Flüchtlingsurteil ist "hoffentlich wirksame Waffe"

Silja Klepp im Gespräch mit Liane von Billerbeck · 24.02.2012
Die Ethnologin Silja Klepp hofft, dass das Urteil des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte gegen Italien die "sehr bedenkliche Situation" für Flüchtlinge in die EU verbessern helfen kann. Auch Deutschland müsse den Richterspruch als Signal verstehen und mehr Solidarität mit Ländern an den Grenzen Europas üben, sagt sie.
Liane von Billerbeck: Es ist ein Urteil, das möglicherweise weitreichende Folgen haben wird: Gestern gab der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte 24 Flüchtlingen aus Somalia und Eritrea einstimmig recht, die im Mai 2009 von der italienischen Küstenwache auf hoher See trotz Foltergefahr nach Libyen zurückgebracht worden sind. Man hatte sie weder befragt und sie zudem in dem Glauben gelassen, man brächte sie auf die italienische Insel Lampedusa. Der EuGH hat Italien deshalb verurteilt wegen mehrfacher Menschenrechtsverletzungen und außerdem zu Schadenersatzzahlungen an die Bootsflüchtlinge. Die Ethnologin Silja vom artec Forschungszentrum für Nachhaltigkeit der Universität Bremen hat eine preisgekrönte Dissertation über die EU-Außengrenzen geschrieben und ist dafür an die Ränder Europas gereist, um mit Flüchtlingen und Sicherheitskräften zu sprechen. Vor unserer Sendung haben wir mit Silja Klepp gesprochen. Ich grüße Sie!

Silja Klepp: Hallo, guten Tag!

von Billerbeck: Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat Italien verurteilt wegen Verstößen gegen das Verbot unmenschlicher Behandlung, gegen das Verbot auf kollektive Ausweisung und gegen das Recht auf wirksame Beschwerde plus Zahlungen von 15.000 Euro an jeden der 24 Flüchtlinge. Frau Klepp, welche Bedeutung hat dieses Urteil?

Klepp: Ja, ich denke, und ich hoffe vor allen Dingen, dass es eine sehr starke Signalwirkung entfalten wird, und das Gebot des Non-Refoulement eben endlich eingehalten wird im Mittelmeer.

von Billerbeck: Dieses Urteil zu erreichen, war ja nicht besonders einfach. Der italienische Flüchtlingsrat ist mithilfe des UN-Flüchtlingshilfswerkes in Flüchtlingslager gelangt, um diese Bootsflüchtlinge von damals ausfindig zu machen und um Vollmachten von ihnen zu bekommen. Und gut war auch, dass das Geschehen im Mai 2009 von zwei französischen Journalisten beobachtet worden ist. Sie waren für Ihre Dissertation an den EU-Außengrenzen auf dem Mittelmeer, an den Küsten von Italien, Malta und Libyen. Was haben Sie gesehen, wie wurden die Flüchtlinge dort behandelt, Frau Klepp?

Klepp: Ja, grundsätzlich muss man schon sagen, dass sie in den drei Ländern unterschiedlich schlecht – muss man leider sagen – behandelt wurden. Es gab dann im Mai 2009 diese Neuerung, dass die Flüchtlinge eben erstmals tatsächlich regelmäßig zurückgeschoben wurden von See oder auch sogar von Italien aus Richtung Libyen, was natürlich noch eine weitere Verschlechterung gebracht hat. Ansonsten muss man sagen, dass ja in diesen drei Ländern für die Flüchtlinge die Situation überall sehr schlecht ist, aber natürlich in Libyen vergleichsweise noch viel schlimmer als in den europäischen Ländern.

von Billerbeck: Wieso kann es eigentlich solche bilateralen Verträge geben, also in diesem Fall zwischen Italien und Libyen? Die verstoßen doch gegen die Genfer Flüchtlingskonventionen und noch allerhand andere Gesetze.

