Flüchtlingskrise

"Die europäischen Werte werden nicht in Frage gestellt"

Dänische Polizisten kontrollieren den Übergang Krusa nahe der Grenze zu Schleswig-Holstein.
Zerbricht der Schengen-Raum an der Flüchtlingskrise? Politikwissenschaftlerin Tanja Börzel hält ein "Mini-Schengen" für möglich. © dpa / Carsten Rehder
Tanja Börzel im Gespräch mit Ute Welty · 30.01.2016
Krisen wirken oft entlarvend, so wie aktuell die Flüchtlingskrise. Was bedeuten den EU-Mitgliedstaaten Asylrecht und europäische Werte – gab es die jemals, jenseits von Wirtschaftsinteressen? Ja, sagt die Berliner Politologin Tanja Börzel. Der derzeitige Streit um die Flüchtlinge sei eine normale Reaktion.
Gibt es sie überhaupt, die gemeinsamen europäischen Werte? Ging es in der Europäischen Union nicht seit jeher vor allem um Wirtschaftsinteressen? Die Politikwissenschaftlerin und Europa-Expertin Tanja Börzel widerspricht entschieden. Im Deutschlandradio Kultur sagt die Professorin und Leiterin der Arbeitsstelle Europäische Integration an der Freien Universität Berlin: Die Europäische Union sei von Beginn an nicht nur eine Wirtschaftsunion gewesen, sondern der Versuch, eine Nachkriegsordnung zu etablieren, stark "gesponsort" von den USA und mit der Idee eines Gegenentwurfs zur Sowjetunion – ganz klar mit liberalen Werten und einer Demokratieklausel im Maastrichter Vertrag.
Die Flüchtlinge bewundern die europäischen Werte
Die Flüchtlinge jedenfalls kämen doch gerade wegen der europäischen Werte und des Demokratieverständnisses nach Europa. Und der derzeitige Streit um eben diese Flüchtlinge? Er scheint zu offenbaren, dass es da doch das eine oder andere EU-Mitglied gibt, das auf die gemeinsamen EU-Werte und auf die Tatsache, dass alle EU-Staaten die Genfer Flüchtlingskonvention unterzeichnet haben, pfeift.
Börzel jedoch bezweifelt, ob die Flüchtlingskrise
"eine Krise ist, die davon getrieben ist, dass wir keine gemeinsamen Werte haben, aufgrund derer wir sie lösen könnten. Oder ob es nicht eher um Verteilungsfragen geht und dann um Fragen nationaler Identität – aber wo es dann nicht so sehr darum geht, ob wir uns jetzt auf Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte als Basis der europäischen Integration verständigen. Sondern wo es darum geht: Darf Europa bestimmen, wen ich in mein Land reinlasse? Darf Europa bestimmen, wie stark ich mich als Einwanderungsland definieren muss?"
Wer kritisiert und zweifelt, stellt nicht gleich Werte in Frage
Dies seien wichtige und kontroverse Fragen. Doch sei sie sich keineswegs sicher, ob damit gleich allgemeine Werte zur Disposition stünden. Das Asylrecht werden nur von ganz wenigen Staaten in Frage gestellt, betonte Börzel. Es sei aber legitim, jene zu ermahnen, die sich der Verteilung der Flüchtlinge verweigerten: EU-Mitglieder dürften sich nicht nur "die Rosinen rauspicken".
Börzel sagte weiter, sie sehe indessen durchaus die Gefahr, dass "ein Europa der zwei Geschwindigkeiten jetzt wieder Konjunktur hat". Es bestehe das Risiko, dass sich eine Art "Mini-Schengen" herausbilde. "Dass gesagt wird: Man macht bestimmte Grenzen dicht, aber nur zu bestimmten Ländern. Und dann gibt es innerhalb einer Zone von Ländern, für die weiterhin keine Grenzkontrollen gelten.

Das Interview im vollen Wortlaut:
Ute Welty: Europa war nie eine Wertegemeinschaft, sondern vor allem eine Wirtschaftsgemeinschaft. Erst die vielen Fragen, die im Zusammenhang mit den vielen Flüchtlingen zu lösen sind, machen deutlich: Es braucht gemeinsame Werte, wenn man die Krise in den Griff bekommen will. So jedenfalls argumentiert der Politologe und Journalist Alois Berger, der seit vielen Jahren über Europa schreibt. Und so argumentiert er auch in seinem "politischen Feuilleton" hier in "Studio 9":
Ton Alois Berger: So hört jedes Land seine eigene Grundmelodie, wenn es an Europa denkt. Europa wird nicht durch gemeinsame Werte zusammengehalten, sondern durch die wirtschaftliche Verflechtung und durch einen Klebstoff, der von Land zu Land verschieden ist.
