Frankfurter Buchmesse

Cool, weiblich und politisch

Die finnische Schriftstellerin Katja Kettu
Die finnische Schriftstellerin Katja Kettu © picture-alliance / dpa / Ofer Amir / Verlag Galiani Berlin
Von Michael Frantzen  · 07.10.2014
"Finnland.Cool" – so lautet nicht nur das Motto des finnischen Auftritts auf der Frankfurter Buchmesse. Cool sind auch die neuen Stars der finnischen Literaturszene - junge Frauen mit politischem Anspruch, die wir Ihnen vorstellen.

Johanna Holmström

Wer hätte das gedacht: Ostsee-Idylle statt sozialer Brennpunkt: Vuossari, die vermeintliche No-Go-Area Helsinkis, kommt ganz anders rüber als gedacht. Johanna Holmström lächelt. Die Anfang 30-Jährige kennt das schon. Dass Besucher immer aus allen Wolken fallen, wenn sie feststellen, dass der Bezirk nicht nur einfallslose Wohnsilos hat, sondern auch einen der schönsten Hausstrände der finnischen Hauptstadt und eine kulturelle Vielfalt wie es sie selten gibt in Finnland. Seit den 90ern leben in Vuossari neben Finnen auch Ex-Jugoslawen, Äthiopier, Algerier und Marokkaner.
Klingt schwierig, klappt aber eigentlich ganz gut – das mit dem Zusammenleben, konstatiert die blonde Frau mit den stahlbauen Augen, die selbst der schwedischen Minderheit in Finnland angehört. Langsam schlendert die Schriftstellerin den Strand entlang. Vuossari spielt auch in ihrem größten Roman-Erfolg eine wichtige Rolle: Als Schauplatz von "Asphaltengel" – der Geschichte von Leila und Samira, den toughen Schwestern eines nordafrikanischen Vaters und einer zum Islam konvertierten Finnin.
Johanna Holmström: "Ich bin definitiv eine feministische Autorin. In ´Asphalt Engel` versuche ich, verschiedene Spielarten des Feminismus darzustellen. Sarah, die Mutter, fühlt sich als Feministin weil sie sich verschleiert. Sie übt so Kontrolle über ihren Körper aus. Leila wiederum, ihre Tochter, sieht sich als Feministin weil sie diese klobigen Klamotten trägt und versucht, wie ein Junge auszusehen. Sie ist das genaue Gegenteil ihrer besten Freundin Linda. Die läuft wie eine Schlampe herum: Hotpants, enges T-Shirt, so wie man das aus diesen Rapper-Videos kennt. Das ist ihre Art von Feminismus. Und Samira, die ältere Tochter, sie liest über islamischen Feminismus und versucht eine feministische Muslimin zu sein.
Alltagsprobleme einer muslimischen Multikulti-Familie
In Finnland hat "Asphaltengel" bei seinem Erscheinen letztes Jahr für einiges Aufsehen gesorgt. Eine blonde, schwedisch-sprachige Finnin schreibt über den konfliktbeladenen Alltag einer muslimischen Multikulti-Familie: Darf sie das? Und kann sie das? Fragten sich Literaturkritiker und Einwanderer gleichermaßen. Johanna Holström winkt ab. Natürlich kann sie. Es ist Mittag geworden.
Die "Skandal-Schriftstellerin" ist in ihre Wohnung am Rande eines Kiefernwaldes zurückgekehrt, deren minimalistische Möbel von gutem Geschmack künden und kreuz und quer verstreutes Kinderspielzeug davon, dass hier zwei kleine Mädchen im Kita-Alter zu Hause sind. Ihre alleinerziehende Mutter setzt sich an den Wohnzimmertisch und fängt an, in "Asphaltengel" zu blättern. Im Buch steckt viel von ihr selbst drin. Zehn Jahre lang war Johanna mit einem algerischen Mann verheiratet, hier in Vuossari.