Klepp: Genau, also Italien hat schon angefangen, mit Libyen zu kooperieren im Migrationsbereich, als sogar noch die UN-Sanktionen galten bis 2004. Das heißt, das waren dann Verträge und Abkommen, die tatsächlich in den Geheimdiensthinterzimmern ausgehandelt wurden, und man kann nicht anders sagen, dass auch dieser Vertrag, dieser Freundschaftsvertrag, der dann offiziell unterzeichnet wurde zwischen Italien und Libyen, in der Tradition solcher im Hinterzimmer von Sicherheitskräften ausgehandelten Verträge steht. Und dafür ist ja auch sehr, sehr viel Geld geflossen von Italien nach Libyen – es sind von Beträgen bis zu fünf Milliarden Euro die Rede. Das ist natürlich trotzdem illegal, was dort ausgehandelt wurde.

von Billerbeck: Nun gibt es ja die Grenzschutzagentur Frontex, die die EU-Außengrenzen auf dem Meer schützen soll. Wie geht sie mit Flüchtlingen auf dem Meer um, was haben Sie da erlebt, was ist Ihnen gesagt worden von den Sicherheitskräften?

Klepp: Also ich hatte 2007 die Gelegenheit, mit verschiedenen Frontex-Kommandeuren zu sprechen. Ich denke, ein sehr großes Problem ist die große Unsicherheit, was die rechtliche Situation betrifft, gerade auch im europäischen Flüchtlingsrecht. Das heißt, diese Sicherheitskräfte hatten eine sehr große Möglichkeit, ihren Spielraum zu nutzen. Das machen sie dann natürlich auch eher im Sinne von Sicherheitsgesetzen und auch vielleicht im Sinne der Politik, als dass eben an Flüchtlingsrecht gedacht wird.

von Billerbeck: Bei der Rettung auf See, da geht es ja oft um Menschenleben, Flüchtlinge, die auf völlig überfüllten Booten zu Dutzenden übers Meer gekommen sind. Wie unterschiedlich gehen die Anrainerstaaten denn da mit Flüchtlingen um? Wie unterschiedlich wird dieser Begriff Seenot gewertet?

Klepp: Interessanterweise konnte ich feststellen, dass Malta und Italien da ziemlich unterschiedliche Auffassungen haben: Während Italien sagt, dass ein vor sich hindümpelndes Schiff, das überfüllt ist, das nicht seetauglich ist, in jedem Fall in Seenot ist und gerettet werden muss, ist es eben in Malta so gewesen, dass dort auch überfüllte Schiffe eben nicht als in Seenot geraten definiert wurden.

von Billerbeck: Als diese 24 Flüchtlinge, um die es jetzt vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte ging im Mai 2009, einfach wieder zurückgefahren wurden nach Libyen, wo sie ja an Leib und Leben gefährdet waren, da gab es keinen Aufschrei in Europa. Kein Land hat protestiert, und auch die Europäische Kommission schwieg dazu. Das heißt doch, Flüchtlingsrecht gibt es zwar, aber wir setzen es lieber nicht durch, um nicht immer mehr Flüchtlinge aufnehmen zu müssen, oder?

Klepp: Das ist eine sehr, sehr bedenkliche Situation. Obwohl es geltendes Recht ist – sogar zwingendes Recht nennt man das in Völkerrecht, dieses Gebot des Non-Refoulement, Menschenrecht, Flüchtlingsrecht - obwohl das eben ganz klar in der rechtlichen Situation ist, waren die Reaktionen extrem verhalten. Und man muss auch sagen, dass hier eigentlich die eigene Basis der Europäischen Union, die ja auch die Menschenrechte sind eigentlich, ad absurdum geführt werden im Grenzraum. Und das halte ich neben den vielen Toten natürlich für eine andere sehr, sehr besorgniserregende Dimension dieser Geschichte.

von Billerbeck: Viele Flüchtlinge werden auf dem Meer aufgegriffen, wenn sie es denn überhaupt geschafft haben und nicht ertrunken sind. Wenige schaffen es an Land. Wie korrekt ist denn der Umgang nach Ihren Recherchen dort?

Klepp: Ja, hier muss ich wiederum sagen, dass ich in Malta und Italien auch sehr unterschiedliche Situationen erlebt habe. In Malta war das große Problem, dass alle Ankommenden lange in sehr, sehr schwierigen Situationen in Haft genommen wurden, in geschlossene Haft – fast alle bis zu 18 Monate lang –, Frauen, Männer, zum Teil sogar gemeinsam untergebracht. Vor allem der Jesuiten-Flüchtlingsdienst zum Beispiel hat da ganz schwierige Konditionen aufgedeckt für Malta.

von Billerbeck: Wie müssen wir uns das vorstellen, unter welchen Bedingungen sind die da festgesetzt worden?

