Frankreich

Ein literarischer Streifzug durch den Nordosten von Paris

Blick in den Hof einer heruntergekommenen Immobilie in der rue Jacques Louvel-Tessier im 10. Arrondissement in Paris
Blick in den Hof einer heruntergekommenen Immobilie in der rue Jacques Louvel-Tessier im 10. Arrondissement in Paris © AFP / JOEL ROBINE
Von Sigrid Brinkmann · 05.12.2014
Paris wird afrikanischer, und nirgendwo sonst in Europa leben mehr chinesische Einwanderer als in der französischen Hauptstadt. Die Schriftsteller Frédéric Ciriez und Yannick Haenel beobachten den Wandel ihrer Wohnviertel im Norden und Osten von Paris und schicken ihre Romanfiguren an geheime und auch vergessene Orte.
Im zehnten Pariser Arrondissement kann man gesellschaftliche Entwicklungen wie in einem Brennglas beobachten: Angestellte und Kleinunternehmer, Einwanderer aus Afrika und Asien ziehen allmählich weg in die einförmigen Wohntürme und Plattenbauten der Pariser Vororte. Sie machen Platz für die "bourgeois bohémiens", wohlhabende Paare, die etwas abschätzig nur "bobos" genannt werden. Der Schriftsteller Frédéric Ciriez wohnt in einer Seitenstraße der Rue Faubourg Saint-Denis, die mitten durch das Viertel läuft. In wenigen Minuten erreicht man von dort die großen Fernbahnhöfe Gare de lEst und Gare du Nord. Der 43-Jährige hat einen scharfen Blick für die prekäre Existenz seiner Nachbarn.
"Die Preise in den Läden sind hier extrem niedrig. Da ist sofort klar, dass keiner seine Angestellten von den Einkünften bezahlen kann. Man weiß, dass viele ohne Verträge, ohne Papiere arbeiten, aber um des sozialen Friedens willen lässt sich die Polizei nicht blicken. Ich habe hier noch keinen einzigen Polizisten gesehen.
Vor 30 Jahren blühte in diesem Viertel der Drogenhandel. Heute werden hauptsächlich Geschäfte mit chinesischen Prostituierten gemacht. Es gibt hier mehr asiatische Massagesalons als traditionelle französische Bäckereien, das ist einfach so. Und wenn ich 'mehr' sage, dann meine ich, drei, vier mal so viele."
Frédéric Ciriez beginnt seinen Tag häufig mit einem Espresso im Café Mauri7. Viele Gäste an den Nebentischen begrüßt er mit Handschlag. Man kennt und mag sich. Sein Sprechtempo ist rasant. Nach zwei Minuten duzt er mich bereits.
"Morgens ist das hier ein volkstümliches Lokal, Arbeiter kommen rein, trinken einen Caféund gehen wieder. Ab fünf Uhr nachmittags gehört das Mauri7 zu den meist angesagten Pariser Cafés. Alles fing vor ein paar Jahren mit dem Aufstieg des Cafés gegenüber an. Der Laden war hip, und weil es nicht genug Platz gab, kamen die Leute rüber ins Mauri7. Es gehört einem Albaner. Ich finde das lustig: Heute ein Albaner in Paris zu sein, ist so, als hätte man sechs Richtige im Lotto getippt.
Also, der Luxus für Dich und mich besteht darin, dass Mario, der Kellner, mich mag, und ich alles zum halben Preis bestellen kann. Wenn wir woanders säßen, müssten wir das Doppelte bezahlen. Es kommt in Paris vor, dass man nach fünf Uhr nachmittags keinen Cafémehr serviert bekommt, denn der kostet nicht viel, und die Betreiber wollen keine Kunden, die zwei Stunden vor einer Tasse hocken bleiben. Das ist schon sehr unangenehm."
Früher lebten hier die Surrealisten
Das 10. Arrondissement war zu Beginn des 20. Jahrhunderts das Viertel der Surrealisten. André Bretons Roman "Nadja" spielt hier. Der argentinische Romancier Julio Cortazar lebte in der Rue Martel, die Poetin Annie Le Brun wohnt in der Rue Mazagrin. Sie ist die letzte noch lebende Zeitgenossin André Bretons und eine profunde Kennerin der Schriften des Marquis de Sade. Der Philosoph Alain Finckielkraut und der Cineast Claude Berri wurden im Viertel geboren. Es gibt eine illustre Seite der Gegend und eine eher schäbige. Gerade deshalb, meint Frédéric Ciriez, lässt es sich kein Präsidentschaftskandidat nehmen, das 10. Arrondissement zu besuchen.
