Flüchtlingspolitik

"In unserer Gesellschaft läuft wirklich was falsch"

Ein Regenschirm mit der Aufschrift "Kein Mensch ist illegal" liegt am 30.04.2014 bei einer Pressekonferenz auf dem Oranienplatz in Berlin. Die Flüchtlinge und Aktivisten auf dem Berliner Oranienplatz haben ihren Hungerstreik nach einem Gespräch mit der Bundesbeauftragten für Flüchtlinge, Özugus, unterbrochen.
Flüchtlingsprotest auf dem Berliner Oranienplatz © picture alliance / dpa / Foto: Hauke-Christian Dittrich
Lydia Ziemke und Patras Bwansi im Gespräch mit Klaus Pokatzky · 02.05.2014
Monatelang hat die Journalistin Lydia Ziemke die Flüchtlinge vom Kreuzberger Protestcamp begleitet. Sie fordert, die Geflüchteten aus Afrika als gleichwertige Menschen wahrzunehmen und auch als politische Akteure.
Klaus Pokatzky: Der Oranienplatz liegt in Berlin-Kreuzberg, nicht weit vom Bezirk Mitte, da, wo einst die Mauer stand. Benannt ist der Oranienplatz nach dem niederländischen Herrschergeschlecht, das mit dem preußischen Haus Hohenzollern versippt und verschwägert war. Angelegt wurde er im 19. Jahrhundert, und bundesweiten Ruhm erlangte er seit 2012. Da besetzten Flüchtlinge den Platz und richteten ein Protestcamp ein als symbolischen Ort gegen die deutschen Asylvorschriften. Und über diesen Kampf haben Patras Bwansi und Lydia Ziemke ein Feature für das Deutschlandradio Kultur gemacht. Morgen läuft es in unserem Programm. Willkommen im Studio!
Lydia Ziemke: Hallo!
Patras Bwansi: Hallo!
Pokatzky: Wie ist denn jetzt der aktuelle Stand auf dem Oranienplatz?
Bwansi: Die gegenwärtige Lage auf dem Oranienplatz ist die folgende: Nachdem die Räumung vorgenommen worden war, die Räumung dieses Flüchtlings-Protestcamps, das, wie Sie richtig erwähnt haben, im Oktober 2012 eingerichtet worden ist, haben wir sofort beschlossen, diesen Platz wieder zu besetzen. Direkt nach der Räumung haben wir erklärt: Wir haben diesen Platz wieder besetzt, weil wir die Räumung nicht akzeptierten. Einige von uns sind zum Zeichen des Protestes auf einen Baum geklettert. Wir waren fünf Menschen dort oben, etwa fünf Menschen, von denen drei recht bald wieder runtergekommen sind, nachdem am folgenden Tag die Polizei verhindert hatte, dass uns Wasser, Nahrung und warme Kleidung gereicht wurde. Und zum Schluss blieb nur eine Person noch oben, eine Frau, Napuli Langa.
Pokatzky: Das heißt, Lydia, wenn ich das recht verstanden habe: Es hat eine Räumung gegeben, jetzt hat es eine Wiederbesetzung gegeben. Wie sieht denn dann die Perspektive aus? Wird irgendwann der Oranienplatz dann endgültig geräumt? Wie schätzen Sie die Lage ein?
"Das Asylrecht von Grund auf reformieren"
Ziemke: Das glaube ich nicht, denn also um da noch ein bisschen Klarheit reinzubringen: Die Räumung ist ja im Grunde von einem Teil der Flüchtlinge nach Überredung durch den Senat vorgenommen worden, das heißt, die Flüchtlinge, die eigentlich aus Italien kommen und schon Papiere hatten, die mit dem ursprünglichen Protest nicht viel zu tun hatten, haben sich entschieden, ein Angebot anzunehmen, was darin besteht, dass sie eine Unterkunft, etwas Geld und eine Einzelfallprüfung nach Registrierung bekommen. Das Problem ist: Das steht ihnen sowieso zu, also dafür hätten sie den Oranienplatz nicht räumen müssen. Und die andere Seite, die eben schon seit zwei Jahren dort protestieren, die haben ganz andere Forderungen, da geht es darum, das Asylrecht von Grund auf zu reformieren, also die Lagerpflicht abzuschaffen, die Residenzpflicht abzuschaffen und das Recht auf Arbeit zu überdenken. Und dieser Protest geht natürlich weiter, denn daran hat sich einfach gar nichts geändert.
