Französisches Ruinendorf

Lebendige Erinnerung

Das französische Ruinendorf Oradour-sur-Glane war 1944 Schauplatz eines Kriegsverbrechens der Waffen-SS, bei dem der komplette Ort zerstört und fast alle seine Einwohner ermordet wurden.
Oradour-sur-Glane war 1944 Schauplatz eines Kriegsverbrechens der Waffen-SS, bei dem der komplette Ort zerstört und fast alle seine Einwohner ermordet wurden. © Bettina Kaps
Von Bettina Kaps · 26.10.2014
Deutsche Stimmen in den Ruinen des französischen Dorfes Oradour: Wo vor 70 Jahren auf Deutsch befohlen wurde, alle Einwohner zu ermorden, arbeiten jetzt freiwillige Helfer der Aktion Sühnezeichen gegen den Zerfall der Mauern an.
Ein rostiges Eisenbahngleis zieht sich die Dorfstraße entlang. Auf beiden Seiten reihen sich zerstörte Häuser aneinander, brüchige Wände, ohne Dach, Fenster, Türen. Über viele Mauern wuchert Efeu. Unkrautvernichtungsmittel sind verboten.
Miriam Rogasch: "Sie wollen die Ruinen schon in diesem Zustand haben, dass sie frei sind von Unkraut, damit man nicht den Eindruck von so romantischen zerfallenen Ruinen hat. Deswegen ist ein Teil der Arbeit auch, dass wir das machen, aber das ganze Dorf werden wir nie schaffen."
Miriam trägt ein Band mit einem Schild um den Hals: Unter der deutschen und der französischen Flagge steht "bénévole", Freiwillige. Die 25-jährige Philosophiestudentin gehört zu den neun Frauen und zwei Männern, die am Sommerlager des Vereins "Aktion Sühnezeichen Friedensdienste" teilnehmen. Zwei Wochen lang arbeiten sie im Ruinendorf von Oradour-sur-Glane, wo die deutsche Waffen-SS im Sommer 1944 keine Menschen und kein Gebäude verschont hat. Seither werden die zerstörten Häuser als Mahnmal erhalten.
Freiwillige pflegen das Mahnmal
Es ist halb Zehn. Die Gruppe schart sich um die beiden Leiterinnen: Die Französin Claire Babin, 27 Jahre alt, arbeitet bei Aktion Sühnezeichen in Berlin, Annemarie Niemann, 22, studiert in Berlin evangelische Theologie. Gemeinsam besprechen sie, was zu tun ist.
"Miriam, du arbeitest also am Computer. Marie-Therese auch. Dorothée, willst du transkribieren oder lieber hier oben in den Ruinen arbeiten? "
Dann teilt sich die Gruppe: Wer fließend Französisch spricht, geht ins Dokumentationszentrum von Oradour, um der Archivarin zu helfen. Für die anderen holt Annemarie Harken, Spachteln, Wurzelbürsten:
"Wir haben Helme und arbeiten viel jetzt an der Straße, zum Beispiel, dass wir die Gleise freilegen und die Straßenfronten. Diese Woche waren wir jetzt da und haben den ganzen Vorgarten aufgeräumt, da passen wir schon auf, dass es sichere Ruinen sind bzw. kommen auch die Leute, die hier arbeiten, regelmäßig vorbei und gucken, wo wir sind, wir sprechen es ab.
Die Freiwilligen von "Aktion Sühnezeichen Friedensdienste" entfernen im Ruinendorf Oradour Moos von den Mauern.