"Er hat ständig versucht, mich in die Rolle einer perfekten Muslimin zu pressen. Dauernd die Frage, wann ich endlich zum Islam konvertiere. In meinem Buch verarbeite ich auch den Hauptkonflikt meiner Ehe: Den Unterschied zwischen Kultur und Religion. Mein Ex-Mann konnte einfach nicht begreifen, dass es einen Unterschied gibt zwischen seinem kulturellen Hintergrund und seiner Religion. Bei der Rolle der Frau beispielsweise: Ihre kulturelle Rolle im Islam ist: Bleib zu Hause! Verschleiere dich! Sprich nur, wenn du gefragt wirst! Das sind kulturelle Traditionen. Mein Ex aber wollte mir weißmachen: Nein, nein, das ist Ausdruck meiner Religion. OK. Habe ich mich also näher mit der Materie beschäftigt. Und siehe da: Im Koran gibt es dafür gar keinen Beweis. Im Gegenteil: Ich bin auf lauter unabhängige, starke Frauen gestoßen. Allein die Frauen des Propheten. Dieses ´Heimchen-hinterm-Herd-Konzept` hat also gar nichts mit der eigentlichen Religion zu tun."
Sagt, was schief läuft in Finnland
Eine selbstbewusste, unbequeme Frau, die Dinge in Frage stellt: Damit hat sich Johanna Holmström nicht nur bei ihrem Ex-Mann ungeliebt gemacht: Auch in der finnischen Öffentlichkeit eckt die ausgebildete Journalistin an: Hauptsächlich mit ihrem Blog, in dem sie sich kritisch mit dem beschäftigt, was ihrer Meinung nach in Finnland schief läuft: Dass die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinander geht. Oder dass die schwedische Minderheit, die rund fünf Prozent der Bevölkerung ausmacht, in Finnland vermehrt angefeindet wird.
"Es passiert immer häufiger in letzter Zeit. Neuerdings wird sogar darüber diskutiert, ob die finnischen Schüler überhaupt noch Schwedisch als erste Fremdspreche lernen sollten. Bislang ist das ja noch so. Damit wollen viele Finnen aufräumen – nicht nur Rechtspopulisten wie die ´Wahren Finnen`. Das wäre der Anfang vom Ende. Früher oder später würde so die schwedische Tradition und das schwedisch-finnische Erbe verschwinden. Das gesellschaftliche Klima hat sich verändert: Du kannst inzwischen sogar angepöbelt werden, nur weil du in der Öffentlichkeit Schwedisch sprichst. Mir selbst ist das zwar noch nicht passiert, ich glaube, das würde sich auch niemand trauen. Aber ich habe von einigen Schwedenfinnen gehört, die nicht nur verbal angegriffen wurden sondern auch körperlich."
Ob in politischen Diskussionen oder Chatforen: Die Trägerin des "Preises der Schwedischen Literaturgesellschaft in Finnland" mischt sich ein. Johanna Holmström verzieht unmerklich das Gesicht. Es sei nicht immer "Vergnügungssteuerpflichtig", meint sie lapidar. Erst letztens musste sie sich in einem Chatforum von einem Mann die Frage gefallen lassen, ob sie nicht lieber nach Saudi-Arabien gehe wolle. Ihr "Vergehen": Sie hatte es gewagt, das Recht einer Frau zu verteidigen sich zu verschleiern. Holmströms Augen funkeln. So etwas spornt sie eher an. Auch ihr neues Projekt birgt Zündstoff: Ein Roman über "geisteskranke Frauen", die von der finnischen Gesellschaft bis heute weggesperrt werden.
"Ich schreibe über das, was aktuell in der Gesellschaft passiert. Das gehört sich eigentlich nicht bei uns. In Finnland gibt es leider diese Tradition, sich aus allem rauszuhalten. Du kannst inzwischen über die Zeit des Zweiten Weltkrieges schreiben. Das ist OK, weil es lange genug her ist. Aber komm bloß nicht auf die Idee, unsere aktuellen Tabus anzusprechen: Die Armut im Land. Einwanderung. Rassismus. Oder auch die Stellung der Frau. Ich meine, schau dir an, wie wenig Frauen noch in der Politik mitmischen. Die sind fast völlig von der Bildfläche verschwunden. Aber darüber reden?! Lieber nicht. Das nervt. Du machst dir als Autorin keine Freunde, wenn du es trotzdem tust. Aber gerade deshalb tue ich es."