Pokatzky: Das heißt also, auch Flüchtlinge kämpfen hier gegen Flüchtlinge. In der Schule hat ja sogar einer einen anderen erstochen. Das ist durch die Medien gegangen.
Ziemke: Das ist ein sehr, sehr trauriger Fall, wir sind fassungslos darüber natürlich. Es ist eine Situation, die aber nicht zu überraschend ist, weil sehr viele Menschen auf einem ... sehr viele verschiedene Menschen in einem Ort zusammenleben und ein sehr großer Druck herrscht, weil die Menschen kein Arbeitsrecht haben und weil ihnen auch die ... Also es war eine lange Diskussion über Monate, dass die sanitären Anlagen nicht verbessert wurden. Natürlich gibt es andere Probleme vor Ort, aber man muss sagen, die Gerüchte über Drogen und so weiter – da ist etwas dran. Da sind aber auch sehr viele Deutsche daran beteiligt, die diesen Ort nutzen dafür. Also man muss da wirklich differenzieren.
Der Mord in der Schule in der Ohlauer Straße, den müssen wir uns im Grunde selbst zuschreiben, denn wenn Menschen ihr Land verlassen und unter unglaublich, also unter sehr, sehr, sehr widrigen, sehr, sehr harten Umständen, um ihr Leben kämpfend in ein Land kommen, von dem sie erwarten, dass im Grunde Recht und Ordnung herrscht und die Menschen als gleich angesehen werden, dann aber feststellen müssen, dass sie als Menschen als minderwertig und nicht beachtenswert gesehen werden, dann hat das einen unglaublichen Effekt auf das Selbstbewusstsein, auf die Sicht auf den eigenen Wert, und damit gibt es Leute, die diesem Druck nicht mehr standhalten können. Und genau dieser Mord ist für uns ein Aufruf, anzufangen, die Leute als gleichwertige Menschen wahrzunehmen und auch als politische Akteure, die uns zeigen, dass in unserer Gesellschaft wirklich was falsch läuft.
Pokatzky: Sie haben sich Monate in diesem Camp aufgehalten für das Feature, das morgen im Deutschlandradio Kultur gesendet wird. Dort ist ein O-Ton zu hören: "Journalisten und ihre Geräte sind hier bei allen durch." Sie haben es am Ende dann doch geschafft, dass Sie mit dem Gerät und mit Patras Bwansi als Mitautor dann auf einmal diese unglaublichen journalistischen Möglichkeiten hatten. Was mussten Sie da durchleiden, was mussten Sie mitmachen, bis es soweit war?
Ziemke: Ich musste überhaupt nichts durchleiden, sondern ich habe einfach eine sehr reiche Erfahrung gemacht. Der Schlüssel liegt darin, die Leute kennenzulernen, also dem Kennenlernen Zeit zu geben, und es ist nicht nur Patras Bwansi, sondern auch Ruth Mohammed und Coucou, die aktive Mitautoren waren, also die Aufnahmegeräte selber in die Hand genommen haben und sowohl das Haus in Wedding, wo einige untergekommen sind letzten Winter, als auch die Schule in der Ohlauer Straße und den Oranienplatz selber dokumentiert haben.
Pokatzky: Und wie wurde Patras Bwansi dann zum Mitautor des Features?
Bwansi: Das ergab sich aus einer langen Freundschaft mit Lydia Ziemke, sie war stets bereit, mit uns zu sprechen, es entsprach auch meinem eigenen Interesse, dass wir Flüchtlinge vernehmbar werden, dass wir unsere Stimme erheben, unsere Gefühle, unsere Erfahrungen, die wir hier in Deutschland machen, ausdrücken. Also aus dieser Verbundenheit mit den Menschen hatte ich den Wunsch, zu berichten, was die Tatsachen vor Ort sind, wie es aussieht in diesen Häusern, diesen Lagern, diesen Asylbewerberheimen, und auch die grausamen Gesetze wollte ich schildern, die für uns gelten, also die Residenzpflicht, die Probleme der Abschiebung, das Arbeitsverbot. All das wollte ich zu Gehör bringen.