Die Freiwilligen von "Aktion Sühnezeichen Friedensdienste" entfernen im Ruinendorf Moos von den Mauern.© Bettina Kaps
Die junge Frau schiebt einen Holzzaun zur Seite, geht in einen Vorhof. Dort reißt sie Efeu aus, der einen alten Brunnen überwuchert. Im Gras liegen Kreuze, Grabplatten und Kaminsimse. Hier lebte und arbeitete der Steinmetz Dagoury, sagt Annemarie. In seinem Haus wächst Ackerwinde, aber da dürfen die Freiwilligen nicht hinein, es wäre zu gefährlich. In Oradour werden die Ruinen nicht restauriert, sondern nur bewahrt:
"Indem man auf Mauerkronen Dachziegel aufsetzt, damit es nicht noch stärker im Winter reinfriert und die Mauern zersprengt, aber man würde jetzt nichts, was runterfällt, wieder aufbauen. Es wird als natürlicher Prozess begriffen, dass die Ruinen kleiner werden, das Sachen verschwinden, dem wird bewusst nicht entgegen gewirkt, man versucht nur, zu erhalten."
Auf der Dorfstraße beugt sich ein kräftiger Mann mit Spitzhacke über das Straßenbahngleis. Bernd Scharlott aus Fürth, 45 Jahre alt, vierfacher Familienvater, von Beruf Maschinenbaumeister. Er legt eine Weiche frei:
"Das hintere Gebäude, das ist ziemlich beschädigt, das ist der Haltepunkt, also die Haltestelle. Wenn man da runter läuft, sieht man die Verbindung gar nicht mehr. Man meint fast, das Häusle steht alleine, drum lege ich die Weiche frei, dass man sieht: Da ist auch die Bahn hingefahren."
Die Helfer erfahren viel über die Geschichte
Seit er hier ist, hat Bernd viel über die Geschichte von Oradour gelernt: Am 10. Juni 1944 brennen die Nazis 328 Häuser im Dorf nieder, auch die gotische Kirche – die Ruine steht am Ende der Straße. Bevor die SS-Soldaten Feuer legen, sperren sie alle Frauen und Kinder in der Kirche ein. Die Männer erschießen sie in Scheunen und Garagen. 642 Menschen sterben: 221 Frauen, 206 Männer, 215 Kinder unter 14 Jahren. Nur sechs Menschen entkommen den Mördern.Einer von ihnen ist Robert Hébras. Der 89-Jährige hat Bernd und die anderen Freiwilligen kurz nach ihrer Ankunft durch das zerstörte Dorf geführt und ihnen einzelne Lebensschicksale erzählt.
Bernd Scharlott:"Bei den Postbeamten war es so: Die Postbeamtin ist ums Leben gekommen, sie wär eine Stunde später abgelöst worden von ihrer Kollegin, die ist von einem anderen Dorf gekommen, hat gesehen, dass da etwas nicht stimmt, und ist wieder nach Hause gegangen. Diese Zufälle alle, das bringt es mehr ins Leben zurück und man sieht es mit einem flauen Magengefühl."
Besucher spazieren vorbei, stützen sich auf Fensterhöhlen, schauen wortlos in die Ruinen. Hier und da ist noch Hausrat zu sehen, ein rostiges Bettgestell, eine Nähmaschine, ein Wasserkessel. Über einem Kamin kleben ein paar blauweiße Kacheln. Fast niemand beachtet die Freiwilligen. Aber ein Ehepaar stutzt. Der weißhaarige Mann geht auf die Deutschen zu, fragt, was sie hier hier tun. Er ist Holländer:
"Wir sind ziemlich überrascht. Ich will nicht unhöflich sein, aber ich finde es merkwürdig, in diesen Ruinen Deutsch zu hören. Selbst für mich, der nach dem Krieg geboren wurde, ist der Besuch hier nicht einfach. Selbst für mich ist das ein Problem. Aber ich finde es wirklich sehr gut, dass ihr diese Arbeit macht. Viel Glück. Und Danke!"
Die Einheimischen begrüßen den Einsatz
Annemarie Niemann wischt sich Staub aus dem verschwitzten Gesicht. Auch Franzosen haben ihren Einsatz bisher immer gut geheißen, sagt sie. Und sogar Einwohner aus dem heutigen Oradour. Sie zeigt über die Mauer, dort ist das neue Dorf zu sehen, dass der französische Staat gleich nach dem Krieg aus dem Boden gestampft hat, um zu beweisen, dass das Leben stärker ist als der Tod. Gerade erst hat ein Besucher aus dem neuen Oradour der jungen Freiwilligen erzählt, dass er durch das Blutbad mehrere Familienangehörige verloren hat.
