Fortschritt statt Zufall

06.11.2008
Allein Mutation, Selektion und Zufall haben den Weg von den ersten Enzymen bis zum Homo sapiens bestimmt: So heißt das evolutionstheoretische Dogma, das jede Idee von "Fortschritt" als unwissenschaftlich geißelt. Der Widerstand indessen nimmt zu. In "Und wir sind es doch…" behauptet Gerhard Neuweiler gar: "Man muss die Augen krampfhaft verschließen, um den Fortschritt in der Evolution nicht zu sehen."
Auf höchstem Sachbuch-Niveau und in glänzender Klarheit startet Gerhard Neuweiler am Anfang des Lebens vor circa vier Milliarden Jahren, als Enzyme mittels Katalyse und Replikation die Informationen des Lebendigen weiterzugeben begannen. "Am Ursprung der Evolution stand nicht der Zufall, sondern die Fähigkeit zur Selbstorganisation", lautet die entscheidende These.

Indem Neuweiler die Selbstorganisation zumal der Proteine als das "Leitmotiv des Lebens" auszeichnet, gewinnt er eine originelle Perspektive auf den naturgeschichtlichen Prozess und kann in schönem Pathos behaupten:

"Und deshalb taumelt das Leben nicht wie ein Windspiel des Zufalls über den Erdball und durch die Erdgeschichte, sondern folgt (…) unbeirrt einer Tendenz: wachsende Komplexität."

Weder ein Gott noch irgendeine irrationale Lebenskraft kommen dabei ins Spiel. Neuweilers Reformulierung der Evolutionstheorie ist mit vielen alten Lehrsätzen vereinbar. Die Mutabilität der Gene, die daraus folgende Variabilität der Arten, der Einfluss der Auslese: Nichts davon zieht Neuweiler in Zweifel.

Nur dass es für ihn eben einen roten Faden gibt, die Komplexitätssteigerung bis hinauf zur relativen Freiheit des Menschen, der eine zweite Evolution begründet hat. Für den Fachkollegen Richard Dawkins, der in "Das egoistische Gen" behauptete, alle Gestalten des Lebens dienten allein der Selbsterhaltung der Gene, hat Neuweiler gelinden Spott übrig:

"Ginge es der Evolution nur um den ewigen Fortbestand der Gene, wären Bakterien die erfolgreichsten Lebewesen."

Überhaupt kämpft Neuweiler gegen die modische Gen-Fixierung. Er betont den Einfluss der Epigenetik, also der Mechanismen zwischen Genen, Zellumgebung und äußerer Umgebung, die über das Ein- und Ausschalten bestimmter DNA-Sequenzen entscheiden. In der Mitte des Buches schwenkt Neuweiler auf Neurobiologie und Gehirnforschung um und behauptet: Der Mensch habe Kultur und Zivilisation nicht vor allem wegen überlegener kognitiver Intelligenz erschaffen, sondern wegen seiner exzellenten Fingerfertigkeit und der motorischen Fähigkeit zu sprechen. Weshalb für Neuweiler der Homo sapiens "längst ein Homo faber geworden" ist.

So hoch die Ansprüche sind, die Neuweiler in seinem Vermächtnis-Buch an die Leser stellt, so aufschlussreich ist andererseits die Lektüre. Der Gedankengang führt ohne billige Vereinfachungen von der Ursuppe bis zur Abwägung der Zukunftschancen des Menschen. Dass die technisch-naturwissenschaftliche Zivilisation innerhalb von 250 Jahren in eine "rauschhafte, weltumspannende Materialismusorgie" übergegangen ist, muss angesichts der massiven Folgen ängstigen.

Doch Neuweiler erliegt nicht dem Pessimismus. Er holt den Menschen von der Anklagebank, "auf die ihn schimpf- und schuldbeladene Biologen, Evolutionsforscher, Philosophen, Moralisten und Gutmenschen der Ökologie verbannt haben" und fordert vom Homo faber, seine bevorzugte Stellung zu nutzen:

"Die große Zukunftsaufgabe einer global vernetzten Menschheit wird es sein, Gewaltausbrüche durch machtbewehrte Regeln und Normen zu verhindern und in dieses Menschheitsmanagement das der Natur einzubeziehen."

Rezensiert von Arno Orzessek

Gerhard Neuweiler: Und wir sind es doch - die Krone der Evolution
Verlag Klaus Wagenbach, Berlin 2008
252 Seiten, 24,90 Euro