Fotografie

Das Werk der Vivian Maier

Selbstporträt der Fotografin Vivian Maier.
Selbstporträt von Vivian Maier © ©Vivian Maier_Maloof Collection
Von Eva Hepper · 05.12.2014
Das fotografische Werk der Vivian Maier ist umfangreich und zugleich rätselhaft: Erst nach ihrem Tod wurden die Aufnahmen entdeckt. Howard Greenberg legt nun eine Monografie vor, mit der er helfen will, Maiers Werk zu erschließen.
Ein einzelner Damenschuh, auf die Seite gekippt und ziemlich mitgenommen, liegt im Zentrum der Schwarz-Weiß-Fotografie. Man würde ihn gerne genau studieren, wären da nicht noch die beiden anderen Objekte, die den Blick auf sich ziehen. Zwei Kinderbeine im Anschnitt am oberen rechten Bildrand. Und links unten ein kurviger Schatten, geformt aus Schulter, Kopf und Hutkrempe. Was ist das Hauptsujet? Darüber gibt einzig der Titel der Fotografie Aufschluss: Selbstporträt.
Die Frau, die sich hier 1956 als Schatten im Bild festgehalten hat, war Vivian Maier. Eine bis vor wenigen Jahren Unbekannte, die 2009 im Alter von 83 Jahren verarmt in Chicago verstarb. Nichts wies darauf hin, dass Maier, die ihren Lebensunterhalt als Kindermädchen verdiente, ein großes fotografisches Werk geschaffen hat. Tatsächlich wurde es nur per Zufall entdeckt, als diverse Kartons aus einem aufgelösten Lager zur Versteigerung kamen. Der Hobbyhistoriker John Maloof und andere Bieter erwarben für wenige Dollar über hunderttausend Fotografien – die meisten noch unentwickelt. Sie hielten einen Schatz in Händen. Die Bilder Vivian Maiers entpuppten sich als von atemberaubender Qualität. Vergleichbar mit den Meisterwerken einer Diane Arbus oder Helen Levitt, eines Robert Frank oder Walker Evans.
Die Fotografin selbst das große Rätsel
Fünf Jahre nach ihrem Tod ist das Rätsel um Vivian Maier immer noch nicht gelöst. Die 1926 in New York geborene Fotografin war extrem scheu und schuf ihr Werk bewusst im Verborgenen. Nach posthumen Ausstellungen weltweit, unzähligen Artikeln, Film- und Fernsehdokumentationen erscheint nun die erste große Monografie über das Leben und Werk der großen Unbekannten. Der Band versammelt 230 Fotografien, einige davon in Farbe. Jede einzelne ist bis ins kleinste Detail komponiert, bestechend in Ausschnitt und Blickwinkel. Es sind durchweg Meisterwerke, die hier einzeln Seite für Seite im großen Format (22 mal 22 Zentimeter) und höchster Druckqualität abgebildet sind.
Vivian Maier hielt fest, was ihr vor die Linse kam: die Architektur New Yorks (in den 1950er Jahren) und später Chicagos (bis in die 90er Jahre), Industrieanlagen, Hochbahnen, durch Straßenschluchten hetzende Städter, Menschen am Rande der Gesellschaft, spielende Kinder, Tauben im Rinnstein, Alltagsszenen und immer wieder Selbstporträts. In spiegelnden Schaufenstern, reflektierenden Oberflächen, als Schatten oder Schemen geistert Vivian Maier durch ihr Werk.
Wer sie war, was sie bewegte und warum sie zeitlebens keine einzige Fotografie veröffentlichte, kann auch Marvin Heifermann nicht erklären. Dennoch gelingt dem Fotografie-Experten eine einfühlsame Einordnung und Kontextualisierung: Er versteht nicht nur, Maiers Œuvre zu würdigen und den bisweilen heiklen Umgang mit den unentwickelten Filmen zu thematisieren, sondern es gelingt ihm auch, die Frau, die nie ins Licht der Öffentlichkeit wollte, mit Diskretion und Neugier zu porträtieren. So behält Vivian Maier ihr Geheimnis, und ihre Fotographien sprechen für sich.

Howard Greenberg (Hg.), Vivian Maier – Das Meisterwerk der unbekannten Fotografin 1926-2009. Die sensationelle Entdeckung von John Maloof.
Mit Texten von Marvin Heifermann und Laura Lippmann, übersetzt von Ursula Wulfekamp,
288 Seiten, Schirmer Mosel Verlag, 2014, 58 Euro

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