Klepp: Also ich habe zum Beispiel mit einem Jesuitenpater geredet, der mir erzählt hat, dass - wie gesagt - tatsächlich Frauen und Männer gemeinsam in großen Zimmern untergebracht werden, dazu sind die hygienischen Einrichtungen wirklich ganz schlecht, also verschmutzt, zum Teil nicht mal richtig abgetrennt von diesen Hafträumen – es handelt sich da auf jeden Fall um Konditionen, die wir in Europa so nicht für möglich halten.

In Italien hingegen gibt es das Problem, dass viele Flüchtlinge, die ankommen, keinen Zugang zum Asylverfahren bekommen, das heißt, ihnen wird gesagt: Wenn ihr nicht aus dem und dem Land kommt, dann könnt ihr sowieso keinen Asylantrag stellen. Das heißt, hier wird das Recht auf individuellen Asylantrag sofort verwehrt. Zudem ist es auch in Italien nicht so, dass eine umfassende Verpflegung für Asylbewerber gewährleistet ist.

von Billerbeck: Nach Ihren Recherchen und diesem Gerichtsurteil gegen Italien, wie sollte das denn in Deutschland verstanden werden? Es gibt ja immer die Diskussion, dass Italien beispielsweise sehr viele Flüchtlinge einfach wegen der Lage aufnimmt, und es gab auch immer den Versuch, dass diese Flüchtlinge auf die ganze EU verteilt werden. Müsste sich da nicht etwas ändern, auch im Interesse der Flüchtlinge?

Klepp: Ja, auf jeden Fall. Also natürlich kann hier nicht gesagt werden, dass Italien hier gegen Recht verstoßen hat und der Rest der EU sozusagen aus der Verantwortung ist, im Gegenteil: Gerade Deutschland hat sich in den letzten Jahrzehnten zunehmend aus der Verantwortung gestohlen, vor allen Dingen, wenn wir zum Beispiel an das Dublin-II-Übereinkommen denken, wo ja sozusagen versucht wurde, genau diese ganzen Asylverfahren in die Grenzregionen Europas zu verlagern. Also auch Deutschland muss auf jeden Fall dieses Urteil als Signal verstehen und auch wieder versuchen, mehr Solidarität mit Italien zum Beispiel und anderen Ländern an den Grenzen Europas zu üben.

von Billerbeck: Was meinen Sie, Frau Klepp, welche Folgen wird dieses Urteil haben? Wird sich die Lage für die Flüchtlinge an den Grenzen Europas verbessern?

Klepp: Ich hoffe es sehr. Ich denke, dass damit schon jetzt eine hoffentlich wirksame Waffe auch für die Lobby, die es ja doch auch gibt, zum Glück, für Flüchtlinge, gefunden ist, und man kann nur hoffen, dass hier jetzt eben noch mehr darauf gepocht wird, dass eben herrschendes Recht auch tatsächlich umgesetzt wird. Vielleicht ist es auch so, dass die Akteure vor Ort, das heißt, auch die Sicherheitskräfte vor Ort, noch mehr verstehen, was eigentlich tatsächlich die Lage ist, die rechtliche, und dass eben auch Flüchtlingsrecht natürlich auch einklagbar ist. Vielleicht ist auch darüber dann eine gewisse Verbesserung festzustellen in Zukunft. Ich hoffe es sehr.

von Billerbeck: Das sagt die Ethnologin Silja Klepp vom artec Forschungszentrum für Nachhaltigkeit der Universität Bremen. Ihre preisgekrönte Dissertation "Europa zwischen Grenzkontrolle und Flüchtlingsschutz – eine Ethnografie der Seegrenze auf dem Mittelmeer" ist als Buch im transcript Verlag erschienen. Frau Klepp, ich danke Ihnen für das Gespräch!

Klepp: Herzlichen Dank!

von Billerbeck: Bitterer Satz zum Schluss: Ein gutes, ein wichtiges Urteil, aber die ehrenamtlich tätigen Anwälte der 24 Flüchtlinge haben derzeit nur noch zu sechs von ihnen Kontakt. Zwei sind tot, und das Schicksal der anderen 16 Flüchtlinge, die geklagt haben, ist ungewiss.

Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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