Annemarie Niemann:"Dann hat er uns halt gefragt, was die Deutschen in unserer Gruppe von dem Massaker denken. Wir haben geantwortet, dass viele daraus eine Verantwortlichkeit ableiten und dass es ein Verbrechen ist, das uns alle mit Grauen erfüllt. Und dann hat er gesagt, dass er sich freut, dass wir da sind."
Annemarie kennt Oradour gut. Gleich nach dem Abitur hat sie im Ruinendorf ein soziales Jahr geleistet und gesehen, wieviel hier zu tun ist. In dieser Zeit kam ihr die Idee zu einem solchen Sommerlager. Die junge Frau ist überrascht, dass es so schnell Wirklichkeit wurde:
"Damals, als ich es angesprochen habe, habe ich nicht Vorbehalte gespürt dagegen, aber es waren schon noch Bedenken, dass es noch eine Weile braucht. Da hat der Besuch der Präsidenten, von Gauck und Hollande im letzten Jahr im September, der hat viel möglich gemacht. Und auch vor allem die Tatsache, dass es einen neuen Prozess in Deutschland gibt, versucht wird, einen zu eröffnen, gegen ehemalige SS-Männer aus dieser Einheit, die in Oradour war. Das ist was, das in Oradour sehr bekannt ist und positiv aufgenommen wird. Das sind alles Sachen, die dazu beigetragen haben, dass dieses Sommerlager möglich ist. "
Eine Historikerin als Sachverständige der Polizei
800 Kilometer nordöstlich von Oradour, in Karlsruhe, sitzt die Historikerin Andrea Erkenbrecher in ihrem Büro und telefoniert. Kaum jemand in Deutschland kennt die Umstände des Massakers und die juristischen und politischen Folgen so gut wie sie. Die 36-Jährige forscht seit zehn Jahren über Oradour. In ihrer Doktorarbeit untersucht sie den deutschen Umgang mit dem Märtyrerdorf. Aber der Abschluss verzögert sich. Erkenbrecher arbeitet neuerdings auch als Sachverständige für Polizei und Justiz. Der Anrufer, Kriminalhauptkommissar Stefan Willms, ist Ermittlungsleiter für Nationalsozialistische Gewaltverbrechen. Zusammen mit Oberstaatsanwalt Andreas Brendel aus Dortmund versucht er, den letzten noch lebenden Nazi-Verbrechern auf die Spur zu kommen.
Andrea Erkenbrecher hat die Beamten schon drei Mal nach Oradour begleitet:
"Archivauswertungen haben wir gemacht, ansonsten Vernehmungen von Zeugen, eine Tatortbesichtigung gab es."
Von der SS-Kompanie, die den Massenmord verübte, leben noch sieben ehemalige Soldaten. Gegen einen hat der Oberstaatsanwalt Anklage erhoben. Nun muss das Kölner Landgericht entscheiden, ob es dem 89-jährigen Werner Christukat den Prozess machen oder das Verfahren einstellen wird.
Die meisten Täter lebten unbehelligt weiter
In der Bundesrepublik ist nach dem Krieg zwölf Mal in Sachen Oradour ermittelt worden, aber kein einziges Mal ist es zum Prozess gekommen, sagt Andrea Erkenbrecher. Die meisten Täter konnten unbehelligt weiterleben, sie mußten sich nicht einmal verstecken und der Kompanieführer Otto Kahn bezog sogar staatliche Rentenzahlungen. Für die Historikerin ist es ein Skandal:
"Dass man den Opfern und Hinterbliebenen auf ganz vielen unterschiedlichen Ebenen die Anerkennung verwehrt hat. Auch juristische Ahndung, Strafverfolgung ist eine Anerkennung des Tatbestandes. Eine finanzielle Entschädigung ist eine Anerkennung. Die hätte der bundesdeutsche Staat den Opfern nie gegeben, wenn die Franzosen nicht interveniert hätten. Auch auf symbolischer Ebene. Man hat dieses Massaker nicht anerkannt. Es hat 60 Jahre gedauert bis ein deutscher Kanzler offiziell gesagt hat: Ja, das ist ein Verbrechen der SS gewesen und dafür gibt es keine Entschuldigung!"