Welty: So weit Alois Berger im "politischen Feuilleton", und seine These wollen wir jetzt erörtern zusammen mit Tanja Börzel, Politikwissenschaftlerin und Leiterin der Arbeitsstelle Europäische Integration an der Freien Universität in Berlin. Guten Morgen, Frau Börzel!
Tanja A. Börzel: Guten Morgen!
Welty: Welchen Anteil hat und hatte wirtschaftliches Interesse, wenn es um Europa geht?
Börzel: Also, richtig ist, dass man natürlich sehr schnell den Eindruck bekommen kann, dass der europäische Einigungsprozess vor allem von wirtschaftlichen Faktoren getrieben war. 1957 die Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft, dann 86 die Vollendung des Binnenmarkts mit dem Maastrichter Vertrag, die gemeinsame Währung und die Wirtschaftsunion. Aber was dabei häufig übersehen wird, ist, dass wirtschaftliche Kooperation und Integration eigentlich eher Mittel zum Zweck war und dass die europäische Einigung eigentlich als politisches Projekt begonnen hat. Unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges ging es darum, eine Nachkriegsordnung zu schaffen, die Frieden und Wohlstand in Europa sichert. Und diese Nachkriegsordnung basierte und basiert immer noch auf bestimmten gemeinsamen Werten, zu denen ich Demokratie, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit zählen würde und auch die Marktwirtschaft.
Welty: Wenn das alles so auf der Hand liegt und so kongruent ist, wie Sie das darstellen, warum wird dann so erbittert gestritten über die Frage, wie Europa mit Flüchtlingen umgeht, wie zum Beispiel eine gerechte Verteilung aussieht?
Börzel: Es ist richtig, dass natürlich in Krisenzeiten oder wenn es Konflikte gibt, es immer ein guter Zeitpunkt ist, sich auch noch mal zu vergewissern, welche gemeinsamen Werte haben wir, wie interpretieren wir die? Nur bin ich mir nicht so sicher, ob die Flüchtlingskrise jetzt da unbedingt das richtige Beispiel für ist...
Welty: Aber sie ist da!
Börzel: Sie ist da! Aber es ist ja die Frage, ob es eine Krise ist, die auch davon getrieben ist, dass wir keine gemeinsamen Werte haben, aufgrund derer wir sie lösen könnten, oder ob es nicht eher um auch Verteilungsfragen geht und dann um Fragen nationaler Identität, aber wo es dann nicht so sehr darum geht, ob wir uns jetzt auf Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte als Grundbasis der europäischen Integration verständigen, sondern wo es darum geht: Darf Europa bestimmen, wen ich in mein Land reinlasse? Darf Europa bestimmen, wie stark ich mich als Einwanderungsland definieren muss? Das sind wichtige und kontroverse Fragen, aber ob damit jetzt gemeinsame Werte infrage gestellt werden, da bin ich mir nicht so sicher.
Welty: Aber diese Frage der Einwanderung, wer darf kommen, hängt ja zusammen mit der Frage der Menschenrechte.
Börzel: Das ist richtig, alle Mitgliedsstaaten der Europäischen Union haben die Genfer Flüchtlingskonvention unterschrieben, es gibt noch eine Reihe weiterer EU-Gesetze, die uns verpflichten, Flüchtlinge, politische Flüchtlinge aufzunehmen und sie hier unter menschenwürdigen Bedingungen unterzubringen. Und das ist auch nicht kontrovers gewesen bis zu dem Zeitpunkt, dass wir mit einer sehr hohen, ungewöhnlich hohen Zahl von Flüchtlingen konfrontiert wurden. Und da geht es jetzt eigentlich gar nicht so sehr um die Frage: Wollen wir die reinlassen oder nicht? Sondern: Wer ist verantwortlich, sich um die zu kümmern? Und hier gibt es massive Konflikte, das will ich gar nicht bestreiten. Aber ich glaube, das Recht auf Asyl und auch die Verpflichtung, sich um Flüchtlinge zu kümmern, wird von ganz, ganz wenigen Staaten infrage gestellt.
Welty: Trotzdem machen die einen ja die Grenzen dicht, die anderen nicht. Und es geht am Ende dann auch um die Kosten für Unterbringung, Versorgung, Integration. Wo erkennen Sie denn in dieser Debatte die gemeinsamen Werte?
