Fotoroman zum Front National

Wo die extreme Rechte das Sagen hat

Anhänger von Marine Le Pen in der Front-National-Hochburg Henín-Beaumont
Anhänger von Marine Le Pen in der Front-National-Hochburg Henín-Beaumont © dpa / Picture Alliance / Pierre Le Masson
Von Bettina Kaps · 27.02.2017
Wer wählt eigentlich den Front National? Zwei Franzosen haben sich drei Städte angesehen, die von Bürgermeistern der rechtsextremen Partei regiert werden. Ihre Ergebnisse haben sie als Fotoroman über die "nationale Illusion" veröffentlicht.
Autorenlesung in der Pariser Buchhandlung "La Petite Lumière". Mindestens 30 Besucher warten in der Schlange, um den Fotoroman "L'illusion nationale" signieren zu lassen. "Nationale Illusion" – auf dem Buchumschlag ist zu sehen, was die Autoren darunter verstehen: Eine junge Frau - blonde Haare, erwartungsvolles Lächeln – schmiegt sich geradezu an die ebenso blonde Marine Le Pen, macht ein Selfie. Die Front National-Chefin steht als Hoffnungsträgerin da.
Der Titel des Buchs drückt auch aus, dass die Illusion der FN-Wähler Folge einer enormen Desillusionierung ist, sagt Valérie Igounet bei der Vorstellung des Buchs:
"Diese Menschen glauben nicht mehr an die traditionelle Politik. Sie habe die Versprechungen aller Parteien gehört, ihre Repräsentanten gesehen, fühlen sich von ihnen verlassen und getäuscht. Jetzt setzen sie ihre ganze Zuversicht in diese angeblich neue Partei, himmeln diese blonde Frau an, die noch nie am Ruder war. Sie sagen: Warum nicht?"
Valérie Igounet ist Historikerin und veröffentlicht regelmäßig Fachbücher über ihr Spezialgebiet, den Rechtsextremismus in Frankreich. Mit der ungewöhnlichen Form des Fotoromans will sie nun ein neues Publikum erreichen.
"Es war uns wichtig, anders als sonst üblich über den FN zu sprechen. Wir wollten seinen Anhängern zuhören und sie auch zeigen. Es ging uns darum, nicht karikaturartig zu sein. Wir haben verschiedene Profile aufgezeigt, Frauen und Männer, verschiedene Altersstufen..."
Valérie Igounet und der Fotograf Vincent Jarousseau sind jeweils rund 20 Mal in drei Städte gefahren, die vom FN regiert werden: nach Hénin-Beaumont im Norden, Hayange im Nordosten und Beaucaire im Süden. Dort haben sie FN-Sympatisanten, gewählte Parteimitglieder, aber auch Nicht-Wähler und FN-Gegner begleitet, sind mit ihnen auf Feste gegangen, auf Wochenmärkte, in Kneipen, nach Hause. Sie haben die Gespräche aufgezeichnet und die Menschen dabei fotografiert.

Unsichtbare Bevökerungsschicht sichtbar machen

Die Meisten hätten sich über das ungewohnte Interesse gefreut, sagt Vincent Jarousseau:
"FN-Wähler, das sind vor allem Arbeiter und kleine Angestellte, Menschen, die einen sozialen Abstieg erlebt haben oder befürchten. Diese Bevölkerungsschicht ist in den Medien, Filmen und Werbung kaum vertreten, sie machen da nur 2 Prozent aus, sind also quasi unsichtbar. Auch deshalb ist das Thema wichtig und fotografisch interessant. Ich wollte diesen Menschen mit meinen Fotos gerecht werden."
Jarousseau hat sich für Schwarz-weiß-Fotos entschieden, ganz in der Tradition des Fotoromans. Das unterstreicht die Emotionen der Gesichter; das Blau-Weiß-Rot des Front National wird unsichtbar. Das Ergebnis sind qualitativ hochwertige Aufnahmen der Frauen und Männer, mit denen die beiden Autoren unterwegs waren. Ihre Ansichten sind in Sprechblasen zu lesen: Paranoia, Angst vor Ausländern, der Wunsch nach Abschottung, politische Ernüchterung. Und die naive Vorstellung, dass früher alles besser war.

Meilenweit von der Realität entfernt

Da ist zum Beispiel Sandrine: Die 35 jährige muss sich und ihre Familie mit Gelegenheitsjobs durchbringen. Sie sitzt in ihrer schmucklosen Küche, sagt:
"Die Lage ist so schlecht, dass ich jetzt erst recht FN wählen werde. Ich habe immer gearbeitet und komme trotzdem nicht über die Runden. Aber um die Migranten zu holen, dafür haben sie Geld. Die sind sogar im Privatjet in Nîmes gelandet."
Migranten im Privatjet oder im Drei-Sterne-Hotel. Derartige Äußerungen habe sie oft gehört, sagt Valerie Igounet. Und diese Menschen stehen zu dem, was sie sagen. Allen Porträtierten wurden ihre Aussagen vor Abdruck noch einmal vorgelegt.
"Sie glauben das wirklich. Bei allem Respekt für diese Menschen mit ihren vielen Sorgen: Sie sind oft meilenweit von der Realität entfernt."
Das Foto-Buch erlaubt eine extreme Annäherung an die Anhänger des Front National. Beim Ansehen offenbaren sich Details, wie die Mimik der Menschen, ihr Blick, die alltägliche Umgebung.
Die Historikerin Valérie Igounet und der Fotograf Vincent Jarousseau stellen ihren Fotoroman über den Front National vor.
Die Historikerin Valérie Igounet und der Fotograf Vincent Jarousseau stellen ihren Fotoroman über den Front National vor.© Bettina Kaps
Ein Zuhörer fragt, ob das Buch die FN-Wähler nicht trotz ihrer Ausländerfeindlichkeit sympathisch mache.

Menschlich herzzerreißend

Das könne schon sein, aber sie wollten keine vorgefertigten Meinungen bedienen, sondern stören und aufrütteln, sagt Vincent Jarousseau.
Im Begleittext des Buchs heißt es: "Die Nationale Illusion ist politisch zum Verzweifeln und menschlich herzzerreißend." In der letzten Sprechblase sagt Serge, Mitte 40, ehemaliger Soldat:
"Alle anderen Parteien wollen unbedingt verhindern, dass der FN gewinnt. Aber man hat den Eindruck, dass sie alles tun, damit er gewinnt. Marine Le Pen müsste gar keinen Wahlkampf machen. Die anderen tun es für sie, sie übergeben ihre Wähler dem Front National."
Der Mann bringt die aktuelle politische Lage in Frankreich auf den Punkt: Die Chancen für den Front-National sind so gut wie nie zuvor. Das Buch hinterlässt ein Gefühl von Scham und Wut, dass Frankreich es so weit hat kommen lassen.
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