Flüchtlingspolitik

Europa könnte Merkel im Stich lassen

Bundeskanzlerin Angela Merkel schaut in die Kamera während einer Fotoaufnahme auf dem EU-Gipfel in Brüssel.
Auf dem letzten EU-Gipfel des Jahres in Brüssel hat es Fortschritte im Streit um die Flüchtlingsfrage gegeben. © picture alliance / dpa / Stephanie Lecocq
Von Sabine Adler · 19.12.2015
Auch wenn die Beschlüsse des jüngsten EU-Gipfels zur Flüchtlingsfrage wenig Handfestes gebracht haben, Kanzlerin Angela Merkel gibt sich weiter hoffnungsvoll. Doch um die Appelle aus Berlin und Brüssel werden sich die Osteuropäer nicht scheren, kommentiert Sabine Adler.
Mit einem mulmigen Gefühl schauen viele auf das zurückliegende Jahr. Deutschland hat eine Million Menschen mehr, 2016 könnten laut Schätzungen weitere 500.000 dazukommen. Anders als nach dem Zweiten Weltkrieg oder der Deutschen Einheit, als sich Millionen auf den Weg von Ost nach West machten, löst jetzt die Ankunft so vieler Menschen aus vorwiegend muslimischen Ländern Angst aus.
Auch die Bundeskanzlerin kann die Sorgen nicht beiseite fegen mit Sätzen wie "Bangemachen gilt nicht", "Wir haben schon ganz anderes gemeistert". Das mag eine Partei zusammenschweißen, aber das gehört wiederum zu den Aufgaben einer Vorsitzenden.
Die Befürchtungen werden dadurch trotzdem nicht geringer. Selbst die, die Patenschaften für Menschen aus Syrien, Eritrea oder den Irak übernommen haben, die in Flüchtlingsheimen anpacken - sogar sie beschleicht die Furcht, ob wir uns nicht Probleme ins Haus geholt haben, derer wir nicht mehr Herr werden. Ob wir in Menschen investieren, die eine demokratische Gesellschaft möglicherweise gar nicht schätzen, die diesem Land gegenüber nie wirklich loyal sein werden. Die vielen Flüchtlinge aufzunehmen, war und ist schwieriger als sie abzuweisen, sich einzumauern. Ob es sich aber als richtig erweist, werden wir erst in einigen Jahren oder Jahrzehnten wissen.
Freilich hätte der Augenblick für die Flüchtlinge kaum günstiger sein können: Deutschland steht wirtschaftlich stark da, mit einer niedrigen Arbeitslosigkeit. Es ist sehr viel weltoffener als noch vor zehn Jahren, etliche schmerzliche Debatten – Stichwort Multikulti, Leitkultur - sind geführt. Deutschland ist nicht in eine Schockstarre verfallen angesichts dieser Aufgabe. Aber die könnte sich dennoch als eine Nummer zu groß herausstellen. Sich ausgerechnet Präsident Recep Erdogan an die Seite zu holen, ist ein Indiz dafür. Drei Milliarden Euro aus Brüssel für die zwei Millionen Flüchtlinge in der Türkei scheinen auf den ersten Blick zweckdienlich. Doch bleibt abzuwarten, was der Autokrat unter Integration versteht.

In Warschau kümmert man sich wenig um europäische Werte

Die Eingliederung der bislang nach Europa geflohenen Menschen droht an Deutschland, Schweden und Österreich fast allein hängenzubleiben. Der größere Teil der EU-Länder blockt. Das tief gespaltene und vom Terror erschütterte Frankreich dürfte ausfallen, Großbritannien schottet sich auf seiner Insel weitgehend ab. Und Osteuropa, von dem gerade noch lautstark die Sicherheitspartnerschaft gegenüber Russland einfordert wurde, ist eine einzige Enttäuschung. Polen, das seinen Aufschwung maßgeblich den Geldern aus Brüssel verdankt, erweist sich als egoistisch und unsolidarisch. Die nationalkonservative Regierung Szydlo wirft dieser Tage alles über Bord, was Polens gerade etwas geöffnete Gesellschaft ausmachte und dreht die Geschichte in die alte Kaczynski-Herrschaft zurück. Gerichte, Presse sowie Wirtschaft werden auf Linie gebracht. Ganz nach dem Vorbild Ungarns kümmert man sich in Warschau wenig um europäische Werte. Auch nicht um christliche, wenn es um die Nächstenliebe geht. Die Kanzlerin dient ihnen mit ihrer Hilfsbereitschaft bis zur Selbstaufgabe mitnichten als Vorbild.
In Litauen sind die sage und schreibe ersten vier Personen eingetroffen, 1100 Flüchtlinge dürfen jetzt noch ankommen. Lettland nimmt 776, Estland 550 Schutzsuchende. Die Balten berufen sich auf ihre großen russischen Minderheiten. Schon bei ihnen sei die Integration nicht gelungen. Was noch nicht einmal vorgeschoben ist, denn tatsächlich haben rund ein Drittel der Russischstämmigen keinen lettischen oder estnischen Pass, sondern einen russischen. Sie gelten als potentiell illoyal. Teilweise zählen auch die Staatenlosen dazu, die gleichzeitig alle Vorteile für sich nutzen. Freie Einreise nach Russland und in die EU. Sowohl in Riga als auch in Tallinn haben die Regierungen seit der Erlangung der Unabhängigkeit vor fast 25 Jahren ihre Hausaufgaben nicht erledigt. Nun reden sie sich damit heraus und machen sich einen schlanken Fuß.
Um die Appelle aus Berlin und Brüssel werden sich die Osteuropäer nicht scheren. Was Angela Merkel nicht überraschen dürfte. Weiß sie doch sehr wohl, dass sie ihre Amtskollegen in Warschau, Riga, Tallin, Vilnius, Prag und anderswo nicht nach ihrer Meinung gefragt, sondern einfach für sie mitentschieden hat. Rest-Europa wird sie deswegen womöglich hängen lassen.
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