Gerhard Schröder hat der Opfer der Waffen-SS im Jahr 2004 gedacht, aber nicht in Oradour, sondern bei Feiern zum Gedenken der alliierten Landung in der Normandie.
Ob es jetzt zum Prozess kommt oder nicht - Deutschland könne nur noch sein bisheriges Versagen eingestehen, meint Andrea Erkenbrecher, und genau das habe Bundespräsident Joachim Gauck bei seinem Besuch in Oradour im September 2013 auch getan.
Andrea Erkenbrecher: "Gauck hat gesagt, überspitzt: Die deutsche Justiz hat versagt und es ist schrecklich. Ich erkenne das an und teile ihre Bitterkeit darüber. Und das hat eine unglaubliche Bedeutung gehabt, dass er damit anerkannt hat, dass etwas unterblieben ist."
Der Brunnen des Steinmetzes ist vom Efeu befreit
Annemarie Niemann hat Efeu ausgerissen und Moos aus den Fugen gekratzt. Der Brunnen des Steinmetzes ist wieder sichtbar. Sie räumt ihre Spachtel auf, geht zur Gedenkstätte am Eingang des Ruinendorfs, um beim Transkribieren zu helfen. Das moderne Gebäude liegt in einer Senke, sodass es in der hügeligen Landschaft kaum auffällt. Es bildet eine Brücke zwischen der neu aufgebauten Ortschaft und dem zerstörten Dorf. Eine Ausstellung informiert dort über die historischen Umstände des Massakers. Außerdem gibt es ein Archiv, in dem alle Dokumente gesammelt werden, die das Geschehen betreffen.
Miriam, Marie-Thérèse und drei weitere Teilnehmerinnen des Sommerlagers sitzen in einem kahlen Raum im Untergeschoß. Sie haben Kopfhörer auf, schreiben am Computer. Bis auf das Klackern der Tastaturen ist es still. Die Tür geht auf, die Archivarin kommt herein, langsam tauchen die Fünf aus ihrer Welt auf. Sandra Gibouin begrüßt die Freiwilligen.
Die Archivarin und ihre Kollegen haben Zeitzeugen befragt, die während des Zweiten Weltkriegs in der Region Limousin gelebt haben, zu der Oradour gehört. Das Gedenkzentrum hat schon über hundert Interviews gesammelt, sagt sie: Berichte von Angehörigen der Opfer, Erzählungen von Resistance-Kämpfern, Erlebnisse von Flüchtlingen, die in der Gegend Schutz gesucht haben.
Sandra Gibouin: "Für uns ist es sehr wichtig, die Zeugenaussagen auch schriftlich festzuhalten. Ich finde es toll, dass jetzt Deutsche nach Oradour kommen, um uns zu helfen, dass die Geschichte fortlebt. Diese Arbeit ist für Historiker sehr interessant."
Bewegende Berichte von Zeitzeugen
Marie-Thérèse Schaffter ist nicht Deutsche, aber auch sie ist tief beeindruckt von dem, was sie hier erfährt. Dichtes graues Haar, Lesebrille - mit 61 ist sie die Zweitälteste in der Gruppe, Rentnerin, und - mit Ausnahme von Claire Babin, die bei Aktion Sühnezeichen arbeitet – die einzige Französin. Die ehemalige Englischlehrerin ist rein zufällig im Internet auf die Ausschreibung für das Sommerlager gestoßen. Das Thema und die Arbeit haben ihr Interesse geweckt, sagt sie, vor allem das Niederschreiben der Zeitzeugenberichte.
