Fragen von Liebe und Tod

Von Frieder Reininghaus · 07.07.2011
Beim Opern-Festival in Aix-en-Provence wurde mit Verdis "La Traviata" wieder einmal ein sehr gängiges Werk an den Anfang gestellt. Dann folgten in kleinerem Rahmen auch zwei Uraufführungen - überzeugen konnten sie jedoch nicht.
Was ist "festspielwürdig"? Diese Frage erscheint müßig angesichts der Tatsache, daß so gut wie alles "geht" bei den vielen hundert musikalischen Sommerveranstaltungen, die den ganzen Sommer über die Städte Europas und querfeldein betönen und erquicken.

Bernard Foccroulle, nach 15 Jahren als Opern-Intendant in Brüssel seit 2007 Direktor des renommierten Festivals in Aix-en-Provence, setzte auch in diesem Jahr auf die sichere Bank und eines der gängigsten Werke an den "Anfang" – "La traviata" von Giuseppe Verdi. Es folgen Opern von Händel, Mozart und Schostakowitsch, aber – am Rande, vor- und nachgelagert – immerhin auch zwei Uraufführungen in kleinem Rahmen: als Nachzügler "Austerlitz – eine Kindheitsreise" von Jérôme Combier, mit der es in der musikalischen Muster-Sommerfrische der Franzosen auf kindheitsmustergültige Weise durch Zeit und Raum gehen soll, und zum Auftakt das auf englisch gesungene "Thanks to my Eyes" von Joël Pommerat und Oscar Bianchi.

Joël Pommerat bearbeitete eines seiner Schauspiele zum Libretto und inszenierte die als "symbolistisch" angepriesene Geschichte selbst. Die Szenenfolge handelt von Aymar, der auch in fortgeschrittenem Alter noch im ‚Hotel Mama’ betreut, vor allem aber vom Vater kujoniert wird: der Sproß, mit entmännlichter Stimme von Hagen Matzeit sehr glaubhaft auf die Bühne gebracht, soll in die Fußstapfen des alten Herrn treten. Der war angeblich einer der berühmtesten Komödianten aller Zeiten und Räume, ist möglicherweise aber nur ein schäbiger Hochstapler – wer weiß. Auch das läßt die Kammeroper offen. Wie das, was sich bei den von Aymar empfangenen nächtlichen Besuchen einer jungen Frau an künstlerischer Seelenverwandtschaft konstituiert. Mehr will und soll da nicht sein. Kein Begehren, schon gar kein Aufbegehren.

Die Partien all dieser traurigen Kleinbürgergestalten wurden von dem aus Oberitalien stammenden Schweizer Komponisten Bianchi auf eine Weise aus- und angefertigt, die anmutet, als wolle sie beständig unter Beweis stellen, warum dieser Tonsetzer zurecht vor allem auf eine lange Liste staatlicher und steuerlich begünstigter Förderprogramme verweisen kann. Einzig die Auftritte einer weiteren jungen Frau veranlaßten das gealterte Nachwuchstalent, wenigstens einer Partie etwas charakteristisches Oszillieren und Farbe zu verleihen. Das Ensemble modern klöppelt dazu – und das war es dann schon. Selbst wenn die in "Thanks to my Eyes" verhandelte Problematik die ihrer Urheber sein sollte, teilt sich kaum Emphase für den Sohn mit. Einzig mit der sterbenden Mutter, die irgendwie uneigentlich eine Großmutter ist, scheint die Produktion einen Hauch von Interesse zu haben. Aber das ist ein bißchen wenig, um Nachfolge des vor stark hundert Jahren grassierenden Symbolismus zu reklamieren, der sich mit anderem Zweck und Ziel an die letzten Fragen von Liebe und Tod herantastete.

Auch bei der nachfolgenden "Traviata"-Premiere ging es, einfach und klar herauspräpariert von der Inszenierung des Komödianten und Schauspielregisseurs Jean-François Savadier, um einen Vater-Sohn-Konflikt: Germont senior durchkreuzt das kurze Glück seines Sprößlings Alfredo mit Violetta Valéry, die auf "ordentliche Bahnen" gelangen will. Die Londoner Symphonikern unter dem Mozart-Spezialisten Louis Langrée bescherten dem Abend hohes Niveau mit der nötigen Kühle und Zügigkeit. Ludovic Tézier, Charles Castronovo und Natalie Dessay machten die eigentümliche "Dreiecksgeschichte" zum Ereignis. Ob die in Koproduktion mit der Wiener Staatsoper entwickelte karge Inszenierung in der österreichischen Hauptstadt auf ebenso ungeteilten Zuspruch stößt wie in Aix, bleibt abzuwarten.

Das Festival im Netz: Festival Aix-en-Provence