Nicolas Sarkozy kreuzte auf, weil für Politiker der städtische Raum hier die Spannungen irgendwie neutralisiert. Das Viertel hat nichts vom schicken Westen und nichts von den roten Vororten im Osten. Man kann hier etwas für sein Image tun und versuchen, sympathisch rüberzukommen. Jacques Chirac war hier auf Wahltour, Lionel Jospin auch und noch viele andere.
"Wir befinden uns im Zentrum von Paris und es gibt hier nur wenige Weiße. Diese Inseln haben etwas Seltsames. Ich liebe sie sehr."
Touristen kommen gern in das Viertel und schauen sich die überdachten Ladenpassagen aus dem 19. Jahrhundert an, über die der Philosoph und Schriftsteller Walter Benjamin geschrieben hat.
Als Walter Benjamin die kulturhistorische Bedeutung der Passagengeschäfte erforscht, sieht er, wie der Kapitalismus alles in Bewegung bringt und hält. Die Tücke der Geschichte besteht darin, dass der Kapitalismus dazu geführt hat, dass man heute keine im Land erzeugten Handelswaren mehr anbietet, sondern nur noch Produkte, die schon um die ganze Welt gegangen sind, bevor sie hier ankamen. Es gibt hier jede Menge pakistanische Restaurants, und etwas weiter da hinten, in der Passage du Prado, reihen sich lauter Läden von Friseuren aus Sri Lanka und Afrika aneinander, die die Haare für sieben Euro schneiden.
Als die Friseurin Carol aus Guadeloupe Frédéric Ciriez an ihrem Geschäft vorbeigehen sieht, kommt sie sofort an die Ladentür. Sie findet, dass Frédéric ein unkomplizierter Kunde ist.
Gabrielle hält jetzt einen Hund. Er schlägt sofort an, wenn man die Tür zu ihrem Restaurant öffnet. Während sie auf Familienurlaub in Italien war, wurde dort eingebrochen. Jetzt stehen ihr lauter Amtsgänge bevor, sie ist in Eile und alles andere als guter Laune.
Wir machen einen Abstecher in Richtung einer schmalen Straße, die zwar den wundervollen Namen "Passage du Désir" - Passage des Begehrens" trägt, doch arg heruntergekommen wirkt. Eine Straße weiter, in der Rue Jarry, erklärt mir Fréderic Ciriez das Wort "marchand de sommeil": Schlafhändler.
"Die Rue Jarry ist eine seltsame Straße, sie hat etwas Trauriges. Schlafhändler nennt man Hotels, in denen man billig übernachten kann. Meist werden sie von Arbeitern bewohnt, die sich keine Wohnung leisten können. Diese Hotels heißen Crystal oder Savoy - ich finde, sie haben etwas Räudiges."
Gründer einer Spasspartei, der Polit-Aktivist Gaspard Delanoë
Gaspard Delanoë biegt auf dem Rad um die Ecke. Der Künstler ist ein stadtbekannter Hausbesetzer und Polit-Aktivist. Er gründete eine Spaßpartei, ließ sich für die Präsidentschaftswahlen aufstellen und wollte dem bis April 2014 amtierenden Bürgermeister Bernard Delanoë Konkurrenz machen. Gaspard Delanoë ist ein Kunstname. Die Sozialisten hassen den 46 Jahre alten Sponti für die absichtsvolle Namenstäuscherei. Im 10. Arrondissement holte der Aktivist immerhin mehr Stimmen als der überall Zulauf gewinnende Front National und mehr als die Partei der Arbeiter und die Alternative Linke.
Wir suchen ein Café in einer Seitengasse, um über Frédéric Ciriez Roman "Mélo" zu sprechen. Im Februar 2014 erhielt er dafür den Franz-Hessel-Preis. Die deutsche Übersetzung wird noch im Dezember dieses Jahres unter dem Titel "Ein Sapeur in Paris" erscheinen. Was gab den Ausschlag, einen Roman zu schreiben über drei Weisen, sich in Paris materiell und ideell über Wasser zu halten - eine Existenz aufzubauen?