Selbst für sie, die Französin, war das Massaker vom 10. Juni 44 zuvor nur leblose Geschichte. Das hat sich geändert:
"Ich glaube, uns allen ergeht es so: Wenn wir hier abends mit der Arbeit aufhören, beschäftigen wir uns noch sehr lange mit den Menschen, deren Geschichte wir niederschreiben. Ich habe jetzt vier Tage lang mit Helga Walbaum gelebt, sie war jüdischer Abstammung und hatte mit ihren Eltern im Limousin Zuflucht gesucht. Vor dem Einschlafen denke ich an sie. Vielleicht lebt sie noch? Ich würde sie gerne treffen. Ihre Eltern sind hier in der Nähe beerdigt. Wenn ich jetzt ein Auto hätte, würde ich ihr Grab besuchen und sagen: Bravo, ihr wart während des Kriegs sehr mutig."
Ja, die alte Dame lebt, sagt die Archivarin, und verspricht, ihre Adresse zu suchen.
Die Freiwilligen stellen sich mit einem Zeitzeugen des Massakers von Oradour im Ruinendorf zum Gruppenfoto.
Die Freiwilligen stellen sich mit einem Zeitzeugen des Massakers von Oradour zum Gruppenfoto.© Bettina Kaps
Sandra Gibouin verfolgt auch intensiv, was in Deutschland passiert. Wie die Geschichte des Massakers dort wahrgenommen wird, gefällt ihr gar nicht, sagt sie, geht zum Computer, tippt "Amazon Deutschland" ein und als Suchwort Oradour:
"Das erste Buch, das hier auftaucht, ist von Vincent Reynouard: 'Die Wahrheit über Oradour.' Es ist ein revisionistisches Buch. Der Autor behauptet, es habe Kämpfe gegeben und die Kirche sei explodiert, weil dort Waffen versteckt gewesen seien. Es rechtfertigt also das Vorgehen der SS."
Der Hergang des Massakers wurde verfälscht
Auch die folgenden Bücher in der Liste versuchen, die wissenschaftlich belegte Geschichte umzudeuten, sagt Sandra Gibouin. Auf ihren Protestbrief an Amazon hat sie keine Antwort erhalten. Auch deshalb hofft sie, dass Andrea Erkenbrecher ihr Buch möglichst schnell veröffentlichen und dass ihr Werk dann bei Recherchen zuoberst erscheinen wird.
Die Historikerin steht in der Landesbibliothek von Karlsruhe und bestellt Fachliteratur für ihre Doktorarbeit. Den Hergang des Massakers haben zuerst Deutsche verfälscht, sagt die Historikerin:
"Das ist ein großes Problem gewesen für die Leute in Oradour: Sehr früh, Ende der 40er-Jahre, sind sie konfrontiert worden mit deutscher revisionistischer Geschichtsschreibung zu Oradour. Man hat ja sofort nach dem Massaker, in den Tagen danach beginnt es ja, dass die Wehrmacht in Limoges anfängt, durch V-Männer Versionen des Massakers verbreiten zu lassen, die nicht zutreffen, unmittelbar nach dem Massaker, dass man anfängt, falsche Informationen zu streuen, um das Massaker nicht nur zu rechtfertigen, sondern auch die Schuld abzuwälzen auf die Resistance."
Heute forschen mehrere junge Historiker wie sie über Oradour. Aber noch immer gibt es keine wissenschaftliche Arbeit aus Deutschland, die das Massaker untersucht. Revisionisten hatten daher lange leichtes Spiel: Wer sich über Oradour informieren wollte, stieß sogar in öffentlichen Büchereien auf Werke, die das Geschehen verharmlost, gerechtfertigt oder die Verantwortung der SS geradewegs geleugnet haben. Die revisionistischen Bücher werden heute nur noch für Forschungszwecke ausgehändigt. Aber das Gedankengut lebt fort.