Salla Simukka

Literatur mit politischen Anspruch und Alltagsbezug: Das trifft auch auf Salla Simukka zu.
"Wir sind hier im Sorsa-Puisto Park von Tampere. Er kommt auch in meinem Roman ´So rot wie Blut` vor. Lumikki, also Schneewittchen, meine Hauptprotagonistin, versucht hier, eine Unterhaltung zu belauschen."
In ´So rot wie Blut`, erschienen im Jahr 2013, ist es tiefster Winter – und der Sorsa-Puisto Park von Tampere, der rund 180 Kilometer nördlich von Helsinki entfernten Industriestadt, liegt unter meterhohen Schnee-Massen begraben. Jetzt aber ist Herbst – und Schmuddel-Wetter. Es regnet Bindfäden. Salla Simukka, die Jugendbuchautorin mit dem Faible für unangepasste Einzelgängerinnen und knallroten Lippenstift, muss aufpassen, dass ihr der Regenschirm nicht wegfliegt. Dann lieber rein ins "Telakka" – DAS alternative Kulturzentrum von Tampere mit seinem Off-Theater und den skurrilen Gestalten, die sich gut in einem Film von Aki Kaurismäki machen würden, dem finnischen Kult-Regisseur.
"Mich interessiert, was in der Welt passiert. Das fließt natürlich auch in meine Bücher ein. Allein deshalb sind sie schon auf eine Art politisch. Ich verfolge ziemlich genau das Tagesgeschehen. Aber in irgendeiner politischen Partei mitzumachen: Das ist nicht so mein Ding! Ich engagiere mich lieber gezielt – bei irgendwelchen Projekten. Und über meine Bücher natürlich. Was mich all die Jahre am meisten beschäftigt hat, ist die Freiheit des Einzelnen. Die geistige Freiheit. Ich bin kein großer Fan von Schubladen. Das versuche ich auch, in meinen Büchern zum Ausdruck zu bringen. Lass Dir von niemanden sagen, wer du bist und wer du sein kannst!"
Wunderkind mit "Schneewittchen-Trilogie"
In 43 Länder sind die Rechte von Sallas "Schneewittchen-Trilogie" inzwischen verkauft worden – das "Wunderkind der finnischen Literatur" stößt damit in Sphären vor, die bislang einer Sofi Oksanen vorbehalten waren, der exzentrischen Bestseller-Autorin von der viele in Finnland sagen, sie habe den Boom der jungen, wilden finnischen Schriftstellerinnen ins Rollen gebracht. Wenn man so will, ist Salla Simukka eine ihrer Nachfolgerinnen.
Die 33-Jährige lächelt etwas verlegen. Natürlich sei es schmeichelhaft, in einem Atemzug mit der großen Oksanen genannt zu werden. Meint sie, und rutscht auf ihrem Stuhl hin und her. Doch generell halte sie nicht viel von Vergleichen. Zunächst einmal sei sie "sie selbst": Salla Simukka, Jugendbuchautorin mit Anspruch, deren Thriller nicht nur gute Unterhaltung sein sollen sondern auch "gesellschaftlich-relevant": Drogensucht, Menschenhandel, Erpressung. Alles aus weiblicher Perspektive.
"In der finnischen Literatur ist es gar nicht so ungewöhnlich, eine starke Frau als Hauptcharakter zu haben. Das hat etwas damit zu tun, dass wir in Finnland eine lange Tradition von starken, unabhängigen Frauen haben. Ich glaube, am wichtigsten ist, dass die meisten Frauen bei uns immer schon gearbeitet haben. Besonders hier in Tampere: Wir sind eine Industriestadt, viele Frauen sind als junge Mädchen in die Stadt gekommen – auf der Suche nach Arbeit. Meine beiden Großmütter etwa: Sie waren immer berufstätig. Sie haben ihr ganzes Leben hart gearbeitet, in irgendwelchen Fabriken und Wäschereien. Sie sind Vorbilder für mich."