"Mein Buch war anfangs allein von dem Wunsch getragen, mich vor einem Kumpel zu verbeugen, der sich umgebracht hat. Die Umstände seines Todes habe ich nicht erfunden. Mein Freund war als Techniker viel im Pariser Raum unterwegs, immer da, wo man gerade Hilfe brauchte. Und er war Gewerkschafter. Ich beschreibe, wie er im 14. Arrondissement die Treppen zum Gewerkschaftsbüro hochsteigt und dabei ein paar Models begegnet, die im selben Haus für die Agentur Élitearbeiten. Diese zwei Welten prallten wirklich aufeinander. Es gibt dieses Haus. Hier die Mode, Geld und Luxus, dort der kleine Arbeiter, ein Bretone, den es nach Paris verschlagen hatte und der vor Einsamkeit zugrunde ging. In seinem Scheitern ist er ganz eins mit sich. Die letzten Tages seines Lebens ist er herumgefahren, um den Wagen dann in der Abenddämmerung vor einer Müllverbrennungsanlage abzustellen und sich ein Messer ins Herz zu rammen."
Frédéric Ciriez’ Freund tötete sich am Vorabend des 1. Mai. Nutzlos, wie er sich fühlte, und ohne noch an das Band einer internationalen Solidarität der Werktätigen glauben zu können, war seine Selbsttötung Stunden vor dem weltweiten Feier- und Demonstrationstag ein letzter Akt des Protestes. Ciriez erfand für den Freund auf verlorenem Posten einen Gegenpart in Gestalt einer jungen Wirtschaftsstudentin, die sich einen blinkenden Bauchladen umhängt, Touristen-Souvenirs, Sonnencreme, Feuerzeuge und jede Menge Ramschartikel verkauft.
"Ich wollte eine Gestalt kreieren, die für mich den Liberalismus verkörpert; jemand, der sich bewusst abkoppelt von dem, was wir unter Arbeit verstehen. Meine Figur ist ein Körper in Bewegung. Sie flitzt auf Rollschuhen durch die Stadt. Sie ist die Tochter chinesischer Immigranten und bedient gekonnt alle Erwartungen. Eine zynische Karrieristin. Alles, was sie will, ist möglichst viel Geld verdienen und ein Business aufziehen. Andernfalls lohnte sich für sie das Leben nicht. Aber so eine Haltung ist letztlich auch eine Art, Selbstmord zu begehen."
An guten Tagen macht die Studentin 2000 Euro cash
Wenn Ciriez’ Protagonistin Barbara meint, es diene dem Geschäft, nutzt sie ihr asiatisches Aussehen und spielt die radebrechende, bedürftige Immigrantin. Viele Kunden verzichten dann aufs Wechselgeld. An guten Tagen macht die Studentin 2000 Euro cash. Ihre Waren kauft sie in Aubervilliers. Dieser Pariser Vorort, in dem die kommunistische Partei einst starken Zulauf hatte, ist zum Umschlagplatz für weltweit gehandelte Ware geworden, die im Hafen von Le Havre anlandet. Ciriez fügt ein kurzes Kapitel ein, in dem er en passant erzählt, wie das Foto zustande kam, das auf den Feuerzeugen aufglimmt, die Barbara im Angebot hat. Eine Kurzlektion in Sachen Globalisierung.
Das im Feuerzeug schimmernde Püppchen-Bild der nackten Russin liegt auf dem Armaturenbrett eines Pariser Müllwagens. Der Mittelteil des Triptychons, das Frédéric Ciriez in seinem Roman "Ein Sapeur in Paris" aufklappt, ist der Figur Parfait de Paris gewidmet. Parfait ist aus dem Kongo eingewandert. Er arbeitet als Müllwagenfahrer und ist ein überzeugter Anhänger der Sape. Das Wort ist eine Abkürzung für "Société des Ambianceurs et des Personnes Élégantes" - Gesellschaft der Unterhalter und eleganten Personen.Ihren Ursprung nahm diese Bewegung in den 60er Jahren in Brazzaville, der Hauptstadt des Kongo. Im 10. Arrondissement gibt es einen bekannten Herrenausstatter, bei dem die afrikanischen Sapeurs sich für ihre Wochenendauftritte mit ausgefallenen Markenanzügen, Pelzmänteln und handgefertigten Schuhen einkleiden.
"Oft reduzieren die Leute die Sape-Bewegung auf den reinen Schein. Da ist natürlich etwas dran, aber es ist nur die halbe Wahrheit, denn sie kämpfen auch mit Redegewandtheit um Ansehen. Ihre Sprechweise hat etwas Barockes, sehr Gepflegtes, fast ein bisschen Versnobtes. Sie sind die Erben des Dandyismus, der zum Raffiniertesten der europäischen Kultur gehört. Es berührt mich, dass die afrikanischen Sapeurs Proletarier sind. Für mich sind sie verkleidete Prinzen. Ich sehe in ihnen die Geschichte armer Leute, die die sozialen Kategorien aufweichen."
