Frauen sind anders krank als Männer

19.12.2006
Frauen erleben Schmerzen deutlicher, reagieren empfindlicher auf Stress und viele Arzneimittel wirken bei ihnen anders. Aber in Forschung und Arztpraxen werden Patientinnen behandelt, als gäbe es nur das männliche Geschlecht. Das Sachbuch die "Unbekannte Patientin" führt in die Gender-Medizin ein und ist ein Ratgeber für gesunde und kranke Zeiten.
Schon seit den 1980er Jahren ist die "Gender-Medizin", die geschlechtsspezifische Medizin, in den USA ein großes Thema. In Deutschland steckt sie noch in den Kinderschuhen. Noch ist Ärzten, Medizinforschern und auch den Patientinnen selbst hierzulande viel zu wenig bewusst: Frauen sind anders als Männer - und das hat Folgen für den Verlauf von Krankheiten und die Wirkung von Medikamenten.

Zumindest populärwissenschaftlich möchten die Lücke nun die beiden Biologinnen und Wissenschaftsjournalistinnen Birgit Frohn und Claudia Praxmayer schließen. "Unbekannte Patientin" heißt ihr Buch treffend. Es stellt die wichtigsten Erkenntnisse der geschlechtsspezifischen Medizin vor. Nach einer allgemeinen Einführung nehmen die Autorinnen ihre Leserinnen und Leser mit auf eine Reise durch den Körper in fünf Kapiteln – vom Gehirn über Herz und Kreislauf, Abwehrsystem, Knochen, Muskeln und Gelenke bis hin zum Magen-Darm-Trakt. Anschließend geht es um die Wirkung von Medikamenten und erst der Schlussteil widmet sich dem, was bislang als frauenspezifisch galt: den gynäkologischen Erkrankungen.

Körpergröße, Gewicht, Herzvolumen, Muskelmasse, Fettanteil und -verteilung, Hormonhaushalt – alles das differiert bei Männern und Frauen, erklären die Autorinnen. Frauen aktivieren in denselben Situationen andere Gehirnregionen als Männer, sie erleben Schmerzen deutlicher, reagieren empfindlicher auf Stress, viele Arzneimittel wirken bei ihnen anders und Rauchen schadet ihnen mehr. Frauen leben gesünder und ihre Lebenserwartung ist höher – gleichzeitig sind sie im Durchschnitt kränker als Männer. Dennoch hat die Medizin diese Fakten lange vernachlässigt. Warum?

Die beiden Autorinnen zählen eine Reihe von Gründen auf: Frauenspezifische Probleme – das klang nach sexuellen Konnotationen und wurde deshalb schlichtweg verdrängt. In der Wahrnehmung der meisten Mediziner spielt der Unterschied zwischen Mann und Frau nur dann eine Rolle, wenn es um Gynäkologie oder Urologie geht. Tatsache ist aber, dass Herz-Kreislauf-Erkrankungen unter Frauen die häufigste Todesursache sind – viel häufiger als Brustkrebs. Ein weiterer Grund für die Vernachlässigung von Frauen in der Medizin: Es ist sicherer, medizinische Studien ausschließlich oder vorwiegend mit Männern zu machen. Die sind nie schwanger, Risiken für Ungeborene bleiben ausgeschlossen. Und schließlich sieht sich der Mann generell als Norm, nicht nur in der Medizin.

So kommt es, dass Patientinnen heute eine fatale Mischung aus Über-, Fehl- und Mangelversorgung erhalten. Eine Überversorgung gibt es mit Psychopharmaka, erklären die Autorinnen: Eine Frau muss doppelt so oft zum Arzt gehen wie ein Mann, bevor ihre Symptome ernst genommen werden. Der Mann wird rundum durchgecheckt, die Frau als seelisch belastet abgetan. Verschrieben werden Beruhigungsmittel, oft mit suchtauslösender Wirkung. Sind Frauen aber ernsthaft krank, werden sie oft schlechter versorgt. Sie erhalten die preiswerteren, älteren Medikamente, Männer die modernen, kostspieligen.

Dass selbst gängige Medikamente sich in ihrer Wirkung bei Mann und Frau erheblich unterscheiden, ist vielen Ärzten nicht klar. Aspirin beugt bei Männern einem Herzinfarkt vor - bei Frauen nicht. Einige Schmerzmittel wirken bei Frauen stärker, andere sehr viel schwächer, und Antihistaminika können Herzrhythmusstörungen bewirken. Das wohl gravierendste Beispiel für die Fehlversorgung ist der Herzinfarkt. Frauen erleiden ihn immer häufiger - und öfter als beim Mann ist er tödlich. Selbst Ärzte verkennen die Symptome – sie sind bei Frauen anders als bei Männern - und geben Magentropfen, statt den Notarzt zu rufen. Selbst wenn Frauen einen Infarkt überleben, sind sie stärker als Männer vom Re-Infarkt bedroht - weil ihnen seltener Präventiv-Medikamente wie Cholesterinsenker verschrieben werden.

Die beiden Autorinnen behandeln ihr Thema mit flottem Stil, dennoch kommt auch die wissenschaftliche Exaktheit nicht zu kurz. Die aktuellsten Studien haben Eingang in das Buch gefunden, das schlicht und angenehm layoutet ist. Schwarz-weiß Fotografien mit Frauenporträts geben dem Buch einen Hauch Emotionalität. Farbig unterlegte Textkästen greifen einzelne Aspekte heraus. Und immer wieder bietet sich das Buch auch als Ratgeber an. So gibt es eine Checkliste, damit frau beim Besuch ihres Hausarztes die richtigen Fragen stellen kann, oder es werden Tipps zur Vorbeugung von Nierenerkrankungen gegeben - die bei Frauen sehr viel häufiger auftreten als bei Männern.

"Unbekannte Patientin" ist eine gelungene Mischung aus wissenschaftlicher Einführung in die Gender-Medizin und praktischem Ratgeber für gesunde und kranke Zeiten. Es wird gewiss Leserinnen finden: Denn Frauen interessieren sich für ihre Gesundheit, mehr als Männer – was denen gar nicht gut tut. Gender-Medizin, das heißt auch, so betonen die Autorinnen, Männer auf ihre besonderen Risiken aufmerksam zu machen.

Rezensiert von Susanne Billig

Birgit Frohn, Claudia Praxmayer: Unbekannte Patientin. Die Medizin entdeckt den weiblichen Körper neu.
Ullstein Verlag, 248 Seiten, 19,95 €