Unwissenheit geschlagen sind. Weil es dennoch immer wieder neue Herausforderungen gibt, die wir nur dann bestehen können, wenn wir dank der Freiheit Zugang zu Innovation und Dynamik und damit zu immer wieder neuen Lösungen erhalten.

"Freiheit ist wesentlich, um Raum für das Unvorhersehbare und Unvoraussagbare zu lassen … Weil jeder Einzelne so wenig weiß, und insbesondere, weil wir selten wissen, wer von uns etwas am besten weiß, vertrauen wir darauf, dass die unabhängigen und wettbewerblichen Bemühungen Vieler die Dinge hervorbringen, die wir wünschen werden, wenn wir sie sehen. So demütigend es für unseren Stolz sein mag, wir müssen anerkennen, dass der Fortschritt und selbst die Erhaltung unserer Zivilisation von der größtmöglichen Gelegenheit für den Eintritt von Zufällen abhängig sind."

Freilich gibt es keine Garantie dafür, dass in Freiheit immer die richtigen Entscheidungen gefällt werden. Irren ist menschlich, und, wie Hayek sagt: "Freiheit, die nur gewährt wird, wenn im Voraus bekannt ist, dass ihre Folgen günstig sein werden, ist nicht Freiheit." Dennoch bleibt Hayek wegen der Aussicht auf neues Wissen optimistisch, dass sie jedoch immerhin "im Ganzen mehr Kräfte zum Guten als zum Schlechten auslöst". Diese Hoffnung kann sich aber nur verwirklichen, wenn wir einsehen, dass wir nicht imstande sind, gesellschaftliche Prozesse zielsicher zu lenken. Alles, was die Politik mit Blick auf ein postuliertes Ziel voluntaristisch unternimmt, hat unbeabsichtigte, unüberschaubare und schädliche Nebenwirkungen – man denke nur an das an sich gut gemeinte Vorhaben in den Vereinigten Staaten, jeden Bürger zum Hauseigentümer zu machen, und an die damit gezüchtete Blase auf dem Wohnungsmarkt, den Vorläufer der Finanz- und Wirtschaftskrise.

"Bei den technischen Mitteln, die dem Staat zur Verfügung stehen, ist es nicht so sicher, dass (sich die spontanen Kräfte des Wachstums) noch durchsetzen können … Wir sind nicht weit davon entfernt, dass die bewusst organisierten Kräfte der Gesellschaft jene spontanen Kräfte zerstören könnten, die den Fortschritt möglich machten."

Hayek ist sich dabei bewusst, dass der Fortschritt, den die Freiheit ermöglicht, den Menschen oft überfordert. Fortschritt strengt an. Und Fortschritt schafft gesellschaftliche Ungleichheit, vor allem in materieller Hinsicht. Doch Ungleichheit wirkt stets als Antrieb und Ansporn, sie ist ein Quell sozialer Dynamik. Darauf zu verzichten, wäre zynisch gegenüber allen, die Mangel leiden. Selbst wenn uns Fortschritt unglücklich macht, können wir nicht auf ihn verzichten:

"Fortschritt ist Bewegung um der Bewegung willen, denn im Prozess des Lernens und in den Ergebnissen des Erlernten genießt der Mensch die Gabe der Vernunft."

Diese Überzeugung ist es, die Hayek auch dazu bringt, im Nachwort zu seinem Buch ausdrücklich zu betonen, dass er kein Konservativer ist. Der Konservative scheue sich, ungelenkten sozialen Kräften zu vertrauen. Er misstraue allem Neuen und Fremden. Er setze auf Autorität. Der Konservative bleibe stehen, der Liberale bewege sich. Der Liberale sei bereit, "der Veränderung ihren Lauf zu lassen, auch wenn wir nicht voraussagen können, wohin sie führen wird."