Andrea Erkenbrecher:"Ich kann es ein bisschen daran festmachen, wie immer reagiert wird wenn ich veröffentlichezu Oradour, auf einer Konferenz spreche, wenn in der Presse ein Interview ist mit mir, da kriege ich früher oder später revisionistische Post."
Verabredung mit einem Zeitzeugen
Es ist Nachmittag geworden, drei Schubkarren voll Efeu sind zusammen gekommen. Jetzt sind die Teilnehmer des Sommerlagers mit einem Zeitzeugen verabredet: Albert Valade, 84 Jahre alt, schmächtig, krumm, die linke Hand stützt er auf einen Stock. Er kommt gleich zur Sache.
Ich bin kein Überlebender des Massakers, sagt der alte Mann, aber ich habe die Ereignisse aus nächster Nähe miterlebt. - Der Bauernhof seiner Eltern lag drei Kilometer entfernt.
Albert Valade:"Alle Ansiedlungen in der Umgebung wurden grausam getroffen. Oradour hatte damals etwa 500 Einwohner, aber in den Gehöften rundherum lebten mehr als tausend Menschen. Ihre Kinder gingen alle in Oradour zur Schule. Das Dorf wurde niedergebrannt, die Weiler blieben scheinbar unversehrt. Deshalb ist vielen Außenstehenden gar nicht bewusst, welche Tragödie die Menschen im Umland getroffen hat: Es waren Weiler ohne Kinder."
Am Tag des Verbrechens war Albert Valade 14. Es war ein Samstag. Der Junge war bereits von der Schule abgegangen, er musste Kühe hüten. Sein Vetter ging vormittags nach Oradour zum Friseur und zwei Kinder seiner älteren Schwester, sieben und acht Jahre alt, saßen dort im Unterricht. Sie kamen nie wieder nach Hause:
"Meine Schwester und drei andere Mütter aus unserem Dorf wollten wissen, was los war, und die Kinder holen. Die Frauen kehrten auch nicht zurück. Dabei war es schon 18 Uhr, da war das Massaker in der Kirche längst vorbei. Wir haben nie erfahren haben, wie sie getötet wurden."
Einige SS-Soldaten verbrachten die Nacht im verwüsteten Dorf. Ein Haus hatten sie dafür zunächst verschont: Es gehörte dem Stoffhändler Dupic und wurde erst am Sonntag niedergebrannt. In den Trümmern fanden sich unzählige leere Wein- und Champagnerflaschen. Nach dem Massenmord hätten die Soldaten wohl gefeiert, möglicherweise seien die Frauen dort vergewaltigt und dann ermordet worden. Aber Beweise gibt es nicht. Die französische und die bundesdeutsche Justiz hätten nicht ernsthaft versucht, die Verbrechen aufzudecken, jetzt sei es dafür zu spät.
Ein neues Oradour ist aufgeblüht
Albert Valade spricht nüchtern, er empört sich nicht, sein Hass hat sich gelegt, nur die Trauer ist geblieben. Dann erzählt er, wie das Leben im neuen Oradour wieder aufgeblüht ist:
"Oradour sieht der Zukunft zuversichtlich ins Auge. Mit 2300 Einwohnern ist das Städtchen heute viel größer als vor dem Massaker. Wir haben die zweitgrößte Schule im Kanton, das ist ein schöner Sieg über den Tod. Es gibt viele Vereine, rund 40 Firmen, der Ort lebt. Viele junge Menschen bei uns machen sich gar nicht klar, was damals geschehen ist – umso besser für sie. Man muss nicht die Trauer seiner Vorfahren tragen. Manchmal wünschte ich mir allerdings, dass sie etwas bewusster wären. Nicht um Hass zu schüren, im Gegenteil: Um jeden Ansatz von Machtmissbrauch zu bekämpfen, der zur Diktatur führen kann. Wer seine Geschichte nicht kennt, kann auch die Zukunft nicht vorbereiten."