Um sein Studium zu finanzieren, hat Frédéric Ciriez als Müllmann gearbeitet. Und in seinem Roman "Ein Sapeur in Paris" geht es um das Thema des als Müll empfundenen Selbst, um den täglich produzierten Abfall und den ästhetischen Müll.
"Von all den Jobs, die ich in meinem bisherigen Leben gemacht habe, war das der beste. Was habe ich gelacht, hinten auf dem Trittbrett des Müllwagens. Und ich hatte einen wunderbaren Kumpel. Um fünf Uhr morgens machten wir auf freier Strecke immer eine kleine Pause. Es war herrlich."
Frédéric Ciriez’ Held Parfait de Paris haust in einer schlichten Einzimmer-Wohnung. Um Mitternacht lässt er sich von einem Chauffeur im Rolls Royce abholen. Ein Sapeur, der seine Konkurrenten ausstechen will, braucht einen Lehrling, der als eine Art dienendes Accessoire zu fungieren hat. Ciriez treibt Parfaits Snobismus auf die Spitze, denn er stellt ihm einen weißhäutigen Lehrling an die Seite. Der darf ihm nicht von der Seite weichen und muss seinem Herrn stundenlang mit einem Schirm Geleit geben. Ciriez verkehrt das altbekannte Diener-Herrscher-Verhältnis in sein Gegenteil. Der "Mohr" ist ein weißer Angestellter, der sich nach Glanz sehnt, und er ist die absolute Minderheit im Chic Club des einstigen Arbeiterviertels Montrouge.
Ich betrachte mein Volk, das zu elektronischen Rumbarhythmen tanzt, und ich bin stolz darauf, ein kongolesischer Sapeur zu sein, stolz, Kongolese in Paris zu sein, stolz, einem von Frankreich aus unsichtbarem Land anzugehören. Ich schaue meinem Volk beim Tanzen zu und denke an meinen Triumph, der zeigt, dass die Sape alles und nichts ist ().
(Frédéric Ciriez: "Mélo", Editions Gallimard, Paris 2013. Aus dem Französischen übersetzt von Sigrid Brinkmann)
Tief ins Milieu der Sapeurs eingedrungen
Die Sapeurs fühlen sich wohl wie ein Fisch im Wasser und sind auf ihre Weise glücklich. Sie passen perfekt in die Erlebnisgesellschaft und zum Liberalismus.
Frédéric Ciriez’ Romanfiguren sind ständig in Bewegung: zielstrebig wie die geschäftstüchtige Bauchladenverkäuferin, heiter wie der kongolesische Müllwagenfahrer, der sich am Wochenende mit gleichgesinnten Markenfetichisten misst, oder verzweifelt wie der klassenbewusste Techniker, der sein Leben als todesmutiger "Vorstadt-Mishima" beschließt. Ciriez ist ein detailgenauer Beobachter und gründlicher Rechercheur. Die in den Dialogen bewiesene Schlagfertigkeit ist bestechend. In jedem der drei Romankapitel schlägt er einen anderen Ton an. Man spürt, dass er tief eingedrungen ist in das Milieu der Sapeurs.
"Wir befinden uns im 20. Arrondissement. Hier, in der Rue de la Chine, habe ich die Figur des Jean Deichel erfunden. Er wohnt in seinem Auto. Ich hatte immer dieses Bild eines Autos im Kopf, das unter einem Baum mit viel Blattwerk geparkt ist."
Der französische Schriftsteller Yannick Haenel, nachdem er für sein Buch "Jan Karski" den Prix Interallie bekommen hat; Aufnahme von 2009
Der französische Schriftsteller Yannick Haenel, nachdem er für sein Buch "Jan Karski" den Prix Interallie bekommen hat; Aufnahme von 2009© AFP / THOMAS COEX
Yannick Haenel wurde durch die Radikalität und das anarchische Temperament der "Situationisten", die der Philosophen und Künstler Guy Debord um sich versammelte, geprägt. In Deutschland kennt man den 47 Jahre alten Autor seit der Veröffentlichung eines Romans über den polnischen Widerständler Jan Karski. Yannick Haenel hat gezielt nach einer Wohnung im Nordosten von Paris gesucht, weil ihn vieles im 20. Arrondissement an Afrika erinnert. Er hat seine Kindheit auf dem afrikanischen Kontinent verbracht, denn sein Vater war dort als hochrangiger Militär stationiert. In seinem gerade auf Deutsch erschienenen Roman "Die bleichen Füchse" hat Yannick Haenel eine Romanfigur geschaffen, die herumstreunt und dabei auf geheime Botschaften und afrikanische Lebenswelten stößt. Sein Ich-Erzähler Jean Deichel wohnt in seinem Auto, das er in der Rue de la Chine abgestellt hat. Er glaubt nicht mehr an den Wert von Arbeit, die einen ernährt und die man ein ganzes Berufsleben lang ausüben kann.