Doch was genau ist Freiheit? Es geht vor allem um persönliche Freiheit. Persönliche Freiheit und Verantwortung sind untrennbar. Hayek definiert Freiheit schlicht als weitgehende Abwesenheit von Zwang. Zwang bedeutet, dass ein Mensch dem Willen eines anderen Menschen unterworfen wird. Zwang bedeutet Willkür. Für physische Gewalt trifft dies in der Regel zu, Willkür geht jedoch darüber hinaus – wie weit, bleibt bei Hayek leider unklar. Sachzwänge wie jene, dass uns für bestimmte Vorhaben die Zeit oder das Geld fehlen mag, haben jedenfalls nichts mit Willkür anderer Menschen zu tun. Ganz ohne Zwang kann es indes auch in einer freiheitlichen Gesellschaft nicht abgehen. Die Androhung von Zwang von oben ist dann und nur dann gerechtfertigt, wenn sie Zwangsausübung zwischen Bürgern zu unterbinden hilft. Hierfür ist das Gewaltmonopol des Staates da.

"Dadurch, dass die Zwangsausübung des Staates unpersönlich und von allgemeinen, abstrakten Regeln abhängig gemacht wird, deren Wirkung auf einzelne Individuen zur Zeit ihrer Festlegung nicht vorausgesehen werden kann, werden auch sie zu Daten, auf die der Einzelne seine Pläne aufbauen kann. Zwang nach bekannten Regeln, der im allgemeinen die Folge von Umständen ist, in die sich die zu zwingende Person selbst begeben hat, wird … ein Werkzeug, das den Individuen bei der Verfolgung ihrer eigenen Ziele hilft, und kein Mittel, das zur Erreichung der Ziele anderer verwendet wird."

Entscheidend ist hier das Stichwort von den "allgemeinen, abstrakten Regeln", die sich eine freiheitliche Gesellschaft geben muss, abgesehen von den Traditionen, die als ungeschriebene Regeln das gesellschaftliche Miteinander strukturieren und leiten. Freiheit ist ein Produkt der Zivilisation. Vom naiven Glauben an die Demokratie, der heute zur "Political Correctness" gehört, grenzt sich Hayek klar ab: Wo Kollektive mehrheitlich entscheiden, muss der Bereich, über den sie verfügen dürfen, durch verfassungsrechtliche Grenzen eingehegt sein, sonst ist die Freiheit gefährdet. Auch hier greift Hayek auf das für ihn typische Wissensargument zurück:

"Mehrheitsentscheidungen sagen uns, was die Menschen im Augenblick wollen, aber nicht, was in ihrem Interesse läge zu wollen, wenn sie besser informiert wären; und sie wären wertlos, wenn sie durch Überredung nicht geändert werden könnten."

Hayek setzt vor allem auf die Herrschaft des Rechts. Er skizziert den Ursprung dieses Prinzips im antiken Athen und Rom, den Beitrag der Angelsachsen, das Vorbild der amerikanischen Verfassung, die Bedrohung durch die rationalistische französische Tradition und den deutschen Rechtspositivismus. Schließlich, nach den theoretischen Vorarbeiten, wendet sich Hayek der praktischen Wirtschaftspolitik zu: den Gewerkschaften, der sozialen Sicherung, der Besteuerung und der Umverteilung, der Währungspolitik, dem Wohnungswesen, der Landwirtschaft, der Bildung. Die Analyse der Fehlentwicklungen ist hellsichtig, präzise und schmerzhaft. Und doch wird staunen, wer bisher Hayek, die Neoliberalen und Minimalstaatstheorien gleichsetzte. Denn es zeigt sich, dass Hayek weit mehr Verständnis für staatliche Eingriffe hat, als man klischeehaft denken mag – nicht einmal Agrarsubventionen stoßen auf sein strenges Verdikt.

Das Buch ist in mancherlei Hinsicht unzeitgemäß, und auch darin liegt sein Reiz. Nicht nur verzahnt Hayek die Perspektive seines Fachs mit der Philosophie und dem Recht, ganz im Gegensatz zur heutigen Praxis der Ökonomie. Er pflegt auch einen ganz anderen, sehr klaren, nachdrücklichen, höflichen Stil. Dieses wichtige Werk ist es unbedingt wert, dass man es wieder gründlich studiert.

Friedrich August von Hayek: Die Verfassung der Freiheit
Verlag Mohr Siebeck, Tübingen 2005
Buchcover "Die Verfassung der Freiheit" von Friedrich August von Hayek
Buchcover "Die Verfassung der Freiheit" von Friedrich August von Hayek© Verlag Mohr Siebeck