Frauen in der arabischen Welt

Ohne Furcht gegen Verachtung und Diskriminierung

Eine Gruppe von jungen Frauen in einer Einkaufspassage in der saudischen Hauptstadt Riad
Eine Gruppe von jungen Frauen in einer Einkaufspassage in der saudischen Hauptstadt Riad © dpa / picture alliance / Maxppp
Von Marie Wildermann · 30.05.2015
Die arabische patriarchalische Gesellschaft sei besessen davon, die Kontrolle über weibliche Lust und Sexualität zu behalten. Das schreibt die ägyptische Muslima Mona Eltahawy in ihrer Anklageschrift gegen Rückständigkeit und männliche Machtpolitik. Sie sieht Hoffnung, weil Frauen nicht mehr beschämt schweigen.
"Nicht ein arabisches Land schafft es unter die ersten Hundert des Global Gender Gap Report des World Economic Forum", schreibt Mona Eltahawy und rechnet ab mit den muslimisch-patriarchalischen Gesellschaften des Nahen Ostens und Nordafrikas. In der jährlichen Analyse zur Gleichstellung der Geschlechter, in der es um die Bereiche Gesundheit, Bildung, ökonomische Teilhabe und politisches Engagement geht, schneiden die arabischen und nordafrikanischen Länder miserabel ab. Jemen bildet das Schlusslicht. Im Jemen sind die Hälfte aller Frauen Analphabeten, es gibt nicht ein einziges weibliches Regierungsmitglied. Mit diesem Befund beginnt Mona Eltahawys Buch.
Die Autorin wird 1967 in Ägypten geboren. Als sie sieben ist, zieht die Familie nach London. Beide Eltern sind Ärzte. 1982, acht Jahre später, Umzug nach Saudi-Arabien, in Dschidda unterrichten die Eltern Medizinstudenten, die Mutter ist für die Studentinnen zuständig, der Vater für den Männercampus. Der Vater ist der Chauffeur seiner Familie, Frauen ist das Autofahren verboten. Wenn Mona und ihre Mutter mit dem Bus unterwegs sind, müssen sie ganz hinten im Bus Platz nehmen, der vordere Teil ist den Männern vorbehalten. "Es war, als wären wir auf einen anderen Planeten gezogen", schreibt Eltahawy. Sie verlässt Saudi-Arabien, als sie erwachsen ist, wird Journalistin, lebt in New York und Kairo. Das Leben in Saudi-Arabien hat sie sensibilisiert für alle Formen der Geschlechter-Apartheid.
Von "Sünde", Unterdrückung und Mord
Für ihr Buch hat sie unzählige Beispiele von Frauenverachtung und Frauendiskriminierung in der arabischen Welt zusammengetragen. Ein besonders drastisches fand sie in einer saudi-arabischen Zeitung:
"Feuerwehrleute erzählten der saudischen Presse, dass die Religionspolizei die Mädchen gezwungen habe, im brennenden Gebäude zu bleiben, da sie keine Kopftücher (...) getragen hätten und sich deshalb nicht in der Öffentlichkeit hätten zeigen dürfen. Eine saudische Zeitung berichtete, die Religionspolizei habe Männer, darunter Feuerwehrleute, zurückgehalten, die versucht hätten, den Mädchen aus dem Gebäude zu helfen, da es "Sünde" sei, sich den Unbedeckten zu nähern."
Warum ist ein Stück Stoff wichtiger als das Leben? Und was hat das mit Religion zu tun? Eltahawy beginnt, sich mit der Situation der Frauen in islamischen Ländern zu beschäftigen und welche Rolle die Religion bei der Unterdrückung von Frauen spielt. Die Marokkanerin Fatima Mernissi, die ägyptische Feministin Nawal El Saadawi und die liberale Muslimin Amina Wadud werden ihre Vorbilder. Sie schreibt für amerikanische Magazine, kommentiert auf Al-Jazeera, BBC und CNN. Kritisiert Kinderheirat, Ehrenmorde, häusliche Gewalt, und die Scharia-Gesetze, die Frauen in allen arabischen Ländern systematisch benachteiligen. Einem Kapitel ihres Buches hat sie ein Zitat der ägyptischen Frauenrechtlerin Nawal El Saadawi vorangestellt:
Cover Mona Eltahawy: Warum hasst ihr uns so?
