Forschung

Sexuelle Lust zu zweit, zu dritt, zu zehnt

Die Tastatur-Buchstaben S, E, X liegen einzeln auf einer rosa Tischdecke.
Sex per Knopdruck - leicht zu haben in Zeiten des Internets © picture alliance / dpa / Foto: Tuomas Marttila
Von Susanne Billig · 05.08.2014
Ob Swingerklub, SM-Katakomben oder Dating-Portale - Pere Estupinyàs Erkenntnisse basieren auf Studien und knallharter Vorort-Recherche. "Sex - die ganze Wahrheit" ist eine Kombination aus seriöser Wissenschaft und purer Lust.
Hier trägt man nur ein Handtuch um die Hüften - oder nichts. Dezentes Licht an der Bar, ein üppiges Büffet voller Lachshäppchen und frischen Salaten und weiter hinten lange Gänge, die rechts und links in verschiedene Räume abzweigen, in denen sich die New Yorker Hautevolee sexuellen Lustbarkeiten hingibt, zu zweit, zu dritt, zu zehnt.
Für sein neues Buch "Sex - Die ganze Wahrheit" hat Pere Estupinyà eine abwechslungsreiche und recht persönliche Recherche unternommen, hat sich in teure Swingerclubs und waffenstarrende SM-Katakomben begeben, pseudoindische Orgasmuskurse und zahllose sexologische, psychologische, physiologische und gehirnbiologische Forschungseinrichtungen. Das Ergebnis seiner Mühen ist mit 500 Seiten ordentlich lang und dick geraten - und präsentiert den Evergreen unter den Sachbuchthemen mit Kapitelüberschriften wie "Sex im Gehirn", "Sex in der Evolution", "Sex in der Psyche", "Sex in Bars" oder "Sex im Rollstuhl" facettenreich, schamfrei, frisch im Tonfall und gründlich getränkt in seriöse Wissenschaft.
Sexualverhalten ist nur "bio-psycho-sozial" zu deuten
Auch wenn der Fokus des Autors auf der naturwissenschaftlichen Forschung liegt, lautet sein Credo doch: Menschliches Sexualverhalten ist nur "bio-psycho-sozial" zu deuten, vielschichtig und mehrdimensional. Damit liegt er ganz auf der Linie der aktuellen Sexualwissenschaften, und Pere Estupinyà meint es ernst damit: Welches Thema auch immer er anschneidet, ob Erektionsprobleme oder uneindeutige Geschlechtsidentitäten, Internet-Dating oder Mikropenisse, Chlamydieninfektionen oder die Magie des Zungenkusses - der Autor gibt sich mit Schmalspur-Erläuterungen nicht zufrieden, sondern holt aus Psychologie, Soziologie, Hirnforschung und Alltagserfahrung immer das gesamte Spektrum der Interpretationen herbei.
Spontan-Orgasmen beim Rafahren
Herrlich liest sich der Reichtum an Studien, den Pere Estupinyà auf diese Weise zusammenträgt. Wer schon immer einmal wissen wollte, wie häufig Frauen beim Radfahren von Spontan-Orgasmen ereilt werden oder wie sich zwanzigmaliges Masturbieren pro Tag auf den Cortisolspiegel auswirkt, wie häufig sich Männer muskulöser und Frauer schlanker lügen in Dating-Portalen oder was im Körper einer Trantra-Lehrerin vor sich geht, die allein durch schnelles Atmen den Höhepunkt erreicht - Pere Estupinyà kennt die exakten Daten. Einige Male legt der Autor beim Forschen sogar selbst mit Hand an - zum Beispiel wenn er als erster Mensch der Welt sein masturbierendes Gehirn von einem Magnetresonanztomografen scannen lässt.
"Sex - Die ganze Wahrheit" ist reich erzählte Wissenschaft vom Feinsten, wobei sich die Entscheidung der Übersetzerinnen, den Autor sein Publikum konsequent mit dem vertraulichen Du ansprechen zu lassen, ein wenig gewöhnungsbedürftig liest, aber beim Lesen auch bald in Ordnung geht. Am Ende hat die Schamhaftigkeit Pere Estupinyà nur selten besiegt: Begnügte er sich im New Yorker Swingerklub tatsächlich mit einer Rolle als wissenschaftlich distanzierter Zuschauer? Dieses eine Mal hüllt sich das Buch in Schweigen.

Pere Estupinyà: Sex - die ganze Wahrheit
Aus dem Spanischen von Marter Inka und Silke Kleemann
Riemann Verlag, München 2014
500 Seiten, 19,99 Euro

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