Albert Valade trägt dazu bei. Heute hat er sogar Freunde in Deutschland. Am Ende seines Besuchs bitten ihn die Freiwilligen um ein Gruppenbild, der alte Mann willigt ein. Zum Abschied reicht er den Männern die Hand, jede Frau bekommt einen Wangenkuss. Dann steigt er in sein Auto, fährt nachhause, an der modernen Kirche vorbei ins neue Oradour.
Die Kirche ist groß für den kleinen Ort. Wie ein Wahrzeichen aus Beton erhebt sie sich am Eingang des Städtchens, als solle sie über das neue Dorf und über die Ruinen wachen. Benoit Sadry steht auf dem Vorplatz, wo eine Bronzestatue an die Märtyrer erinnert:
"Die Last der Geschichte führt leider dazu, dass Oradour keine Stadt ist wie jede andere. Wir müssen dieses historische Erbe tragen und die Erinnerung daran lebendig erhalten, das wiegt schwer."
Die Familien der Opfer gründeten einen Verein
Sadry ist 37, das rosa Polohemd bringt sein dichtes braunes Haar zur Geltung. Das Gesicht wirkt jungenhaft. Er sieht nicht aus wie einer, der zu den Honoratioren gehört. Dabei ist er Unternehmensgründer -seine Firma transportiert Holz aus dem Limousin -, Mitglied im Stadtrat, und, was in Oradour noch mehr zählt, Schriftführer im "Verein der Märtyrerfamilien".
Der Großvater hat durch das Massaker eine Schwester und sechs Nichten und Neffen verloren.
550 Mitglieder gehören dem "Verein der Märtyrerfamilien" an, etwa die Hälfte lebt in Oradour, die anderen sind über ganz Frankreich verstreut. Dazugehören darf nur, wer mit den Opfern eng verwandt war, sagt Benoit Sadry. Zu tun gibt es genug:
"Heute steht bei uns nicht mehr das Gedenken im Vordergrund, wir müssen vielmehr gegen das Vergessen kämpfen."
Das heißt, zum Beispiel, die Angehörigen ausführlich befragen. Kürzlich hat der Verein zusammen mit der Archivarin Sandra Gibouin dafür gesorgt, dass die Gesichter einzelner Opfer auf alten Fotos identifiziert werden, bevor sie niemand mehr erkennt.
Benoit Sadry: "Außerdem haben wir eine Pflicht zur Wachsamkeit gegenüber jeglicher Form von Revisionismus."
Innenansicht der 1944 zerstörten Kathedrale im Ruinendorf Oradour
Die 1944 zerstörte Kathedrale im Ruinendorf Oradour© Bettina Kaps
Immer wieder zirkulieren Texte, Fotos und Videos im Internet, welche die Geschichte verfälschen. Kürzlich haben sich Unbekannte in der Kirchenruine sogar mit einem abgewandelten Nazigruß fotografiert. Der Verein schlägt jedes Mal Alarm, informiert staatliche Stellen.
Benoit Sadry:"Und heute bündeln wir alle Anfragen von Angehörigen, die als Nebenkläger auftreten wollen, falls es zum Prozess gegen den ehemaligen SS-Mann kommt, den der Dortmunder Staatsanwalt angeklagt hat."
Der "Verein der Märtyrerfamilien" will Versöhnung
Der Prozess sei wichtig, weil jedes Verbrechen geahndet werden muss, sagt Benoit Sadry. Auch wenn der "Verein der Märtyrerfamilien" längst auf Versöhnung setzt:
"Im Jahr 2009 haben wir eine deutsche Stadt gesucht, die uns eine Fußballmannschaft schicken könnte. Wir wollten ein Jubiläum feiern: 60 Jahre zuvor hatten wir unsere Fußballmannschaft wieder neu aufgebaut, sie war ja auch dezimiert worden. Wir haben Sportler aus Dachau eingeladen. Es war das erste Mal, dass sich Oradour Deutschland ganz offiziell angenähert hat. Erleichtert wurde das, weil beide Städte – wenn auch ganz unterschiedlich – Opfer des Nazismus gewesen sind."