"Mir gefiel der Straßenname, weil es in meinem Roman ja in erster Linie um die Fremden in Paris geht und darum, dass wir in der kapitalistischen Welt alle Fremde sind. Die Straße hat etwas leicht Abschüssiges. Da hinten sieht man die Hochhäuser der Vorstadt, und dahinter liegen dann schon Deutschland, Polen, Russland (Lachen)"
Jean Deichel, 43 Jahre alt, konnte seine Miete nicht länger bezahlen und landete auf der Straße, just an dem Tag, als 2007 in Frankreich ein neuer Präsident gewählt wurde. Als er eine Ansprache des "Neugewählten" - in dem man unschwer Nicolas Sarkozy erkennt - im Radio hörte, beschloss er, sich nicht mehr um eine Neuanstellung zu bemühen.
Denn die Arbeit, die er in seiner Rede als "republikanische Verpflichtung" darstellte, als "Wert", der, wie er sagte, imstande sei, "das Land zu retten", existierte schlichtweg nicht mehr: Man drängte uns zu arbeiten, obwohl es keine Arbeit gab.
(aus: Yannick Haenel: "Die bleichen Füchse", Roman, Aus dem Französischen von Claudia Steinitz, Rowohlt, Reinbek 2014)
Yannick Haenels Erzähler weigert sich, die Arbeit als "einzige Daseinsweise" zu akzeptieren, und der Autor beginnt nun, Deichels Leben im- wie er es nennt - "Intervall" zu erspüren. Hauswände, Straßenbäume, das Himmelslicht, die flüsternden inneren Stimmen, Spaziergänge durch das nachtleere Paris - alles erscheint dem Mann, der langsam aus der Zeit fällt, neu und Haenel findet für dessen Erwachen den richtigen Ton: Er schreibt anschaulich, aber ohne Detailverliebtheit, streut poetische Vergleiche und seelische Selbstbeobachtungen treffsicher ein.
"Dieser Mann, der wie viele Leute meiner Generation in Europa vom Ende der Politik enttäuscht ist, entdeckt, dass das Schweigen politisch ist, genauso wie das nächtliche Herumirren. Nach dem vielfachen Versagen der Linken im 20. Jahrhundert stelle ich in meinem Buch die Frage, ob nicht gerade die völlig Mittellosen imstande sind, sich zusammen zu schließen, um ein Machtfaktor zu werden und die Politik mitzubestimmen."
Zu den Mittellosen zählen die auf Abschiebelisten stehenden illegalen Einwanderer und Flüchtlinge, die man in Frankreich nur die "sans papiers" nennt: die "ohne Papiere". Viele Schwarzarbeiter finden eine regelmäßige Beschäftigung und zahlen, so Yannick Haenel, sogar Steuern. Trotzdem erhalten sie kein Bleiberecht.
"Ich habe eine Gruppe papierloser Anarchisten aus Mali erfunden. Sie nennen sich 'Die bleichen Füchse'. Mir lag daran, den Maliern eine Spiritualität zu geben. Egal wie verschüttet diese sein mag, sie tragen sie einfach in sich. Wir haben in Frankreich wegen der Kolonialpolitik ja alles andere als ein einfaches Verhältnis zu Afrika, aber Paris ist eben längst schon auch eine afrikanische Stadt geworden. In meinem Wohnviertel leben Afrikaner in dritter, vierter Generation. Ich empfinde das als angenehm. Ich mag diesen Reichtum der Kulturen."
Der "bleiche Fuchs" wird von der malischen Volksgruppe der Dogon als mythischer Gott verehrt. Er lehnte sich gegen den Vater auf und wurde zur Strafe in einen sandfarbenen Wüstenfuchs verwandelt. Yannick Haenels Romanheld entdeckt bei seinen Streifzügen auf Hausfassaden Zeichen der Dogon-Kultur und revolutionäre Slogans: "Frankreich ist ein Verbrechen", "Aufstand der Masken", Identität ist Fluch" - diese Parolen graben sich tief ein in das Denken Deichels, der dabei ist, seine bürgerliche Existenz aufzugeben und ein verborgenes Paris zu entdecken.