Pokatzky: Im Deutschlandradio Kultur Patras Bwansi und Lydia Ziemke über ihr Feature zum Berliner Oranienplatz und dem Flüchtlingscamp dort. In dem Feature ist als O-Ton zu hören der Satz "Es gibt Hilfe und es gibt Solidarität". Die Bezirksverordnete Tania Gärtner von den Grünen hat fünf Monate selbst dort gewohnt im Camp, und die hat in einem Artikel gesagt: "Von den Demonstranten habe ich kaum einen gesehen, der Essen und Kleidung vorbeibrachte oder auch mal eine Spende." Lydia Ziemke, haben sich da Leute auch geschmückt und nur demonstriert und nicht geholfen?
Ziemke: Also verschiedene Facetten: Ich weiß, dass sehr viele Leute im klassischen Sinne geholfen haben. Also am Anfang gab es Situationen, da haben die Flüchtlinge mir Essen angeboten, weil sie zu viel hatten. Das hat sich dann natürlich in der Zeit auch verändert. Dann gibt es eine Reihe Unterstützer, die dort wirklich sehr viel Zeit und Energie und Können opfern, also nicht opfern, schenken, mit sehr viel Talent, mit sehr viel Hingabe den Leuten tatsächlich langfristig helfen wollen, nicht kurzfristig, sondern solidarisch sind. Und dann gibt es kurzfristig immer mal Leute, die finden, dass in diesem Protest ihre eigenen politischen Ziele auch verfolgt werden und die sich deswegen dann kurzfristig engagieren. Es gab auch Momente, wo Anti-Deutsche zum Beispiel versucht haben, die Leute zu sich einzuladen, wo dann andere abgeraten haben und so.
Pokatzky: Was heißt Anti-Deutsche?
Ziemke: Na ja, also es gibt halt Vereinigungen, die eben extrem links sind, also Leute, die sozusagen so sehr alles Deutsche ablehnen und die eben ... Da habe ich auch abgeraten und habe gesagt, lasst euch nicht dafür instrumentalisieren, also weil es auch sehr schnell gewalttätig wird.
Pokatzky: Lydia Ziemke, dieses Feature ist ja dadurch, dass nicht nur weil Patras Bwansi da mitmacht, sondern auch andere Leute, ein Symbol für diese Aktion, dass Flüchtlinge ihr Schicksal selbst in die Hand genommen haben, nicht alles erduldet haben, sondern es gab diesen Marsch in die Hauptstadt aus ganz Deutschland, wo Leute gegen die Residenzpflicht, diese berühmte, verstoßen haben, dann dieses Flüchtlingscamp – sie sind also ihre eigene Stimme geworden. Wenn wir jetzt daran denken, wie die sich da auseinanderdividieren, was ist denn geblieben von dieser Idee und was wird von dieser Idee überhaupt bleiben? Wie schätzen Sie das ein?
"Bewegung durch die Räumung gestärkt"
Ziemke: Also mein Eindruck ist ganz klar, dass die Bewegung durch diese Krise, durch die Räumung, die stattgefunden hat, gestärkt wurde, also dass eine größere Klarheit wieder entstanden ist. Vorher gab es nämlich eine große Unsicherheit: Wer ist jetzt wofür? Und außerdem ist es ein sehr schweres Leben gewesen auf dem Oranienplatz, völlig klar. Und durch die Krise hat sich die Protestbewegung durch die führenden Köpfe, nämlich Patras, Napoli, Turgay und andere, die eben jetzt noch da sind, wieder geschärft.
Pokatzky: Patras, wie wird es mit Ihnen weitergehen?
Bwansi: Im Augenblick weiß ich nicht genau, wie es mit mir weitergehen wird, aber mein Interesse ist es, meine politische Arbeit fortzusetzen, egal, was mir droht. Ich fühle mich dazu verpflichtet, und niemand kann mich davon abhalten.
Pokatzky: Danke, Patras Bwansi und Lydia Ziemke, morgen, also am 3. Mai, ab 18.05 Uhr läuft ihr Feature im Deutschlandradio Kultur von "Residenzpflicht – only when I die!".
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.

Hörtipp: Am Samstag, den 3. Mai, läuft um 18:05 Uhr ein einstündiges Feature zum Thema "Residenzpflicht - only when I die"

Mehr zum Thema