Börzel: Sie können sich zu Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und auch Menschenrechten bekennen und trotzdem die Position vertreten, dass die Europäische Union – jetzt nicht nur Deutschland, sondern die Europäische Union – unmöglich alle Flüchtlinge dieser Welt aufnehmen kann. Zweiter Punkt: Viele dieser Flüchtlinge kommen nach Europa gerade wegen unserer Werte. Unsere Werte haben eine unglaublich hohe Attraktivität, die Menschen könnten ja auch woanders hingehen. Sie kommen auch zu uns, weil es hier Demokratie und Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit gibt.
Welty: Und Sozialhilfe.
Börzel: Natürlich auch, das will ich ja gar nicht bestreiten, dass das natürlich auch eine Rolle spielt. Und es sind genau die wirtschaftlichen Kosten unserer wertebasierten Politik, über die wir uns streiten, aber nicht die zugrunde liegenden Werte.
Welty: Wer oder was kann jetzt helfen, diesen Disput aufzulösen oder zumindest abzumildern? Und wie kann sich dann ein Wertesystem in Europa dahingehend verändern, dass es eine solche Krise auch trägt?
Börzel: Ich denke, insofern hat diese Krise schon auch was mit Werten zu tun, denn ein Wert ist natürlich auch Solidarität. Und das ist auch nicht das erste Mal, dass Solidarität von bestimmten Staaten infrage gestellt wird. Ich darf an die Euro-Krise erinnern, wo auch gefragt wurde: Wie solidarisch müssen wir denn mit Ländern wie Griechenland sein? Und nun kann man natürlich argumentieren: Die Tatsache, dass sich ganz viele Länder weigern, Flüchtlinge aufzunehmen, zeugt von einem Mangel von Solidarität, mithin gibt es keine gemeinsamen Werte. Aber ich habe ja schon gesagt, dass ich diese These für problematisch halte. Jetzt wie lösen wir das auf? Ich denke, es ist schon wichtig, darauf hinzuweisen, dass man nicht alles haben kann. Also, man kann sich nicht nur die Rosinen im Kuchen herauspicken, wenn Sie Mitglied in der Europäischen Union sind, der viele Länder auch gerade in Mittel-, Osteuropa beigetreten sind, weil es eine Wertegemeinschaft ist, weil es eine Rückkehr nach Europa mit Demokratie, Menschenrechten und Rechtsstaatlichkeit ist. Da muss man ihnen sagen: Wenn ihr das wollt und wenn ihr den Binnenmarkt wollt und die Personenfreizügigkeit, dann müsst ihr euch auch jetzt an diesem Punkt solidarisch zeigen und Flüchtlinge aufnehmen.
Welty: Muss man nicht auch zusätzlich über neue Konzepte für Europa nachdenken? Stichworte sind da "ein Europa der Regionen", "ein Europa der zwei Geschwindigkeiten".
Börzel: Also, wie das Europa der Regionen jetzt unbedingt bei der Flüchtlingskrise helfen soll, bin ich mir nicht so sicher. Das Europa der zwei Geschwindigkeiten oder, wovon jetzt gerade zunehmend wieder gesprochen wird, was wir schon vor ungefähr zwölf Jahren hatten, das Kerneuropa, dass es also einen Kern von Ländern gibt, die einfach weiter in der Integration gehen wollen oder auch schon gar nicht zurückgehen wollen oder hinter das zurückfallen wollen, was wir erreicht haben, und dass die sozusagen weitermachen können und andere hinten zurückbleiben. Und das, glaube ich, hat jetzt in der Tat wieder Konjunktur, Stichwort Mini-Schengen, wo dann also gesagt wird, man macht bestimmte Grenzen dicht, aber eben nur zu bestimmten Ländern, und dann gibt es innerhalb eine Zone von Ländern, für die weiterhin keine Grenzkontrollen gelten.
Welty: Europa ist und bleibt eine Wertegemeinschaft, auch wenn über die Flüchtlingsfrage gestritten wird. Das jedenfalls sagt die Politikwissenschaftlerin Tanja Börzel hier im "Studio 9"-Gespräch, das wir aufgezeichnet haben und für das ich recht herzlich danke!
Börzel: Gerne!
Äußerungen unserer Gesprächspartner geben deren eigene Auffassungen wieder. Deutschlandradio Kultur macht sich Äußerungen seiner Gesprächspartner in Interviews und Diskussionen nicht zu eigen.
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