"Wir sind hier in der Rue Darcy. In der gibt es ein Gelände, von dem nur wenige Pariser etwas wissen. Das hier ist militärische Gebiet. Als ich mir vorstellte, welche Wege Jean Deichel abläuft, bin ich oft hierher gekommen. Ich war irgendwie besessen von diesem leeren, durch Zäune und Stacheldraht geschützten Raum. Von 1941 an wurden hier als unerwünschte Ausländer registrierte Menschen interniert: spanische Republikaner, jüdische Frauen wie die Schriftstellerin Charlotte Delbo. Dieser abscheuliche Ort liegt mitten in Paris. Drancy kennt man, aber vom Lager Tourelles redet keiner. Man hat hier später ein Wasserreservoir angelegt.
Es gibt keine einzige Gedenktafel, nur Schilder, die einem sagen, dass man das Militärgebiet nicht filmen und keine Aufnahmen machen darf - was wir natürlich gerade tun (lacht) -, der französische Geheimdienst sitzt da hinten in den Gebäuden."
Mitgerissen vom Elan und dem Stolz der rebellischen Afrikaner
Die Aufmerksamkeit des Erzählers wird mit jedem weiteren Gang durch das 20. Arrondissement geschärft. Schließlich gerät er in abgelegene Hinterzimmer, wo Ausländer und Franzosen miteinander konspirieren. Der Erzähler identifiziert sich vorbehaltlos mit den ausweislosen Afrikanern.
Ja, wir tragen Masken, Sie verhüllen unsere Abwesenheit. () Wir haben jahrhundertelang geübt, unser Nichts zu erkennen: Genau das habt ihr uns doch gelehrt, oder? Der Glanz des Morgentaus auf eurem mickrigen Rasen, das sind wir. () In der Welt der Masken kann sich ein Schneefeld mit Turteltauben füllen, die vom Sieg singen. Schnell spritzt das Blut aus einem allzu lebhaften Wort, das eine Gewissheit spaltet. Stacheldraht, Knüppel, Handschellen, Tränengas zirkulieren auf einer Seite wie durchgestrichene Wörter - sie sind zu viel, aber unmöglich zu löschen. In gewissem Sinn verleihen gerade sie unserer Aktion die nötige Intensität für den Kampf. Die Masken, die wir tragen, gehören den Dogon aus Mali. Ein Dogon wird nur geboren; weder wächst er noch altert er: In jedem Augenblick existiert er ebenbürtig und vollständig mit seiner Welt. () Er empfindet seine Existenz als spirituelle Jagd. Seine Wachsamkeit ist permanent, sein Aufstand absolut.
(aus: Yannick Haenel: "Die bleichen Füchse", Roman, Aus dem Französischen von Claudia Steinitz, Rowohlt, Reinbek 2014)
Yannick Haenels Erzähler fühlt sich mitgerissen vom Elan und dem Stolz der rebellischen Afrikaner in Paris. Eine Gruppe Maskenträger betrauert den Tod von zwei illegalen schwarzen Einwanderern, die bei einer Verfolgung durch Polizisten umkamen. Die Gesichtslosen versammeln sich zu einem stillen Protestmarsch, der auf der Place de la Concorde endet. Dort wurde 1793 die Guillotine aufgestellt und das göttliche Prinzip in der Person des Königs geopfert.
"Ich dachte immer wieder an das umwerfende Bild eines Scheiterhaufens, an ein gewaltiges Feuer, in dem Personalausweise verbrennen. In meinem Roman 'Die bleichen Füchse' beschreibe ich wie diejenigen, die reguläre Papiere besitzen, diese in einem Akt der Solidarität mit den Ausweislosen, ins Feuer werfen. Alles verschmilzt und wird ununterscheidbar."
Yannick Haenel träumt von der Utopie einer "allgemeinen Papierlosigkeit". Die Hoffnung darauf, dass die Ausweis-, die Arbeits- und Obdachlosen sich einen Platz in der französischen Gesellschaft erstreiten, teilt er mit Frédéric Ciriez. Ohne einander persönlich zu kennen, haben beide zur gleichen Zeit Romane geschrieben, die von Überlebensstrategien, Businessplänen und anarchistischen Aktionen im Norden von Paris erzählen.
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