Cover Mona Eltahawy: Warum hasst ihr uns so?© Piper Verlag
"Mehr als über den Verlust seines Augenlichts trauert eine arabische Familie, wenn ein Mädchen seine Jungfräulichkeit verliert. Tatsächlich würde es als weniger schlimme Katastrophe angesehen, wenn die junge Frau stirbt, als wenn sie ihr Hymen verliert."
Die arabische patriarchalische Gesellschaft, so Eltahawy, ist besessen davon, die Kontrolle über die weibliche Lust und weibliche Sexualität zu behalten. Legitimiert wird die Frauendiskriminierung in vielen Fällen von einer konservativen islamischen Geistlichkeit. Um die Verfügungsgewalt über Mädchen und Frauen zu behalten, werden Mädchen früh verheiratet, häufig im Kindesalter.
Ein Kapitel widmet die Autorin einem der schlimmsten Verbrechen an Frauen: der Genitalverstümmelung. Eltahawy nennt sie Folter:
"Laut UNICEF sind mehr als 125 Millionen Mädchen und Frauen, die derzeit in den 29 Staaten in Afrika und dem Nahen Osten leben, in denen die Genital-verstümmelung praktiziert wird, an ihren Genitalien beschnitten. Man schätzt, dass etwa 30 Millionen Mädchen bedroht sind, in den kommenden zehn Jahren eine Genitalverstümmelung zu erleiden."
Während der arabischen Revolution kehrt Mona Eltahawy nach Kairo zurück, sie gehört mit zu den Aktivistinnen auf dem Tahrir-Platz. In den ersten Wochen ist sie begeistert von der Aufbruchsstimmung, viele junge Ägypterinnen sind dabei. Das gesellschaftliche Aufbegehren erleben sie zugleich auch als persönliche Befreiung.
Sexuelle Übergriffe und Vergewaltigung
Aber es gibt auch weiterhin die andere Seite: Konservative, patriarchalische Männer, die Frauen auf öffentlichen Plätzen und Straßen – in der arabischen Welt eine Männerdomäne – sexuell belästigen. Auch in Behörden, bei der Polizei, beim Militär. Autoritäten, von denen sie sich Schutz erhoffen, sind sexuell übergriffig. Mona Eltahawy wird selbst Opfer einer Vergewaltigung. Ein Schock, von dem sie sich lange nicht erholt. Erst als sie beginnt, das Schweigen zu brechen, merkt sie, dass viele Mädchen und Frauen sexuelle Übergriffe erleben. Dass sie zum Alltag von Frauen in Ägypten gehören:
"Beinahe 100 Prozent der ägyptischen Frauen und Mädchen geben an, sexuell belästigt zu werden. Ein Bericht der Vereinten Nationen aus dem Jahre 2013 nennt den genauen Anteil von 99,3 Prozent, aber meine Freundinnen und ich witzeln gerne, die verbleibenden 0,7 Prozent hätten wahrscheinlich ihr Handy abgeschaltet gehabt, als die Umfrage gelaufen sei."
Dennoch sieht Eltahawy auch Anlass zur Hoffnung. Weil Frauen nicht mehr beschämt schweigen und sich selbst die Schuld geben, wenn sie Opfer sexueller Übergriffe werden. Frauen schließen sich in Selbsthilfegruppen zusammen, sprechen über den Zusammenhang zwischen Religion und Unterdrückung und dokumentieren und publizieren Diskriminierung und Frauenverachtung.
Eltahawys Buch ist gleichzeitig Anklage und Aufruf zum Widerstand. Sie liefert keine Generalabrechnung mit dem Islam, sondern kritisiert Rückständigkeit, politische Missstände und die Instrumentalisierung der Religion für männliche Machtinteressen. Als liberale Muslimin plädiert sie für eine neue, menschliche Interpretation der religiösen Schriften.
2012 wurde Mona Eltahawy vom amerikanischen Magazin Newsweek zu "einer der furchtlosesten Frauen der Welt" gewählt, weil sie "trotz physischer und psychischer Bedrohung ihren Kampf für die Muslimas in aller Welt fortsetzt."

Mona Elthawy: Warum hasst ihr uns so?
Für die sexuelle Revolution der Frauen in der islamischen Welt
202 Seiten, 16,99 Euro (als Ebook 12,99 Euro)
Piper Verlag, München 2015

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