Ketja Kettu

Weibliche Vorbilder hat auch die Frau, von der Kenner der finnischen Literaturszene sagen, sie sei dabei, Sofi Oksanen den Rang abzulaufen: Katja Kettu. "Wildauge", ihr gerade auf Deutsch erschienener Roman, war eine Sensation als er in Finnland heraus-kam – und stand wochenlang auf Platz Eins der Bestsellerliste. Es ist die Liebesgeschichte einer finnischen Hebamme und eines deutschen SS-Offiziers in den Wirren des Zweiten Weltkrieges, als Deutsche und Finnen in Lappland gemeinsam gegen die sowjetische Armee kämpften.
Noch vor zehn, fünfzehn Jahren hätte solch ein Buch für ein mittelschweres Erdbeben gesorgt, sinniert die Grufti-Frau in ihrer Wohnung in Helsinki, um die sie nicht wenige beneiden dürften. Beste Wohnlage, im ersten Stock einer Jugendstil-Villa, mit gleich zwei Balkonen von denen der Blick auf die Bucht von Helsinki fällt. Schon schön hier, meint die Bestseller-Autorin achselzuckend während sie versucht, eine ihrer Katzen, Rimo, davon abzuhalten, in das Regal neben dem Totenkopf-Gemälde zu kriechen.
Das Schicksal der Großmutter
Kettu ist in Rovaniemi geboren – hoch oben im Norden, in Lappland. Während des Zweiten Weltkriegs waren hier zehntausende deutsche Soldaten stationiert. Kontakte zu finnischen Frauen blieben da nicht aus. In ihrer Kindheit, erinnert sich die Frau mit den diversen Tattoos an diesem verregneten Herbstnachmittag, hätten die Erwachsenen immer hinter vorgehaltener Hand über die Zeit damals getuschelt, über die "Schande". Speziell ihre Großmutter hätte ein ums andere Mal Andeutungen gemacht. Irgendwann reifte bei ihrer Enkelin der Entschluss, einen Roman über das Schicksal ihrer Großmutter zu schreiben; um ihr eine Stimme zu geben.
Lappland, Nordlicht
Nordlicht in Lappland, Finnland© picture alliance / dpa / Foto: Ismo Pekkarinen
"Ich habe auch ihre Briefe gelesen. Am meisten aber hat mich ihr Charakter inspiriert. Meine Großmutter ist eine wirklich sehr starke Frau: Sehr unabhängig, sehr positiv denkend. Sie lebt noch, aber leider hat sie Alzheimer. Ich habe sie diesen Sommer besucht, ich wollte von ihr etwas über Verwandte erfahren, die in die USA und die Sowjetunion ausgewandert sind. Ich arbeite da an einem neuen Projekt. Aber sie konnte sich an nichts mehr erinnern. Eigentlich wollte ich sie auch noch über die Zeit im Zweiten Weltkrieg ausfragen. Sie hat mir damals, als sie noch bei Sinnen war, nicht alles erzählt. Es ist wirklich traurig. Diese ganzen Geschichten. Sie konnte so schön Familiengeschichten erzählen."
Historische Themen mit Sprengkraft: Mögen Kritiker ihr auch vorwerfen, sie tue das nur weil sich Kriegs-Geschichten garniert mit Sex and Crime gut verkaufen: Katja Kettu lässt sich dadurch nicht beirren. Ähnlich wie die anderen "jungen Wilden" macht sie um Parteien einen großen Bogen: Politisch aber mischt sie sich ein: Bei Diskussionen über die Spätfolgen des Zweiten Weltkrieges, bei öffentlichen Debatten: Feminismus, Umweltschutz, Migration – das sind ihre Themen.
"Es ist schon interessant: Männliche Autoren haben bei uns gerade hauptsächlich Erfolg mit humoristischen Büchern. Und wir Frauen eher mit diesem kritischen Zeug, den Geschichts- und Politikthemen."
Erst vor ein paar Tagen ist Ketja Kettu aus den USA zurückgekehrt. Sie war dort mehrere Wochen lang mit zwei Freundinnen unterwegs, um mehr über das Los der gemeinsamen Kinder finnischer Auswanderer und Indianer zu erfahren, der sogenannten "Fin-Dians". Für genügend Gesprächs- und Lesestoff dürfte auch weiter gesorgt sein – im finnischen Bücherwald.
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