Der Bürgermeister von Dachau durfte 2011 sogar als erster Deutscher ganz offiziell an den Gedenkfeiern vom 10. Juni teilnehmen. Ohne Einverständnis des Vereins der Märtyrerfamilien hätte selbst Bundespräsident Gauck das Ruinendorf im September 2013 nicht besuchen können.
Benoit Sadry zeigt seine kleine Stadt: breite Straßen, einstöckige Häuser mit einheitlichen Fenstern, weiße Holzläden, hellgraue Fassaden. Der Ortskern ist aus einem Guss. Oradour wirkt streng – aber das hat nichts mit Trauer zu tun, betont Sadry, sondern entspricht der traditionellen Bauweise im Limousin. Für jede Familie, die ein Haus verloren hatte, wurde hier ein neues Haus in gleicher Größe gebaut. Aber um dem Städtchen Leben einzuhauchen, mussten Menschen von außerhalb angezogen werden.
Heute, sagt Sadry, sind mindestens Zweidrittel aller Einwohner Zugezogene. Und das sei gut so:
"Ich bin in Oradour ganz normal aufgewachsen. Über die Ruinen haben wir in der Schule eigentlich nur vor dem Jahrestag gesprochen. Die Schulkinder nehmen ja bis heute aktiv an der Zeremonie teil. Aber für viele von uns sind die Ruinen nichts anderes als ein Landschaftselement. Ich selbst habe mein Haus an einer Stelle gebaut, wo ich sie täglich vor Augen habe. Ich sehe darin eher das Dorf meiner Großeltern als die Ruinen."
Ein Friedhofsbesuch vor der Abreise
Annemarie Niemann geht voran. Bevor sie abreisen, wollen die Freiwilligen auch den Friedhof sehen. Er grenzt seitlich an das Ruinendorf an.
Annemarie Niemann:"Das war schon vor dem Massaker der ganz normale Dorffriedhof, hier wurden schließlich auch die Überreste der Opfer dort oben bestattet, und er dient auch noch heute weiterhin als Friedhof. Das heißt, es ist ein Bindeglied zwischen dem alten und dem neuen Dorf."
Familiengruften stehen neben kleinen Grabmälern, gläserne Grabhäuser wechseln mit schlichten Kreuzstelen. Auf vielen Gräbern sind Medaillons mit Fotos der Verstorbenen angebracht. Oft sind darauf Opfer des Massakers zu sehen. Die Freiwilligen entziffern einzelne Namen:
"Das ist auch krass, dass man einige Namen jetzt schon kennt aus den Zeitzeugenberichten. Irgendwie verbindet man schon so eine kleine Geschichte. Brissot, Pinède... alles, was man schon mal gehört hat."
"Martial Brissot. Ja, das ist der, der mit Monsieur Hebras vor der Tür stand, als die Deutschen kamen. Der ist dann weggelaufen."
"Ja genau. Und der hat auch seine Eltern und seine Familie verloren."
Die Nazis haben viele Tote nachträglich noch unkenntlich gemacht. Nur 52 Leichen konnten identifiziert werden. Die meisten Opfer des Massakers sind daher nicht mit ihren Familien, sondern in einem großen Massengrab bestattet. In die Anlage aus hellgrauem Stein sind zwei Glassärge eingelassen: Einzelne Knochen und menschliche Asche sind zu sehen. Eine schwarze Granittafel am Rand der Anlage informiert: "Verbrechen der Zweiten SS-Division 'Das Reich' unter Befehl von General Lammerding".
"Schuld? Ist ne schwierige Frage. Aber schon Entsetzen. Ich habe Gänsehaut bekommen, und mir sind auch die Tränen gekommen, den Glassarg finde ich auch heftig."
"Finde ich auch heftig, dass man das noch mal so sieht, die Asche. Schuld würde ich jetzt auch nicht sagen. Aber auf jeden Fall waren das auch Deutsche, und dass wir da auf jeden Fall auch eine Verantwortung weiterhin tragen, deswegen sind wir ja auch hier."
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